Das Phänomen. Karin Szivatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Szivatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754171868
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nun auch wieder das altbewährte Autodrom mit seinem Versprechen, absichtlich in andere Fahrzeuge rasen zu dürfen und die beiden ließen sich von diesem Angebot einfangen. Sieben Mal kauften sie neue Jetons um lachend andere Fahrzeuge und Dorfbewohner zu attackieren. Sie hatten Spaß ohne Ende und Rosalie war nach der letzten Fahrt schon beinahe ausgelaugt. So viel Amusement auf einmal hatte sie schon lange nicht mehr.

      Nun war sie aber hungrig geworden und sie suchten den Stand, der Langos zum Verkauf anbot. Der schmierige, fettige Stand passte so richtig zu den etwas schmuddeligen anderen Buden und strahlte auf seine ganz besondere Weise auch etwas Vertrautes aus.

      Mit den heißen, fettglänzenden Teigrädern in der Hand suchten sie nach einer Bank, auf der sie in Ruhe ihr Abendmahl verzehren konnte. „Angst vor Vampiren brauchen wir keine zu haben“, bemerkte Taylor und fächelte seinem offenen Mund kühle Luft zu. „Hier ist so viel Knoblauch drauf, dass wir uns in Transsilvanien völlig frei bewegen könnten.“

      „Na dann auf nach Transsilvanien!“, rief Rosalie aus und schmiegte sich an die Schulter ihres Mannes.

      „Ist dir eigentlich aufgefallen, wie blass all die Schausteller hier sind? Richtig fahl und irgendwie sogar ein wenig gräulich. Sie sehen alles andere als gesund aus.“

      Taylor hielt nach ein paar Schaustellern in der Nähe Ausschau, denn er achtete nicht so genau auf die Menschen und analysierte sie nicht auf Krankheiten, die sie sichtbar vor sich hertrugen.

      „Ja, jetzt, wo du es sagst, ist es schon ein wenig auffällig. Aber sie arbeiten beinahe ausschließlich nachts, da kommt es nur selten zu einem Sonnenbrand. Lass jetzt mal deinen Job in der Tasche und amüsiere dich. Die Leute werden schon wissen, was sie tun und was ihnen gut tut. Du kannst nicht die ganze Welt retten. Wenn du mich rettest, reicht das schon“, flüsterte er ins Ohr und knabberte sanft an ihrem Ohrläppchen, bis sie kicherte.

      Nachdem sie sich das Knoblauch-Fett-Gemisch schmatzend von den Fingern und Lippen geleckt und mit der Serviette nachgesäubert hatten, schlenderten sie zum Piratenschiff und kauften sich Jetons für vier Fahrten. Auf dem großen, hell beleuchteten Kettenkarussell kreischte Rosalie etwas später vor Angst und Vergnügen laut auf. Sie nutzten auch noch all die anderen Attraktionen, die der Rummel zu bieten hatte, mit Ausnahme der Achterbahn. Sie sah ziemlich desolat und vor allem total veraltet aus. In diese Bahn setzten sie nicht das geringste Vertrauen; weder in die Wagen noch in die Geleise und schon gar nicht in das morsch aussehende Holzgerüst, das die Schienen trug. Bei ihr waren sie lediglich Zaungäste, und schon vom Zusehen allein wurde ihnen ziemlich übel. Noch dazu standen hier die Leute Schlange; vermutlich, weil diese Fahrt ebenfalls nur dreißig Cent kostete. Bei diesen Preisen blieb kaum ein Platz leer – und zwar in allen Attraktionen.

      Taylor dachte kurz daran, dass das beinahe verlassene Dorf nun ein geeigneter Ort für Einbrecher war. Fast jedes Haus stand leer, es gab keine neugierigen Nachbarn, die hinter dem Vorhang auf die Straße spähten, keine beleuchteten Räume, in denen Diebe sofort aufgefallen wären wie ein Ufo am Himmel und niemand hatte seine Wertsachen extra auf die Bank getragen, wie man es vor einem längeren Urlaubsaufenthalt üblicherweise machte. Und die Leute waren mit ihren Gedanken ganz wo anders als bei ihren Häusern und Wertsachen. Somit hätten Diebe aller Art ein sehr leichtes Spiel.

      Doch Taylor wollte sich damit nicht belasten und sich die Laune verderben lassen. Er hatte so viel Spaß und konnte den Alltag mit seinen Sorgen und Befürchtungen endlich in die letzte Ecke schieben. Und so sollte es auch bis weit in die Nacht hinein bleiben.

      „Was hältst du davon, mir einen neuen Kaffeebecher zu schießen?“, fragte Rosalie und unterbrach dabei seine Gedanken. „Nicht, dass ich den alten nicht mehr haben möchte, aber ich denke, es wäre Zeit für einen neuen. Schaffst du das noch einmal?“

      Taylor sah sie zweifelnd an. „Ich muss gestehen, dass es damals ein absoluter Glückstreffer war; von Können war keine Rede, auch wenn ich nachher so getan hatte, als ob. Ich hatte nur angegeben um dich zu beeindrucken und um dich küssen zu können, aber ich werde es versuchen und mein Bestes geben. Schauen wir mal, ob es an der Schießbude überhaupt noch Kaffeebecher gibt. Mit einer solchen Prämie lockt man heutzutage niemanden mehr hinter dem Ofen hervor.“

      Rosalie nickte und sie schlenderten zur Schießbude, an der sich, wie in alten Zeiten, die jungen Männer wie Gockelhähne präsentierten um ihren Mädchen, die sie ausführten, zu imponieren.

      Taylor lehnte sich zu Rosalies Ohr und flüsterte ihr etwas zu. Sie sah ihn an, lächelte breit, rümpfte die Nase und nickte eifrig mit dem Kopf.

      „O Gott! Ich habe mich tatsächlich wie diese Burschen benommen? Ehrlich? Das ist ja echt peinlich, auch wenn es jetzt schon mehr als zehn Jahre her ist!“, rief er bestürzt aus und legte beschämt die Hand über seine Augen. Als der Bursche vor ihnen seinen Schuss abgegeben und wieder das Ziel verfehlt hatte, warf er dem Schausteller wutentbrannt die leere Waffe zu und verließ fluchend den Stand. Er hatte sich gerade vor seiner Freundin und dem ganzen Dorf bis auf die Knochen blamiert. Taylor vermutete, dass er im Bierzelt seine Scham ertränken würde.

      „Drei Schuss, bitte“, sagte er zu dem bleichen Mann in der Bude. „Die sollten reichen.“

      Der Mann sah zuerst ihn, dann Rosalie an und lächelte, wobei seine Zahnlücken zwischen den dunkelgelb-schwarzen Zähnen zum Vorschein kamen. Er legte ihr seine kühle Hand auf den nackten Unterarm. „Ich hätte hier einen ganz bezaubernden Vogel in einem sehr speziellen Käfig. Der Bursche heißt Cornelius.“ Und wieder schenkte er den beiden sein beinahe zahnloses Lächeln. Doch Rosalie lächelte nicht mehr und es erstarb auch schlagartig die Freude am Rummel, die sie während des gesamten Abends empfunden hatte. An ihre Stelle legte sich ein Mühlstein mit dem Gewicht eines Panzers in die Magengegend und ihr wurde schlagartig übel. Ihre fröhlichen Gesichtszüge fielen abrupt in sich zusammen und in ihren Augen war blanke Angst zu erkennen.

      Taylor sah, dass jegliche Farbe aus dem Gesicht seiner Frau gewichen war und legte rasch seinen Arm um sie, um sie zur nächsten Sitzbank zu weisen. Mit ihren weichen Knien kam sie nur mühsam und sehr langsam vorwärts.

      „Hey, du! Bring uns doch bitte rasch einen Becher Wasser!“, rief er einem Jungen zu und kramte einen zerknitterten Geldschein aus den Tiefen seiner Jackentasche. Der Junge sah, dass es der Lady schlecht ging, schnappte sich den Schein und rannte wie vom Blitz getroffen auf das riesige, weiße Bierzelt zu.

      „Was ist denn los?“, fragte Taylor besorgt und streichelte ihr Haar. „Willst du dich ein wenig hinlegen?“

      Rosalie schüttelte ermattet den Kopf. „Dieser Vogel….“, stammelte sie und keuchte.

      Taylor drehte sich zur Schießbude um, an der schon die nächsten jungen Männer ihr Glück versuchten. Dann sah er seine Frau ratlos an. „Was ist mit dem Vogel? Er sieht doch ganz niedlich aus. Und der Käfig ist ziemlich extravagant, sicher ein Unikat. Aber sicher nichts allzu Besonderes.“ Besorgt versuchte er in ihrem Gesicht zu lesen, denn sie ließ sich mit der Antwort Zeit.

      „Ich hatte mal einen solchen Vogel, genau die gleiche Farbe und er hieß Cornelius. Mein Großvater hatte einen speziellen Käfig für ihn gebaut; genau, wie diesen. Aber das ist ewig her. Ich bekam Cornelius zu meinem elften Geburtstag. Das ist jetzt fast vierundzwanzig Jahre her. Der Käfig lag nach dem Tod des Vogels ein paar Jahre im Schuppen und wurde irgendwann entsorgt. Es gibt beides nicht mehr und doch tauchen sie hier wieder auf. Was geht hier bloß vor sich? Das kann kein Zufall sein.“

      Taylor verschlug es die Sprache und er setzte etliche Male zum Sprechen an. Doch er öffnete lediglich seine Lippen, sog Luft in seine Lungen und blies sie durch die Nase wieder aus. Er konnte keine Erklärung dafür finden; zumindest keine plausible.

      In diesem Moment kam der Junge mit dem Becher und reichte ihn Taylor mitsamt dem Geldschein. „Es ist Leitungswasser, das hat nichts gekostet“, sagte er und beäugte die blasse Frau mitleidig. „

      „Danke! Du darfst das Geld behalten. Weil du so schnell und ehrlich warst. Du hättest damit auch verschwinden können. Du bist ein guter Junge!“

      Dann wandte er sich wieder seiner Frau zu und der Junge sah lächelnd auf den Geldschein.