Das Phänomen. Karin Szivatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Szivatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754171868
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Dame. Doch es gab keine wissenschaftliche Erklärung dafür und an Wunder glaubten sie beide nicht.

      „Auch wenn das jetzt verrückt klingt, aber ich habe langsam den Eindruck, als würden sich hier im Dorf seltsame Dinge abspielen, denen man auf den Grund gehen sollte. Denk doch nur an Don Henlins verfaultes Kohlfeld und an Benny, der sich umbringen wollte, aber es doch nicht wollte. Und dann die Tote, die nach vierundzwanzig Stunden wieder bei bester Gesundheit im Bett sitzt und rülpst, als wäre sie ein Holzfäller nach der Mittagspause. Das ist doch alles nicht mehr normal!“

      Rosalie nippte an ihrem inzwischen lauwarm gewordenen Schwarztee und nickte stumm. „Wenn man es in Summe betrachtet, hast du absolut Recht. Es könnte aber auch reiner Zufall sein. Und wer glaubt schon an dunkle Mächte? Es muss eine rationale Erklärung für diese drei Vorfälle geben. Ein Mensch wird nicht mehr lebendig, nachdem sich Totenflecken auf seinem Rücken gesammelt und die Totenstarre eingesetzt hatte. Sie war tot! Sie war ganz eindeutig tot! Ich bin doch nicht verrückt.“

      Taylor konnte ihre Verzweiflung regelrecht spüren und sprang auf, um sie in die Arme zu nehmen. Beinahe im gleichen Augenblick begann sie heftig zu schluchzen und zu weinen.

      In diesem Moment wurde Taylors Neugierde endgültig geweckt. Er verspürte dieses altbekannte Verlangen in sich, wenn er bei Ausgrabungen auf weitreichende Erklärungen, die die Artefakte ihm stumm mitteilten, wartete. In seinem Inneren flammte ein Feuer auf, das sich in kürzester Zeit zu einer Feuersbrunst entwickeln und in einen Flächenbrand übergehen würde. Nun hatte ihn die Leidenschaft, bislang Unerklärliches und Unentdecktes zu erforschen, zu benennen und die Rätsel zu lösen mit eisernen Klauen gepackt. Von diesem Punkt weg gab es kein Zurück mehr, die Würfel waren gefallen.

      Er ließ sie los, setzte sich wieder ihr gegenüber an den Tisch und faltete die Hände vor der Nase. „Fassen wir zusammen: Benny wird von irgendetwas getrieben, seinen Wagen gegen einen LKW zu steuern um sich selbst zu töten. Don Henlins Kohlfeld verfault von einem Tag auf den anderen und eine tote Frau wird nach genau vierundzwanzig Stunden wieder lebendig. Drei verschiedene Begebenheiten, die nichts miteinander zu tun haben außer, dass sie für unseren Verstand unerklärlich sind. Also muss es einen gemeinsamen Nenner geben, den wir suchen müssen.“

      Rosalie sah ihn fragend an. „Müssen? Wir? Wieso wir? Eigentlich betrifft uns das ganze doch gar nicht, wir sind doch nur Randfiguren, die zufällig in die drei Geschehen involviert wurden. Wieso siehst du es als unsere Aufgabe an, das Mysterium dahinter zu erkunden?“ Taylor sah sie streng an. „Da geht etwas bombastisch Unerklärliches, ja direkt schon Mystisches vor sich und du willst dir die Gelegenheit entgehen lassen, es am Schwanz zu packen und in die Hölle zurück zu befördern? Ist das wirklich dein Ernst?“

      Rosalie versuchte mit all ihrer Kraft, ein Lachen zu unterdrücken, doch schon nach nur wenigen Sekunden prustete sie laut und verlor sich in einem Lachkrampf. Ihr Mann war einfach genial! Er schaffte es immer wieder, sie in kürzester Zeit aus einem emotionalen Tief zu holen.

      „Lass uns doch heute am Abend mal den Jahrmarkt genießen; ich mag nicht mehr über lebende Tote und verfaulte Kohlköpfe nachdenken. Ich will mich wieder einmal so richtig amüsieren. Und bei den Preisen, die sie angeblich verlangen, können wir völlig ungehemmt die Sau rauslassen.“

      7

      Am folgenden Abend war das ganze Dorf auf den Beinen. Sie alle wollten das mehr als großzügige Angebot des Jahrmarktes nutzen um sich hemmungslos zu amüsieren, ohne dabei an die Kosten denken zu müssen. Kaum ein Haus zeigte sich beleuchtet; nur die Schwachen und Kranken blieben zu Hause und malten sich vielleicht aus, wie sich eine Fahrt auf dem großen Kettenkarussell oder durch die Geisterbahn anfühlen mochte. Erinnerungen aus Jugendtagen stiegen in ihnen auf und ließen so manchen von ihnen wehmütig seufzen. Wohin ist nur die Zeit gekommen, fragte sich so mancher und schwelgte weiter in alten Erinnerungen während sich seine Einlage in der Hose langsam füllte und die dritten Zähne vor Erregung leise klapperten.

      So mancher hatte das Glück und konnte den einen oder anderen Blick aus dem Fenster werfen und war von all den blinkenden Lichtern auf den Buden und Ständen fasziniert. Schon von weitem konnte man die bunten Lichter sehen, die die abendliche Dunkelheit in lebendiges Treiben verwandelte. Sie konnten mitunter das Knallen der Gewehre an den Schießbuden hören, an denen junge Männer ihre Mädchen beeindrucken wollten. Doch nur selten bekam eine von ihnen den großen Preis, der verlockend im Rampenlicht der Bude hing um kräftig zahlende Kundschaft anzulocken. Die Taktik der Schausteller änderte sich offenbar nie.

      Rosalie und Taylor durchschritten eng umschlugen den hell beleuchteten Torbogen am Eingang und fühlten sich sofort von der Magie des Jahrmarkts in Besitz genommen. Alte Erinnerungen aus der Kindheit und Jugend perlten wie die feinen Bläschen in einem Glas Champagner in ihnen auf und durchfluteten sie mit wohligen Empfindungen an ihre Kindheit und Jugend, nicht aber mit konkreten Erinnerungen an einen solchen Jahrmarktbesuch. Es war ein heimeliges Gefühl, das nach Sorglosigkeit und Heiterkeit schmeckte.

      Rosalie hakte sich gut gelaunt bei Taylor unter und zerrte ihn zum Autodrom, den Anziehungspunkt für die jugendlichen Besucher. Gerade als sie ankamen, ertönte das typische Signal und die ersten Funken stoben eisblau aus den Antennen. Dann setzten sich die Autos in Bewegung und es wurde gelacht, gekreischt, gegeneinander gefahren, Lenkräder wurden hektisch gedreht und Gaspedale bis zum Anschlag durchgetreten. Die beinahe ohrenbetäubende Musik trug dazu bei, den Alltag zu vergessen und sich nur dem Amusement hinzugeben. Dass jede Fahrt pro Person wirklich nur dreißig Cent kostete, verleitete dazu, sich einem noch längeren und intensiveren Vergnügen hinzugeben. Geld spielte bei diesem Preis keine Rolle; für keinen einzigen von den zahlreichen Besuchern.

      Doch Rosalie wollte sich vorerst alle Buden und Attraktionen des Jahrmarkts ansehen, ehe sie sich in eine Gondel, auf ein Karussellpferd oder in einen Wagen setzte. Doch Taylor zog sie einfach mit sich zur Geisterbahn, löste beinahe im Vorbeigehen zwei Tickets und bugsierte sie in den letzten Waggon des Zugs, der gerade durch ein mit scharfen Zähnen bewehrtes Maul in die Finsternis dahinter verschwand.

      „Die Geisterbahn ist doch voll öde!“, meckerte sie, doch gleich danach schrie sie aus Leibeskräften. Ein kalter Windhauch war über ihr Gesicht gehuscht und etwas hatte sie an der Schulter gepackt. Panisch drehte sie sich um, doch da war nichts. Als sie wieder nach vorn blickte, starrte sie in die feuerroten Augen einer riesigen Spinne, die geradewegs auf ihr Gesicht zugeschossen kam. Rosalie kreischte erneut auf und duckte sich weit unter den Rand des Waggons.

      Kurz danach wagte sie es, wieder hervor zu lugen und wurde dabei durch einen kräftigen Stoß von der Seite an die metallene Wand des Wagens geschleudert. Durch die sofort darauffolgende scharfe Linkskurve wurde sie auf die rechte Seite geschleudert und fand gerade noch an Taylors Arm Halt. Das Beil, das nur knapp ihr Gesicht verfehlte und warme Tropfen, die im ersten Moment an Blut erinnerten, auf ihrer Haut hinterließ, ließ sie erneut aufschreien.

      Nach etlichen qualvollen Minuten der Angst und des Schreckens rollte der Waggon wieder ins Freie und der Spuk hörte auf. Rosalie saß mit klopfendem Herzen keuchend neben, oder beinahe schon auf Taylor drauf und war froh, der Geisterbahn lebend entkommen zu sein.

      „Ja, du hast Recht. Die Geisterbahn ist voll öde. Damit fahren wir nicht mehr!“, rief Taylor amüsiert aus und kletterte aus dem Wagen. Rosalie blieb noch ein Weilchen sitzen, denn sie hatte Angst, dass die Beine ihren Dienst versagten.

      „Ich war nur nicht darauf vorbereitet, das ist alles. Du hast mich mit der Fahrt völlig überrascht. Hätten wir vorab darüber gesprochen, wäre die Fahrt ganz anders verlaufen.“

      Taylor küsste sie aufs Haar und reichte ihr die Hand, um sie aus dem Waggon zu ziehen. Ihre Argumente ließ er mit einem Lächeln unkommentiert.

      Zur Entspannung fuhren sie mit dem großen Pferdekarussell, auf dem sich jedes zweite Pferd nach oben und unten bewegte. Die anderen Pferde konnte man durch das rhythmische Bewegen der Hüften dazu bringen, sich nach vor und zurück zu bewegen. Es sollte einen Ritt auf einem lebenden Pferd simulieren, doch es war zum Großteil bloß ein sehr anregender Blickfang für die Männer, wenn sich Frauen auf diese Pferde setzten. Kein Wunder,