Das Phänomen. Karin Szivatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Szivatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754171868
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stemmen um Unheil über sie und ihre Lieben zu bringen. Alles war in bester Ordnung. Offensichtlich hatte sie sich von Marisha und ihrer verqueren Welt ein wenig beeinflussen lassen. Die Demenz schritt bei ihr zwar langsam, aber dennoch kontinuierlich voran und zeigte sich immer deutlicher. In absehbarer Zeit würde sie die alte Dame in ein Pflegeheim einweisen müssen. Sie würde nicht mehr allzu lang auf sich achten können. Schon jetzt vernachlässigte sie die Körperpflege sowie den Haushalt. Das Hungergefühl war nicht mehr ausreichend vorhanden und die Gefahr, dass sie etwas am heißen Herd stehen ließ, stieg mit jedem Tag. Vom medizinischen Standpunkt her hätte sie längst eine Einweisung ausstellen müssen, aber sie mochte die alte Dame und sie gab auch ein wenig auf sie Acht. Auf eine gewisse Weise liebte sie die kleine Frau sogar ein wenig und ihr wurde warm ums Herz, wenn sie an ihr Lachen dachte.

      Von diesen tröstlichen Gedanken beruhigt legte sie sich im Wohnzimmer auf die Couch, deckte sich mit der orangefarbenen Tagesdecke zu und schlief nach nur wenigen Sekunden ein.

      3

      Der Tag erwachte und mit ihm die Sonne. Rosalie streckte sich ausgiebig in den warmen Strahlen und warf einen neugierigen Blick auf den Strand. Der Sand war bereits wieder hell und verriet damit, dass er wieder trocken war. Wahrscheinlich hatte es zu regnen aufgehört, als sie eingeschlafen war; oder zumindest nur eine kurze Zeitspanne danach. Nun lag auch das Meer mit seiner glatten Oberfläche wieder ruhig vor ihr und sah überhaupt nicht mehr bedrohlich aus; kein Vergleich zur vergangenen Nacht. Noch etwas müde aber doch schon voll Tatendrang stand sie auf und sah auf die Uhr. In einer Stunde würde sie in der Praxis sein müssen, also hatte sie noch ausreichend Zeit um zu duschen und in aller Ruhe einen Kaffee zu trinken.

      Während sie versuchte, in ihre Hausschuhe zu schlüpfen und sich gleichzeitig den Bademantel anzuziehen, schüttelte sie leicht den Kopf. Die Mülltonne mit dem Stuhl auf dem Deckel war in ihr Blickfeld gewandert und sie musste lachen, weil sie noch vor ein paar Stunden so töricht war zu glauben, dass etwas abgrundtief Böses ihrer roten Malfarbe entwichen war. Sie war sicher, dass sie die Angst, die Marisha verspürt hatte, ungefiltert übernommen hatte. Das war alles. Es gab nichts Böses und niemanden, den man wegjagen musste oder sollte. Sich von einer dementen, alten Frau, die zeitweise in einer ganz anderen Welt lebte, ins Bockshorn jagen zu lassen, war mehr als töricht. Deshalb beschloss sie, niemandem von dem Vorfall zu erzählen; auch nicht Taylor, der stets ein offenes Ohr für sie hatte und es niemals wagen würde, sie auszulachen oder gar zu verspotten. Sie schämte sich vor sich selbst und wollte mit ihrer Gruselgeschichte niemandem einen Schrecken einjagen.

      Kurz vor acht Uhr stellte sie ihren Wagen vor der Praxis ab und konnte bereits elf Patienten im Warteraum begrüßen. Sie war froh, viel zu tun zu haben, um von ihrer Blutgeschichte abgelenkt zu sein aber gleichzeitig war sie auch ein wenig demotiviert, weil sie schon vorab wusste, von welchen Beschwerden die Patienten erzählen würden. Es waren immer dieselben und im Prinzip hätte sie bei rund der Hälfte der Leute die Diagnose ‚Einsamkeit’ stellen müssen. Sie nahm sich vor, einen Umzug in die Stadt mit Taylor am Wochenende ausführlich zu diskutieren.

      Mit einem Lächeln empfing sie jeden einzelnen Patienten und versuchte, zumeist auf psychologischem Weg, zu helfen. Während sie sich mit Mrs. Blackwood über ihren schlimmen Rücken unterhielt, riss die Sprechstundenhilfe die Tür auf und schnatterte so aufgeregt, dass sich ihre Stimme überschlug: „Benny ist in den Graben gefahren, Benny Alister, sie wissen schon, der Junge von Fred Alister. Die Rettung ist schon verständigt, aber sie braucht noch eine Weile. Sie müssen ihm helfen! Schnell!“

      Rosalie entschuldigte sich rasch bei Mrs. Blackwood, die mit grimmigen Gesichtszügen ziemlich ungehalten auf die Unterbrechung ihrer Leidensgeschichte reagierte, packte ihre Notfalltasche und ließ sich noch rasch den Weg zur Unglücksstelle beschreiben. Zwei Sekunden später parkte sie verkehrswidrig aus und jagte die Straße entlang in Richtung Fluss, wo Benny hoffentlich nicht allzu schwer verletzt auf ihre Hilfe wartete.

      Noch während sie mit Bleifuß in Richtung Unfallstelle jagte, konnte sie schon von weitem eine dünne, dunkelgraue Rauchsäule, die in den Himmel steigen sehen. Wie ein überdimensionaler Finger zeigte er ihr den Weg zur Unfallstelle punktgenau an. Die Szene wirkte direkt grotesk und Rosalie schüttelte entschlossen den Kopf. Sie musste hier weg, sonst würde sie über kurz oder lang den Verstand verlieren.

      Als sie Sichtkontakt zu ihm aufnehmen konnte sah sie Benny am Straßenrand sitzen und ein weißes Taschentuch auf eine Rissquetschwunde an seiner Stirn drücken. Rosalie kniete sich neben ihn und sah sich die Wunde an. Sie war zwar lang, aber nicht besonders tief. Sie würde eine Narbe abgeben, aber mehr nicht. Der rechte Unterarm war eindeutig gebrochen und beide Lippen aufgeplatzt. Er war offensichtlich direkt mit dem Gesicht auf das Lenkrad gekracht. Rosalie fragte sich stumm, weshalb sich der Airbag nicht entfaltet hatte, aber das zu eruieren war sicher nicht ihre Aufgabe. Noch dazu war diese Frage im Moment völlig nebensächlich. Benny musste ins Krankenhaus und vorher wollte sie noch rasch seine offenen Wunden reinigen, desinfizieren und verbinden. Den gebrochenen Unterarm fixierte sie in einer harten Schiene und diese an seinem Oberkörper. Dann rief sie die Rettungsstelle an und musste erfahren, dass der Krankenwagen noch rund eine Stunde brauchen würde, um Benny abzuholen.

      „Danke, stornieren Sie den Transport, ich bringe ihn selbst ins Krankenhaus.“ Mit diesen Worten legte sie auf, half Benny auf die Beine und hievte ihn vorsichtig in ihren nicht allzu großen Wagen. Der junge Mann stöhnte und sah die Ärztin etwas vorwurfsvoll an. „Wenn du bequem reisen willst, kann ich nur Don anrufen, der dich mit dem Traktor ins Krankenhaus bringen kann. Er hat auf seinem großen Anhänger Stroh geladen, dort hast du es bequemer als hier.“

      Sie sah ihn lächelnd an und ihr Patient prustete los, verzog aber sofort das Gesicht; die aufgeplatzten Lippen ließen ein Lachen nicht zu. Instinktiv griff er sich an die Lippe und zuckte sofort zurück. Er sollte besser die Ärztin arbeiten lassen und selbst nichts tun.

      Die Ersthelfer hatte Rosalie sofort dankend weggeschickt, weil sie deren geistreiche Kommentare nicht gebrauchen konnte. Sie wusste durchaus, was sie zu tun oder zu lassen hatte. Nicht wenige Menschen glauben, Notfallmediziner zu sein, wenn sie einen sechsstündigen Kurs in Erste Hilfe absolviert hatten.

      Nachdem sie ihren Patienten im Auto hatte, drehte sie um und fuhr ins Dorf zurück. Sie überlegte, ob sie ihn überhaupt ins Krankenhaus fahren müsste. Mit dem Röntgen des ansässigen Tierarztes würde sie sich die Fraktur des Unterarmknochens ansehen können und die Wunde an der Stirn würde sie ganz einfach selbst nähen. Nein, dafür musste er nicht extra ins Krankenhaus fahren, beschloss sie kurzerhand. Benny war außerdem ein bodenständiger junger Mann, dem man eine solche Behandlung durchaus zumuten konnte. Sie kannte ihre Patienten seit vielen Jahren und wusste, wie sie mit ihnen umgehen musste oder konnte. Als er sich neben ihr regte, wurde ihr bewusst, dass sie nicht allein im Wagen saß. Sie war völlig in Gedanken versunken gewesen und hatte auch nicht sonderlich auf den Verkehr geachtet. Mit dem Anflug eines Schuldgefühls achtete sie sofort wieder auf die Straße und schenkte auch ihrem Patienten Beachtung.

      „Wie ist denn das ganze passiert?“, fragte Rosalie ihren Beifahrer und sah ihn kurz von der Seite an.

      Benny atmete lange aus und wand sich ein wenig, eher zu sprechen begann: „Ich bin ganz normal gefahren, so wie immer. Es war auch nicht viel Verkehr und ich habe den Lastwagen gesehen und da wurde mir plötzlich ganz komisch. Als ob jemand ein riesiges Loch in meinen Bauch geschossen hätte. Ich fühlte mich von einem Moment auf den anderen total leer und hatte ….“ Seine Stimme war immer zittriger geworden und versagte an dieser Stelle völlig ihren Dienst. Dicke Tränen rannen über sein mit Blut verkrustetes Gesicht; klarer Schleim kroch langsam aus seinem rechten Nasenloch und bahnte sich seinen Weg über die aufgerissenen Lippen nach unten.

      Rosalie tastete nach einem Taschentuch, ohne die Augen von der Straße zu nehmen und reichte es dem Jungen. Er putzte sich vorsichtig die Nase und startete erneut einen Versuch, seine Geschichte zu erzählen. Doch seine Stimme versagte an der exakt selben Stelle wie schon zuvor.

      „Hast du schon jemanden wegen deines Wagens angerufen? Holt ihn Harry gleich in seine Werkstatt?“, versuchte Rosalie die Situation