Das Phänomen. Karin Szivatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Szivatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754171868
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Landschaft in Richtung Meer.

      Nachdem Rosalie sich selbst mit Medikamenten gegen die Schmerzen versorgt hatte, brachte er sie noch ins Bett, küsste sie auf die Stirn und zog leise die Tür hinter sich zu. Mit seinen Gedanken war er allerdings noch immer bei den unerklärlichen Vorfällen der letzten beiden Tage. Er musste herausfinden, was da draußen und auch in den Menschen vor sich ging, denn offensichtlich beschränkte sich dieses Phänomen nicht nur auf die Landschaft, wie man am Beispiel von Bennys Suizidversuch gut ablesen konnte. Das waren kein Hirngespinst und auch kein Zufall; hierbei handelte es sich um etwas sehr Mächtiges, das konnte er fühlen.

      Nachdem er sich einen Espresso aus der Küche geholt hatte, legte er eine Mappe für seine Studien, wie er sie großspurig nannte, an. In der Überzeugung, dass sich sehr viel Material ansammeln würde, nahm er gleich einen ziemlich dicken Ordner mit zehn Zwischenblättern, um den Überblick zu behalten. Er ging in solchen Belangen stets sehr geordnet und strukturiert vor, wie er es während deiner Studienzeit gelernt hatte.

      Zuerst notierte er jedes einzelne Vorkommnis auf ein separates Blatt. Das verfaulte Kohlfeld Don Henlins, der unfreiwillige Suizidversuch Bennys, den Vogel Cornelius in seinem speziellen Käfig und die sich farblich verändernde Landschaft. Daraus versuchte er, Schlüsse auf eine Gemeinsamkeit zu ziehen, doch er fand selbst nach zwei Stunden der Betrachtung aus verschiedenen Perspektiven keine Parallelen. Er kam sogar auf die Idee, im Internet zu recherchieren, ob Lebensmittel oder Getränke die Fähigkeit hatten, bei zwei Personen veränderte Wahrnehmungen auszulösen. Nach einer weiteren Stunde war er zu glauben gewillt, dass die Shrimps in der Paella nicht mehr ganz frisch waren und sie deshalb beide die veränderten Farben der Natur gesehen hatten. Rosalies Magenbeschwerden würden ebenfalls dafür sprechen, aber er hatte keinen einzigen brauchbaren Anhaltspunkt dafür gefunden; es war lediglich der Griff nach dem berühmten Strohhalm.

      Als Rosalie den Arm über seine Schultern legte, stieß er einen spitzen Schrei aus und schoss wie eine Rakete von seinem Stuhl auf. „Herrgott, musst du mich so erschrecken? Ich werde sofort mein Testament ändern und dich enterben, weil du ständig versuchst, mich auf diese Weise umzubringen. Du willst doch nur frühzeitig an meine sauer verdienten Millionen ran!“

      Er packte ihr Gesicht, zog es ganz nahe an das seine und sah ihr drohend in die Augen.

      „Gestehe, Lumpenpack!“

      Sie aber küsste ihn nur sanft auf den Mund. „Ich gestehe, dass ich dich liebe“, flüsterte sie und küsste ihn erneut.

      Sie holte sich einen Cappuccino aus der Küche und setzte sich neben ihn auf einen Stuhl. „Hast du schon etwas Brauchbares herausgefunden?“, fragte sie mit echtem Interesse und spitzte die Lippen um an ihrem Heißgetränk zu nippen.

      „Nada, nichts. Ich kann zwischen den einzelnen Phänomenen einfach keinen Zusammenhang finden.“

      Rosalie betrachtete die einzelnen Seiten, auf denen die Vorkommnisse verzeichnet waren. „Vielleicht findest du sie auch nicht auf ein paar Blättern Papier, sondern nur durch Nachforschungen heraus. Du solltest mit dem Bürgermeister anfangen, aber es muss nicht sofort sein. Morgen hat er Sprechstunde, belästige den Mann nicht an einem Sonntag, ok? Bist du so lieb? Ich könnte dir inzwischen die Zeit ein bisschen vertreiben.“ Sie lächelte ihn an, stand auf und öffnete langsam ihre Bluse, unter der sie keinen BH trug.

      Kurz bevor sie zu kochen begann lief sie zu Marisha ins Nebenhaus um zu fragen, ob sie mit ihnen essen wollte. Die alte Dame war seit vielen Jahren alleinstehend und hatte nicht allzu oft die Gelegenheit, in Gesellschaft zu essen. Sie freute sich stets über eine Einladung.

      Taylor sah ihr vom Fenster aus nach und versank sofort wieder in seine Überlegungen. Als Rosalie wieder das Haus betrat, fragte er eher beiläufig, ob Marisha Lust auf mexikanischen Gemüseeintopf habe. „Leider nicht, denn sie ist tot.“

      Taylor sah sie ungläubig an und bemerkte zwei kleine Seen in den Augen seiner Frau. Sofort sprang er auf und nahm sie in den Arm. Nun ließ Rosalie ihren Gefühlen freien Lauf und weinte bitterlich.

      „Schatz, sie war eine alte Frau, die an Demenz gelitten hat. Du wusstest, dass es bald so weit kommen würde. Sie hatte ein gutes Leben und du warst für sie wie eine Tochter; das wusste sie immer zu schätzen. Sie hat dich ebenso geliebt wie du sie, aber jetzt heißt es Abschied nehmen.“

      Rosalie nickte und löste sich von ihrem Mann. „Ich weiß. Dennoch bin ich traurig. Sie ist mir wirklich ans Herz gewachsen. Aber ich bin froh, dass ich sie nicht in ein Pflegeheim einweisen musste. Das hätte sie vermutlich nicht ertragen. Sie liebte den Strand und ihre Freiheit. Und ich bin auch glücklich, dass sie friedlich entschlafen ist. Es gibt keine Anzeichen von Schmerzen oder einem langen, qualvollen Tod. Vermutlich hat ihr Herz beschlossen, seinen Dienst zu quittieren. Sie möge in Frieden ruhen.“

      „Informierst du gleich ihre Tochter und den Leichenbestatter?“, fragte Taylor und setzte sich wieder.

      „Das klingt jetzt vielleicht merkwürdig, aber damit möchte ich noch vierundzwanzig Stunden warten. Ich möchte nicht das gleiche wie bei Mrs. Elms erleben. Außerdem hatte ich vor zwei Tagen eine merkwürdige Unterredung mit ihr, die ganz gut zu diesen Phänomenen, wie du sie nennst, passt. Ich hatte mir nur nichts dabei gedacht, eben weil sie an Demenz gelitten hat. Ihre Worte ergeben zwar noch immer keinen Sinn, aber vielleicht hat es trotzdem mit der aktuellen Situation zu tun.“ Dann erzählte sie ihm ihre Unterredung vor dem schäumenden Meer. „Sie kommen! Lasst sie nicht herein, schickt sie weg! Das waren die exakten Worte, ich erinnere mich genau.“

      Taylor legte ein weiteres Blatt an und schrieb die Worte auf. „Wen sollen wir wegschicken, beziehungsweise nicht hereinlassen?“

      Rosalie zuckte mit den Achseln. „Ich habe nicht die geringste Ahnung.“

      9

      Auf diesen Montagvormittag freute sich Gerry schon seit drei Wochen. So lange war er schon nicht mehr bei Sandy gewesen. Sandy…. Die tollste Frau, die er je kennen und schätzen gelernt hatte. Eine Frau, die er gerne an seiner Seite hätte, doch sie war verheiratet und konnte aus finanziellen Gründen nicht aus ihrer Ehe aussteigen. Ob es wirklich die Wahrheit war, hinterfragte er nicht, denn er wollte Sandy genießen und sie nicht analysieren und seine Hingabe vielleicht durch ewiges Hinterfragen und Mutmaßungen zerstören. Er liebte sie und er hatte das Gefühl, auch von ihr geliebt zu werden. So einfach war das und genau so einfach sollte es bleiben.

      Er sah sich kritisch in den Spiegel, ob er vielleicht eine winzige Stelle in seinem Gesicht übersehen hatte, auf der noch ein paar verwaiste Bartstoppeln standen. Er wollte perfekt für seine Geliebte sein denn sie war es auch. Während er sich die kritisch ausgewählte Kleidung überstreifte dachte er an ihre letzten Worte; ich freue mich schon sehr auf dich!

      Mit federnden Schritten sprang er förmlich die wenigen Stufen von seinem Haus hinunter in den Garten und war auch schon in seinem Wagen. Er war damit noch am Vormittag durch die Waschstraße gefahren, um einen rundum guten Eindruck bei ihr zu hinterlassen. Offiziell war er als Vertreter bei ihr, falls Sandys Nachbarn Mutmaßungen anstellten. Zwar war es ein ungeschriebenes Gesetz, dass man als Nachbar niemals den jeweiligen Partner direkt mit den Affären und Seitensprüngen konfrontierte, aber Vorsicht war immer besser als Nachsicht. Immerhin hatte er seine jetzige Geliebte beim Verkauf einer Versicherung kennen gelernt. Im Übrigen war sie nicht die erste Affäre, die er innerhalb der Ausübung seines Jobs lieben gelernt hatte. Und er hoffte, dass sie auch nicht die letzte sein würde. Er liebte es einfach, verheiratete Frauen zu erobern, sexuell zu erkunden und ihnen jeden Trick, der die Lust steigerte, zu entlocken. Waren sie nach einiger Zeit ausgesaugt, verlor er rasch das Interesse und er wandte sich anderen Ladies zu. Genau aus diesem Grund lud er die Damen auch niemals zu sich nach Hause ein. Obwohl er seit ewigen Zeiten Single war, gab er stets vor, dass seine Frau mit den Zwillingen Rod und Todd zu Hause und er somit nicht besuchbar wäre. Die Kleinen wären gerade ein Jahr alt geworden und somit beinahe rund um die Uhr im Haus. Dann präsentierte er ihnen einen eigens für seine Affären gekauften Ehering, um die Sache noch glaubwürdiger zu machen. Er nahm ihn niemals ab, um während des Sommers einen Farbunterschied zwischen dem Finger