Das Phänomen. Karin Szivatz. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Karin Szivatz
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754171868
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natürlich bist du dir sicher. Du wirst doch noch den Käfig sowie dein Haustier erkennen. Aber bitte verlang jetzt keine Erklärung von mir, denn da muss ich passen. Ich glaube, mir wird auch gleich schlecht. Lass uns lieber nach Hause gehen, ich finde es hier ziemlich unheimlich, beinahe schon gruselig. Kannst du gehen? Schaffst du es bis zum Auto auf dem Parkplatz? Wenn nicht, fahre ich hierher, das ist kein Problem.“

      Doch Rosalie nickte und rappelte sich langsam hoch, wagte es aber nicht, noch einen letzten Blick auf den Vogelkäfig und Cornelius zu werfen.

      Während der Fahrt beobachtete Taylor seine Frau ganz genau, ließ ihr aber Raum um nachzudenken. Zu Hause dann schenkte er zwei doppelte Whisky ein und sie setzten sich auf die Veranda. Von der großen Wiese hörten sie das Wummern der Bässe sowie noch das eine oder andere Kreischen der Mädchen. Über dem Horizont lag ein bunter Lichtschein, der von den Attraktionen des Jahrmarkts ausging. Doch jetzt sah er nicht mehr einladend aus, sondern wirkte sogar ein wenig störend.

      Nach einigen Minuten des Schweigens blickte Rosalie von ihrem Glas auf. „Ich muss meine Meinung revidieren und dir Recht geben. Hier gehen wirklich mysteriöse Dinge vor sich, die schon förmlich nach Aufklärung schreien. Aber was können wir tun? Ich bin mir sicher, dass mir der blaue Wellensittich nicht von ungefähr angeboten wurde. Das war gezielt auf mich gerichtet und wer weiß, ob es anderen Leuten nicht ebenso ergangen ist. Aber woher wusste der Mann in der Bude davon? Und woher konnte er den gleichen Käfig haben?“

      Das Licht der Kerze flackerte leicht und ließ Taylors Gesicht ein wenig diabolisch erscheinen. Noch ehe er ihr auf die Fragen antworten konnte, winkte sie ab. „Lassen wir es für heute gut sein. Es war für mich schon zu viel. Reden wir morgen oder übermorgen darüber, ok? Jetzt möchte ich eigentlich nur noch blöd in den Fernseher glotzen, bis mich das Sandmännchen in die Knie zwingt.“

      Keine halbe Stunde später schliefen die beiden von der Aufregung ermattet vor dem Fernseher ein. Auf der großen Wiese hingegen drehten sich die Karusselle weiter, die Wagen fuhren durch die Geisterbahn und über hohe Holzkonstruktionen, es wurde gegessen, getrunken, gelacht und geküsst. Und die bleichen Schausteller sorgten dafür, dass jeder bekam, was sie ihm zugedacht hatten.

      8

      Am nächsten Morgen fühlte sich Rosalie noch immer wie ausgekotzt, weshalb sie einen Spaziergang über den Strand unternahm. Doch je weiter sie sich vom Haus entfernte, desto größer wurde ihr Verlangen, weiter zu gehen. Erst als sie bereits am weit entfernten Hügel angekommen war, dachte sie zum ersten Mal wieder an Cornelius, an die nun wieder lebendige Mrs. Elms und an den Suizidversuch von Benny. Da gehen merkwürdige Dinge vor sich, flüsterte sie und kletterte auf den Hügel hinauf um den an sich herrlichen Rundumblick genießen zu können.

      Sie atmete tief die salzige Meeresluft ein, ließ ihren Blick über den weitläufigen Strand schweifen, über das anheimelnde Dorf und über die große Festwiese. Plötzlich hielt sie inne. „Nein! Das gibt es nicht! Das gibt es einfach nicht!“, murmelte sie und spürte Panik in sich aufsteigen. Ihr Mund fühlte sich schlagartig an, als hätte sie einen ganzen Sandkuchen verputzt und ihre Haarwurzeln kribbelten als hätte eine Ameisenkolonie auf ihrem Kopf ihr Lager aufgeschlagen. Die Knie wurden schlagartig weich und sie musste sich rasch in den Sand fallen lassen. Dennoch konnte sie nicht ihren Blick von der großen Festwiese, die einsam und verlassen am Rande des Dorfes lag, reißen. Ungläubig schüttelte sie den Kopf, rappelte sich mühsam auf und lief im Sprint zu ihrem Haus.

      „Taylor!“, rief sie aufgeregt und stolperte beinahe über ihre eigenen Füße. „Taylor! Sie sind weg!“ Keuchend und nach Atem ringend stürzte sie in die Küche.

      „Wer ist weg?“, fragte Taylor, der vom Schneidbrett, auf dem zwei leuchtend orange Karotten lagen, irritiert aufsah.

      „Na die Schausteller, der Jahrmarkt, die Buden, die Karusselle, einfach alles. Weg! Als wären sie niemals hier gewesen.“

      Noch immer keuchend stützte sie sich am Küchentresen ab und sah ihrem Mann in die Augen, der das Messer im Zeitlupentempo auf das Brett legte seine Finger an einem Küchentuch säuberte. Dann nahm er wortlos seinen Autoschlüssel vom Haken neben der Eingangstür, setzte sich in den Wagen und startete den Motor. Rosalie versperrte noch rasch die Tür, rüttelte vorsichtshalber und zum ersten Mal daran und nahm auf dem Beifahrersitz platz. Sie musste nicht fragen, wohin die Fahrt ging, sie wusste es bereits.

      Auf der großen Festwiese angekommen sprangen sie gleichzeitig aus dem Wagen und sahen sich um. Es gab tatsächlich keine Buden, keine Attraktionen, keine Wohnwägen für die Schausteller. Nichts.

      Die beiden liefen quer über den Platz, wo noch vor wenigen Stunden schwere Wagen gestanden hatten. „Sieh dir mal das Gras an. Es ist frisch und nirgends plattgedrückt, wie es eigentlich nach der Last von den Buden sein müsste. Es sieht so aus, als ob hier schon seit sehr langer Zeit niemand gewesen wäre. Selbst den Rundgang an den Buden vorbei müsste man sehen, denn darauf ist fast das ganze Dorf herum getrampelt. Da müsste ein kahler Ring zu sehen sein“, sinnierte Taylor laut vor sich hin.

      „Es fehlt auch die sonst übliche Hinterlassenschaft nach Festen: der Müll! Plastikbecher, verschmutzte Pappteller, zerknüllte Papierservietten, zertretene Zigarettenstummel und vergessene Bierflaschen. Die ganze Wiese ist peinlich sauber, beinahe klinisch rein. Dafür wäre ein zehn Mann starker Putztrupp nötig und selbst dann wären noch die einen oder anderen Spuren sichtbar. Es gibt nicht mal weggeworfene Zigarettenstummel“, ergänzte Rosalie.

      Taylor sah auf die Uhr. „Im Moment müsste der Bürgermeister im Gasthaus Karten spielen. Wir fahren hin und fragen ihn, wer den Jahrmarkt angemeldet hat. Vielleicht hat er ein paar Daten von den Leuten oder kennt sie vielleicht sogar persönlich.“

      Der Weg zum Gasthaus war völlig vereinsamt, obwohl sie ein Stück die Hauptstraße entlangfahren mussten. Die Häuser erweckten den Eindruck, als wären sie vor vielen Jahren verlassen, aufgegeben, zurückgelassen. Und doch waren dort und da hell erleuchtete Zimmer zu sehen, in denen auch die Umrisse von Menschen erkennbar waren. Sie waren von Leuten bewohnt, die sie kannten und doch machte sich das Gefühl breit, als wären sie innen ausgehöhlt.

      „Irgendwie wirkt dieses Dorf auf mich tot“, murmelte Taylor vor sich hin und erwartete keine Antwort. Rosalie nickte zustimmend, sagte aber nichts. Sie konzentrierte sich darauf, irgendwo Leben zu spüren. Doch da war nichts und auch die Natur zeigte sich in einer anderen Weise als gewohnt. Sie entwickelte ganz eigenartige Farben, die mit jeder Sekunde nicht nur unnatürlicher sonder sogar wie neu erfunden auf die beiden wirkten. Sie hatten den Eindruck, als wären über Nacht neue Farbkompositionen entstanden, wie kein Maler imstande wäre, sie zu melieren Das Grün der Wiesen zeigte sich als eine Mischung aus grünbraunblaurosa und die Sonne, die sich abmühte, über den Horizont zu blicken, leuchtete in vagem violettgelbsilber. Zwar verschwammen die Farben nicht, aber es sah so aus, als würden sie sich bewegen. Beim nächsten Blick allerdings musste man feststellen, dass sie noch am selben Ort wie zuvor waren.

      Rosalies Magen wurde von einer eiskalten Hand gepackt, die sich in ihrem Inneren zur imaginären Faust schloss und sie krümmte sich nach vor. Taylor trat abrupt auf die Bremse. „Was ist mit dir? Was ist los? Hast du Schmerzen? Geht es dir nicht gut?“

      Rosalie sah ihn aus schmerzverzerrtem Gesicht an. „Mein Magen fühlt sich an, als hätte sich ein breiter Eisgürtel um ihn gelegt, der sich mit jeder Sekunde enger zusammenzieht. Ich glaube, mir sind diese Vorfälle im Moment zu viel, ich halte ihnen psychisch nicht stand. Vor allem der Anblick von Cornelius in seinem speziellen Käfig hat mich ziemlich durcheinandergebracht. Lass uns umkehren und nach Hause fahren, ich brauche jetzt Ruhe.“

      Taylor legte seine Hand an ihre Wange und streichelte sie mit dem Daumen.

      „Ganz, wie du willst. Ich verstehe dich gut, aber du musst mir die Möglichkeit geben, mich um diese Sache zu kümmern. In mir brennt ein Feuer, das sich nicht mehr löschen lässt. Ich muss diesem Rätsel auf den Grund gehen. Ist das für dich in Ordnung? Ich erzähle dir auch nichts von meinen Nachforschungen und von den Ergebnissen, wenn du es nicht willst, versprochen!“ Er sah sie flehend wie ein Ertrinkender einen Rettungsring