Gungo Large - Spiel mir das Lied vom Troll. Thomas Niggenaber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Niggenaber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754118160
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      Der lebenslange Genuss von bewusstseinserweiternden und magischen Kräutern hatte Spuren in seinem Geist hinterlassen. Deshalb kam es schon mal vor, dass er vergaß sich zu bekleiden. Dafür war er von Kopf bis Fuß mit Tätowierungen bedeckt, die mystische Symbole, Figuren aus alten Sagen oder Stammeszeichen darstellten. Selbst sein kahl rasierter Schädel war voll davon. Eigentlich gab es an ihm keinen Zentimeter Haut mehr, der nicht tätowiert war.

      »Es geht um Grimmiger Hirsch, deinen Bruder«, erklärte der Häuptling, als der Elf sich ihm gegenüber gesetzt hatte. »Er ist verschwunden. Seit vier Tagen hat er sich weder blicken noch etwas von sich hören lassen.«

      Der junge Elfenkrieger stutze und runzelte die Stirn. Sein älterer Bruder, ebenfalls ein Greifenreiter – wenn nicht sogar der Greifenreiter des Stammes –, war für seine Zuverlässigkeit bekannt. Niemals versäumte er es, dem Häuptling Bericht über seine derzeitigen Tätigkeiten zu erstatten oder blieb so lange fort, dass man sich um ihn hätte sorgen müssen. Wenn er über mehrere Tage hinweg kein Zeichen von sich gegeben hatte, musste etwas Außergewöhnliches passiert sein.

      Der Elf spürte große Besorgnis in sich erwachen.

      »Man hat ihn zuletzt weit im Westen gesehen«, fuhr Stehender Gaul fort. »Einer unserer Späher sagt, er sei in die Richtung geflogen, in der die Ranch des reichen Zwerges liegt. Ich kann mir einfach keinen Reim darauf machen, was er dort zu suchen hat. Zudem hat Träumender Lurch eine Erschütterung der Macht gespürt...«

      »Mumpitz!«, fiel ihm plötzlich der greise Schamane ins Wort. Seine Stimme erinnerte dabei schwer an das Krächzen eines sterbenden Geiers. »Ich habe doch keine Erschütterung der Macht gespürt! Was für eine Macht denn überhaupt?« Er zeigte dem Häuptling den Vogel ungeachtet dessen Stellung in der Hierarchie des Stammes. »Ich habe gesagt: Ich habe eine Erregung in der Nacht gespürt! So etwas kommt in meinem Alter nur sehr, sehr selten vor und ist für mich zwar ganz angenehm, aber auch ganz sicher ein Zeichen!«

      Für einen Moment herrschte betretenes Schweigen, da sich keiner näher mit der Erektion des alten Schamanen befassen wollte. Der Häuptling räusperte sich leise, fuhr sich durch sein langes, schwarzes, von ein paar grauen Strähnen durchzogenes Haar und sah peinlich berührt zu Boden.

      »Ich sollte sofort aufbrechen, um meinen Bruder zu suchen«, sagte der Greifenreiter dann endlich. »Wie ihr wisst, kann er ein ganz schöner Hitzkopf sein. Sein Hass gegen alle Zwerge und Menschen ist groß, sogar größer noch als der meine. Nichts versetzt ihn mehr in Rage, als der Gedanke daran, dass diese unser Land mit ihrer Anwesenheit beschmutzen. Vielleicht hat ihn seine Wut zu irgendeiner Dummheit verleitet. Oder es ist ihm irgendwas zugestoßen. Wie dem auch sei, ich muss ihn möglichst schnell finden.«

      Der Häuptling stimmte ihm zu. »Du solltest damit anfangen, alle Orte, von denen er dir jemals berichtet hat oder die ihr als Kinder besucht habt, nach Hinweisen zu durchsuchen. Denke auch darüber nach, ob er in letzter Zeit irgendeine Bemerkung gemacht hat, die uns weiterhelfen könnte. Wenn du irgendwas brauchst, komm zu mir. Die Unterstützung des ganzen Stammes ist dir sicher. Irgendetwas stimmt da ganz und gar nicht!«

      »Und da ist noch etwas«, warf der Greifenreiter ein. Er war begierig darauf, dem Häuptling von den Ereignissen auf der Baustelle zu erzählen. Unter normalen Umständen hätte er dies in allen Einzelheiten getan. Doch die Sorge um seinen Bruder und die daraus resultierende Unruhe veranlassten ihn dazu, seine Erzählung auf das Wesentliche zu beschränken. »Ich habe einen Magier bei den Säulen der Unvergänglichkeit gesehen, inmitten des Eisenbahner-Camps.«

      »Ein Magier?!« Der dürre, nackte Schamane sprang auf, als hätte ihn irgendein Ungeziefer in seinen Allerwertesten gebissen. »So nahe beim Heiligtum? Bei allen Göttern!«

      Er fuchtelte wild mit den dünnen Armen umher, während er weiter krächzte »Das Verschwinden des Greifenreiters und das Auftauchen des Magiers – da muss es eine Verbindung geben. Kein Wunder, dass sich mein alter Schamanenstab nach all den Jahren mal wieder geregt hat. Ein Zeichen – wie ich schon sagte.«

      Für einen kurzen Augenblick wurde er still und nachdenklich, während er sich seinen Schädel kratzte. Dann riss er die Augen auf und erhob seinen knochigen Zeigefinger.

      »Ich muss sofort die Geister um Rat fragen!« Mit diesen Worten stürmte er aus dem Tipi, so schnell, dass die beiden anderen Elfen nur noch verdattert dreinblicken konnten. Dann jedoch fassten beide gleichzeitig den Entschluss, ihm zu folgen.

      Obwohl kein seltener Anblick sorgte die Blöße des Schamanen wie so oft für Erheiterung im Dorf der Moonytoads. Kinder rannten ihm laut lachend und feixend hinterher, Männer grölten ihm zotige Sprüche nach und Frauen, vor allem die jüngeren, senkten ihren Blick und kicherten verschämt.

      All das nicht zur Kenntnis nehmend raste der greise Elf mit einer Geschwindigkeit durch das Dorf, die man einem alten Knacker wie ihm niemals zugetraut hätte. Seine Verfolger bemühten sich währenddessen angestrengt, den Blick von seinem wackelnden, faltigen Hintern abzuwenden. Dieses Bild würden sie nämlich so schnell nicht wieder aus ihren Köpfen bekommen, das wussten beide.

      Bald schon hatten sie den blauen, kuppelförmigen Wigwam des Schamanen erreicht. Dieses war von innen wesentlich größer als von außen. Schon manch ein Besucher war aufgrund dieses Missverhältnisses verwirrt wieder nach draußen und um den Wigwam herum gelaufen, um ein Erklärung für dieses erstaunliche Phänomen zu finden. Doch nur die Magie des Schamanen machte solch ein Wunder möglich.

      Diese Tatsache war ebenso ein Indiz für die außergewöhnlich große Macht des alten Wirrkopfs, wie für seine unbändige Sammelwut. Diese hatte ihn einst dazu genötigt, seine Behausung durch einen derartigen Zauber zu vergrößern. Aufgrund erneut auftretenden Platzmangels würde er diesen Zauber bald schon wiederholen müssen. Tausende von magischen Relikten, verwunschenen Artefakten und Utensilien für magische Beschwörungen türmten sich im riesigen Inneren des Wigwams auf. Haufenweise uralte Schriftrollen und vollständig gefüllte Sammelalben mit den gezeichneten Köpfen berühmter Greifenreiter lagen dort herum. In einer Ecke stand sogar ein kompletter Totempfahl, zweimal so groß wie ein ausgewachsener Elf, und in einer anderen ein ausgestopfter Braunbär, der drohend auf den Hinterbeinen stand. Aus unbekannten Gründen trug dieser einen Knopf in seinem linken Ohr.

      Im Laufe seines Lebens – eines Elfenlebens wohlgemerkt, das in der Regel nicht nur läppische Jahrzehnte sondern mehrere Jahrhunderte umfasst – hatte der alte Schamane nichts von dem fortgeworfen, was irgendwie in seine Finger gelangt war. Er hatte so viele Dinge gesammelt, wie sie andere Leute in ihrem Leben noch nicht einmal zu Gesicht bekommen. Neben der magischen Begabung des Schamanen war es wohl seine erstaunlichste Fähigkeit, sich auch nur ansatzweise in diesem Chaos zurechtfinden zu können.

      Greifenreiter und Häuptling wussten um all die Absonderlichkeiten dieser Behausung. Sie schenkten ihnen deshalb auch keinerlei Beachtung. Sie hockten sich einfach nieder und sahen zu, wie der Schamane anfing, hektisch irgendwelche Haufen zu durchsuchen. Laut fluchend beschimpfte er dabei die imaginäre Person, die angeblich immer seine Sachen versteckte.

      Zwischen einigen aus Holz geschnitzten Götzenfiguren fand er letztendlich das, was er gesucht hatte. Er holte seine lange, mit kleinen Federn geschmückte Pfeife heraus – eine Pfeife für den Konsum von Tabak oder Kräutern natürlich, die andere hätte er ja nicht mehr hervorholen müssen – und stopfte sie mit einem groben, dunkelbraunen Kraut.

      Schon kurz nachdem er sich hingesetzt und das Kraut entzündet hatte, füllte sich der Raum mit dichten Rauschwaden. Deren würziger, etwas süßlicher Geruch weckte auch in dem Greifenreiter eine gewisse Begehrlichkeit. Er war dem gelegentlichen Genuss von berauschenden Kräutern ebenfalls nicht abgeneigt. Dieses spezielle Kraut war jedoch aufgrund seiner enorm starken Wirkung dem Schamanen vorbehalten.

      Dieser sog begierig den Qualm aus der Pfeife in sich hinein und nach einer Weile begann er langsam mit dem Oberkörper schwankend eine Beschwörung zu rezitieren.

      »Ich rufe euch an, oh ihr Ahnen«, murmelte er. »Ich bitte um euren Rat und um euren Beistand.«

      Er wiederholte diese Worte in einer Art leisem Gesang immer wieder, bis plötzlich