Alle drei Anwesenden sahen zum Eingang des Tipis hinüber – einem Loch, vor dem eine Decke hing.
»Äh … oder was rufen?«, korrigierte sich der Häuptling. »Klopf-klopf, Palim-Palim oder so was?«
»Ach, Mumpitz!« Der Schamane zeigte mal wieder den üblichen Mangel an Respekt seinem Häuptling gegenüber. »Ihr stellt euch an, als hätte ich noch nie zwei Elfen beim Poppen gesehen.« Er dachte kurz nach. »Ist zwar ein oder zwei Jahrhunderte her, aber egal. Ich komme gerade von den Totenstätten und habe einiges mit dir zu bereden. Zunächst einmal: Den alten Wächter der Toten hat es zerlegt, ich hab aber schon einen Ersatz für ihn gefunden. Des Weiteren ...«
»Moment, Moment«, unterbrach ihn Stehender Gaul. »Finstere Krähe ist tot? Aber wie konnte das passieren?«
»Eine wandelnde Leiche hat ihn abgemurkst, aber das ist jetzt nicht so wichtig.« Der ungebetene Gast begann, das Tipi des Häuptlings zu durchsuchen, was nicht nur dessen Unmut weckte, sondern auch das seiner Frau.
»Sag mal, geht es noch?« Sie sah ihren Mann hilfesuchend an. »Lässt du es einfach so zu, dass dieser Spinnewipp unser Zuhause auf den Kopf stellt, Schatz?«
Der Häuptling stöhnte genervt auf. »Was suchst du, Träumender Lurch?«
»Das Verzeichnis, Schatz«, erwiderte der Schamane. »Ich meine natürlich Häuptling! Das Verzeichnis der Totenstätten suche ich. Ich muss dringend etwas nachprüfen.«
Stehender Gaul ging zu einem hohen Korb, in dem sich mehrere Schriftrollen befanden. Eine davon zog er heraus und reichte sie dem Schamanen. Dieser machte sich sofort daran, sie eingehend zu studieren. Ohne vorher um Erlaubnis zu fragen, ließ er sich auf dem Boden nieder und breitete die Schriftrolle vor sich aus. Dann las er jeden Eintrag darauf leise murmelnd und mit dem Zeigefinger die Zeilen nachfahrend. Der Häuptling und seine Frau beobachteten ihn derweil immer noch ein wenig verärgert und genervt. So hatten sie sich ihren gemeinsamen Abend offenbar nicht vorgestellt. Sie ließen ihn jedoch gewähren. Ihnen war bewusst, dass der alte Elf trotz all seiner Eigenarten, seinem schlechten Benehmen und seiner gelegentlichen Verwirrung der weiseste und klügste Kopf im ganzen Dorf war.
»Wie ich es vermutet habe«, sagte der Schamane nach einer Weile. »Alle verschwundenen Toten waren zu Lebzeiten Greifenreiter, bis auf einen.« Er sah auf die Pfeife, die er neben die Schriftrolle gelegt hatte. »Schwebender Olm - er war mein Vorgänger als oberster Schamane.«
»Und was sagt uns das?«, wollte Stehender Gaul wissen.
»Wer auch immer die Toten geweckt hat, braucht anscheinend zweierlei«, begann Träumender Lurch seine Erklärung. »Zum einen braucht er Krieger – deshalb die Greifenreiter, zum anderen benötigt er Wissen – deshalb der oberste Schamane.«
»Was für Wissen?«, erkundigte sich nun die Frau des Häuptlings, die scheinbar ihre Verärgerung überwunden hatte. Über die Ereignisse der letzten Zeit war sie offenbar informiert und nun ebenso begierig wie ihr Ehemann, mehr über deren Ursache zu erfahren. »Zauberformeln oder magische Rezepturen?«
Der Schamane schüttelte sein Haupt. »Wer mächtig genug ist, die Toten zu erwecken, hat es bestimmt nicht nötig, irgendwelche Schamanenzauber zu stehlen. Es gibt aber Wissen, dass nur uns obersten Schamanen vorbehalten ist. Kein anderer Schamane, geschweige denn ein gewöhnlicher Elf, weiß über diese Dinge Bescheid.«
Eine ungewohnte Ernsthaftigkeit dominierte plötzlich das Mienenspiel des greisen Elfen. Für einen kurzen Augenblick schwanden all die verschrobenen Eigenheiten aus seinem Gebaren.
»Es geht um die uralten Schriften, in denen von den Gräbern der Ahnen berichtet wird. Wie alle obersten Schamanen, so wusste auch Schwebender Olm, wer diese Schriften hütet. Nun steht dieses Wissen auch demjenigen zur Verfügung, der seinen Leichnam erweckt hat. Ich befürchte, dass es jemand auf die Säulen der Unvergänglichkeit abgesehen hat!«
»Vielleicht der Magier, den der Greifenreiter auf der Baustelle gesehen hat«, vermutete Stehender Gaul.
Der Schamane nickte. »Ja vielleicht. Aber nur eins ist ganz gewiss.« Er ging zum Eingang des Tipis, schob die Decke beiseite und blickte in die Dunkelheit hinaus. »Die Wahrheit ist irgendwo da draußen.«
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