Gungo Large - Spiel mir das Lied vom Troll. Thomas Niggenaber. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Thomas Niggenaber
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754118160
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Position würde er noch länger hier ausharren, solange bis ein anderer Elf aus seinem Dorf kommen und seinen Platz als Späher einnehmen würde. So hatte es der Häuptling befohlen und so wurde es auch gemacht.

      Die Gebirgskette inmitten der Prärie war ideal für dieses Unterfangen, denn von hier konnte man fast das ganze Gebiet des Moonytoad-Stammes überblicken. Selbiges bestand fast nur aus spärlich bewachsener, ebener Graslandschaft und erstreckte sich fast bis zum Seven-Hills-Gebirge, weit im Westen.

      Viele Generationen lang hatte es hier, außer den Moonytoads, nur Bisons, Koyoten und irgendwelche Reptilien gegeben. Doch seit einigen Wochen tummelten sich hier Wesen, die seit jeher das Misstrauen und Argwohn eines jeden Elfen weckten. Menschen und Zwerge waren es, die das Land zu Tausenden mit ihrer Anwesenheit besudelten. Mit Pferdewagen waren sie gekommen, so schwer mit Holz, Metall und Werkzeug beladen, dass ihre Räder tiefe Narben in der Erde hinterlassen hatten. Dann hatten sie ihre Lager aufgeschlagen, Unterkünfte für Arbeiter sowie Stauräume für Unmengen an Material gebaut. Um die Versorgung mit ausreichend Wasser zu gewährleisten, hatten sie tiefe Brunnen in den Boden getrieben. So war das Camp schon bald zu einer kleinen Siedlung aus Zelten, Hütten und anderen Holzkonstruktionen herangewachsen.

      Doch das war nur der Anfang ihrer Verbrechen gewesen, die sie in den Augen der Elfen an der Natur begingen. Sie malträtierten den Boden mit Spitzhacken und Schaufeln, sprengten Felsen, die ihnen im Weg waren und formten das Land rücksichtslos nach ihren Bedürfnissen. Über viele hundert Meilen hinweg verunstalteten Sie das Antlitz der Steppe mit dem, was Sie Bahnschienen nannten und all das geschah nur, damit das metallene Monstrum namens Eisenbahn in naher Zukunft durch die Prärie würde fahren und sich regelmäßig würde verspäten können.

      Dass dies ungestört im Land der Elfen geschehen durfte, war Inhalt des Friedensvertrages, welchen man den Elfen nach ihrer Niederlage im großen Krieg aufgezwungen hatte. Neben weiten Teilen ihres Landes hatte man allen Stämmen das Einverständnis abgepresst, die Eisenbahnlinie unbehelligt durch das ihnen noch verbliebene Land bauen zu dürfen. Ansonsten hätte es keinen Frieden zwischen den Elfen und der Allianz aus Zwergen und Menschen gegeben.

      Dass sich diese Wesen unbeobachtet in ihrem Gebiet bewegen durften, davon stand allerdings nichts in dem Vertrag und deshalb sandten die Moonytoads regelmäßig ihre Späher aus. Diese sollten die Bauarbeiten an den Gleisen beobachten und darüber wachen, dass die unerwünschten Eindringlinge eben jenem Gebirgszug nicht zu nahe kamen, in dessen Höhen die Späher ihren Posten bezogen hatten.

      Tief unter diesen Bergen nämlich – die Elfen nannten sie die Säulen der Unvergänglichkeit – befand sich das bedeutsamste Heiligtum der gesamten elfischen Rasse. Hinter einem magisch versiegelten Tor, in einem gigantischen Labyrinth aus Höhlen, Gängen und Tunneln, lagen hier die Grabstätten der Ältesten verborgen, den Urahnen und Gründern aller Stämme Avaritias. So was von dermaßen total uneingeschränkt absolut heilig und unantastbar waren diese Gräber, dass kein lebendes Wesen ihrer je ansichtig werden durfte. Nicht einmal den einflussreichsten Häuptlingen oder Schamanen der Elfen war es gestattet, diese Höhlen zu betreten.

      Von den mannigfaltigen Mysterien, Wundern und Gefahren dieses in finsteren Tiefen schlummernden Heiligtums wurde in den alten Schriftrollen berichtet. Doch auch diese wurden von uralten, weisen Männern gehütet, als seien sie ein Teil ihrer selbst. Wer diese Männer waren und wo sie die Schriftrollen verborgen hielten, das war – wer hätte das gedacht – ein total uneingeschränkt absolut geheimes Geheimnis.

      Über die Säulen der Unvergänglichkeit zu wachen, dazu waren deshalb nur die angesehensten und besten Krieger des Moonytoad-Stammes auserkoren.

      Und das waren die Greifenreiter.

      Der Elf zog sich, immer noch auf dem Bauch liegend, ein Stück vom Rand des Felsvorsprunges zurück. Dann warf er einen Blick über die Schulter nach hinten. Dort saß sein Greif. Offensichtlich gelangweilt, doch artig dem Befehl seines Herren folgend, verhielt er sich ruhig und regte sich kaum. Nur hin und wieder gähnte er ausgiebig und fuhr sich mit einer seiner Vorderpfoten über Augen und Schnabel, was trotz seiner enormen Größe beinahe possierlich wirkte.

      Der Elf lächelte. Er liebte dieses prächtige Tier von ganzem Herzen. Eine tiefgehende, nahezu mystische Verbindung mit dem Greifen hatte der Elf bereits empfunden, noch bevor dieser das Licht dieser Welt erblickt hatte. Schon als er das Griffogotchi – so die Bezeichnung der Elfen für Greifeneier – vor langer Zeit das erste mal in Händen gehalten hatte, waren in ihm diese Gefühle erwacht. Den Greifen großzuziehen und aus ihm ein folgsames Reittier zu machen, war ihm aufgrund dessen auch ungewöhnlich leicht gefallen und mithilfe seines gefiederten Gefährten hatte er vor einigen Jahren den Rang des Greifenreiters erlangt. Ein strenges, langwieriges Auswahlverfahren hatten sie gemeinsam überstehen müssen, um dieses Ziel zu erreichen. Denn nicht jeder Elf, der einen Greif besaß, durfte diesen Titel tragen.

      Der Stamm der Moonytoads sucht den nächsten Greifenreiter – so lautete die traditionelle Bezeichnung dieses althergebrachten Verfahrens, in dem alle Anwärter eine Vielzahl schwieriger Aufgaben zu bewältigen hatten. Vier Stammesältere beurteilten anschließend die Leistungen eines jeden Prüflings. Sie entschieden darüber, wer qualifiziert genug war, um in die Endrunde zu kommen. In dieser wählten sämtliche Stammesmitglieder, Männer, Frauen und auch Kinder, schließlich den fähigsten Elfenkrieger unter den Bewerbern aus. Natürlich spielte bei dieser Wahl auch die Beliebtheit des Kandidaten eine Rolle - vor allem die jungen Squaws ließen sich eher vom Aussehen als von den Fähigkeiten selbiger beeinflussen.

      Mit Bravour hatte der Elf all diese Hürden genommen und war mit einer überragenden Mehrheit zum neuen Greifenreiter gewählt worden. Nicht zuletzt hatte er das der hohen Lernfähigkeit und Begabung seines Reittieres sowie der tiefen Verbundenheit mit ihm zu verdanken.

      Doch nicht nur der außergewöhnliche Intellekt seines Greifen und seine überdurchschnittliche Größe waren es, die ihn deutlich von seinen Artgenossen unterschieden. Auch nicht die ungewöhnliche, samtschwarze Färbung seines Gefieders, welches Kopf und Flügel bedeckte, oder das ebenso schwarze Körperfell war sein ungewöhnlichstes Merkmal. Dieser Greif besaß eine Fähigkeit, die absolut einzigartig war unter den Wesen seiner Gattung: Er konnte sprechen.

      Leider hatte er dies bislang ausschließlich im Beisein seines Besitzers getan und niemand glaubte dessen Erzählungen darüber – meist verursachten diese nur Schmunzeln oder gar schallendes Gelächter. Der Elf selbst hätte es wohl nicht geglaubt, hätte er es nicht schon oftmals miterlebt. Wenn der Greif aufgeregt war oder ihn andere starke Emotionen ereilten, entrang sich seinem Schnabel ein klar artikuliertes Wort. Wann und wo er dieses Wort gelernt hatte und warum es anscheinend nur dieses eine war, welches er aussprechen konnte, das war seinem Herrn jedoch ein Rätsel.

      Ein aus der Ferne zu ihm dringendes Geräusch – ein Schnaufen und Stampfen, begleitet von einem steten Dröhnen – riss den Elfen aus seinen Gedanken. Eine leichte Vibration, welche das gesamte Gebirge und die angrenzende Steppe zu erfassen schien, ging mit diesem Geräusch einher. Schnell robbte er zurück an den Rand des Plateaus, von wo aus er einen Zug beobachten konnte, der sich aus dem Westen über die bereits fertiggestellte Bahnstrecke näherte.

      Es war nicht der erste Zug, den der Elf zu Gesicht bekam. Beinahe täglich zog eine solche schwarz-rot lackierte Dampflok eine Vielzahl nahezu identisch aussehender Waggons voller Material zur Baustelle. Doch der Anblick dieser mechanischen Abscheulichkeiten erschütterte ihn jedes Mal aufs Neue. Warum nur, so fragte er sich abermals, erschufen vernunftbegabte Wesen so widernatürliche Dinge, die ihrer Umwelt in solch hohem Maße Schaden zufügen? Sahen sie denn nicht die dicken Dampfwolken, mit denen dieses Ungetüm den sonst makellos blauen Himmel verdunkelte? Rochen sie denn nicht diesen abscheulichen Gestank nach verbrannter Kohle, Holz und Öl, den es verströmte? Selbst jetzt schon reizte dieser Gestank seine empfindliche Nase, obwohl der Zug noch Meilen entfernt war.

      Wahrscheinlich war es ihnen egal, schlussfolgerte der Elf. Dies bekräftigte ihn in seiner Meinung, dass Menschen und Zwerge skrupellose, unsensible Wesen waren, die sich nur von ihrer Gier, ihrer Bequemlichkeit und ihrem absurden Glauben an den technischen Fortschritt leiten ließen.

      »Richtige Husos«, benutzte der Elf flüsternd eine unter den Moonytoads