Sie gingen schweigend, Hand in Hand, den Weg zum Hotel zurück. Ein paar Meter vom Portal entfernt, trennten sie sich. Tullio sagte: »Morgen habe ich im achten Stockwerk zu tun. Vielleicht kann ich zu dir kommen – für ein paar Minuten. Leb wohl.« Seine Augen standen voll Tränen.
Marion wollte seine Augen küssen, hatte aber Angst, vom Hotel aus beobachtet zu werden. Sie drückte ihm schnell die Hand, ohne noch etwas zu sagen.
Marions Tage in New York waren reichlich ausgefüllt. Sie studierte mit einer amerikanischen Schauspielerin ihre englischen Rezitationen sowie die kleinen Vorträge, die den Versen als Einleitung dienen sollten. Sie hatte Konferenzen mit ihrem Agenten, mit Journalisten, und es gab viele Menschen zu sehen. Die Menschen waren wohlmeinend und herzlich. Alle schienen voll lebhafter Sympathien mit Schicksal und Arbeit der deutschen Emigrantin, und sie äußerten Haß und Ekel, wenn von den Nazis die Rede war.
Aber die zentrale Figur für Marion in diesen Wochen wurde der Italiener, Tullio, der, schön wie ein junger Gott, mit einem Kübel und mehreren Lappen in ihre Stube getreten war. Er kam wieder, jeden Tag war er da, und schließlich wagte er es sogar, sie nachts zu besuchen, obwohl doch alle im Hotel ihn kannten. Er schlich sich durch den hinteren Eingang und benutzte, um nach oben zu gelangen, nicht den Lift, sondern die Treppe: die enge, dunkle, fast verbotene Treppe, die abgestorben zu sein schien wie ein Körperteil, den man nicht benutzt, und die nun endlich ihren Sinn, ihr neues Leben bekam.
Auf der Treppe aber begegnete er keiner Geringeren als der Gattin des Managers, die wohl, vom Korridor her, Schritte gehört hatte und neugierig lugte, wer sich da herumtreiben mochte. »Wohin wollen Sie?« fragte unbarmherzig die Dame. Tullio seinerseits wurde rot und blaß. Der Schweiß trat ihm in dicken Tropfen auf die Stirne; er brachte mühsam hervor: »Zu Doktor Alberto – Doktor Alberto im sechsten Stock …« Er meinte einen deutschen Arzt namens Albert Müller, der im Hotel logierte und vor einigen Tagen einen verletzten Finger Tullios verbunden hatte. – »Zu Doktor Alberto!« beteuerte der Junge noch einmal – erleichtert, daß immerhin dieser rettende kleine Einfall ihm gekommen war – und er fügte jammernd hinzu: »Mein kaputter Finger tut ja so entsetzlich weh! Es ist der kalte Brand, fürchte ich. Doktor Alberto wird alles aufschneiden müssen …« Dabei streckte er der Gattin des Managers frech die gesunde Hand hin. Sie geruhte nicht einmal, sie anzuschauen; vielmehr sagte sie nur verächtlich: »Doktor Alberto? Von wem sprechen Sie denn? – Wahrscheinlich meinen Sie den Herrn Doktor Müller.« – Tullio nickte eifrig. – »Warum benutzen Sie nicht den Lift?« fragte die Gattin des Managers nur noch und wandte ihm verdrossen den Rücken.
Tullio kam zitternd und keuchend vor Aufregung bei Marion an. »Man hat mich entdeckt!« Er rang pathetisch die Hände, Tränen standen in seinen Augen, und der schöne Mund zuckte. Sie legte die Arme um seine Schulter. Ihre Liebkosung besänftigte ihn; er konnte erzählen, was geschehen war. Als Marion aber lachte, wurde er ärgerlich. »Du amüsierst dich!« grollte er und machte große Schritte durchs Zimmer. »Du ahnst ja nicht, wie gemein die Menschen sind! Morgen wird der Manager sich bei Doktor Alberto erkundigen, ob ich wirklich bei ihm gewesen bin. Der ganze Schwindel kommt auf, und ich werde entlassen.«
Er blieb nur ein paar Minuten. Zum Abschied küßte er Marion mit einer Heftigkeit, in der noch der Zorn über das Renkontre auf der Treppe spürbar war. »Wir müssen uns ein Zimmer nehmen – ganz für uns!« flüsterte er. »Ich weiß ein kleines Hotel, in der Nähe der Pennsylvania Station. Es ist billig und ziemlich sauber …« Marion nickte, die Arme um seinen Hals. Dabei fiel ihr die Purpurfülle des Haars in die Stirn, wie ein Vorhang, der verbergen sollte, daß sie rot geworden war.
Übrigens geschah am nächsten Vormittag alles, wie der verzweifelte Tullio es vorausgesehen hatte. Doktor Müller, der sich an den Italiener mit dem verletzten Finger kaum erinnern konnte, leugnete empört, ihn nachts empfangen zu haben. Was also hatte Tullio im Hotel gesucht, zu so unpassender Stunde? Wahrscheinlich hatte er stehlen wollen; alles sprach dafür: dies war seine Absicht gewesen. – Tullio wurde entlassen. Er ließ es Marion auf einem Zettel wissen, den er durch die Türritze in ihr Zimmer schob. Sie erschrak: Was sollte nun werden? Aber schon gegen Abend rief der Junge sie an: Er hatte einen »Job« in einem anderen Hotel gefunden, nicht weit von hier. »Und es ist ein viel schöneres Hotel!« berichtete er stolz. »Viel größer und vornehmer als eures. – Tullio hat Glück! Tullio kennt das Leben!«
Marion hatte nur noch drei Wochen, ehe sie die Tournee antreten mußte. Die Zeit verging viel zu schnell. – Sie konnte Tullio immer erst abends treffen. Tagsüber hatte er seine Arbeit, und auch sie war beschäftigt. Aber die Abende waren lang – von sieben Uhr bis Mitternacht oder ein Uhr morgens. Mit Tullio zusammen lernte sie New York kennen; er kannte es gut, und überall hatte er Freunde. Sie unternahmen Entdeckungsfahrten in der Subway: nach Brooklyn oder in die Bronx, ins Chinesenviertel oder nach Harlem. Marion war begeistert von den Dancings, wo die Schwarzen, zugleich korrekt und verzückt, sich nach den fulminanten Rhythmen des Jazz bewegten. Tullio seinerseits tanzte ohne die brillante Technik, die für die Dunklen Selbstverständlichkeit war. Aber er führte mit festem, zuverlässigem Griff; sein Gang war beschwingt und elastisch, und seine Musikalität bewahrte ihn vor jedem falschen Schritt. Übrigens hielt er selber große Stücke auf seine Tanzkunst und rühmte sich kindlich: »Tullio knows how to dance! Tullio is clever, is smart!« – Sein Akzent war phantastisch. Mit einem Eigensinn, der nicht ohne Großartigkeit war, weigerte er sich zum Beispiel, das »th« so auszusprechen, wie es sich gehörte. Er deklarierte, wenn von weltanschaulichen Fragen die Rede war: »I know the whole trut!« – und Marion verstand erst nicht, was er meinte. Schließlich kam sie darauf, daß es das Wort »truth« war, das er so seltsam entstellte.
Es war schön in Harlem; es war schön am Times Square, wo die feurigen Räder der Lichtreklamen irrsinnig kreisten und vor schwarzem Hintergrund grelle Figuren oder Schriftzeichen ihren Tanz hatten. Nach dem Kino mußte Tullio in eine Cafeteria gehen, um ein großes Sandwich mit Salat und heißer Wurst zu essen. Er hatte fast immer Hunger. Für Marion war es ein Vergnügen, ihn essen zu sehen. Er bekam etwas Raubtierhaftes, wenn er gierig aß; seine Zähne, die beim Lachen verlockend schimmerten, wurden Mordwerkzeuge. Sie sah ihn Speisen verschlingen; Fleisch kauen, Gemüse verzehren, Suppe löffeln – in französischen Restaurants, schwedischen, ungarischen, chinesischen Restaurants. Am besten schmeckte es ihm in den italienischen. Er wußte ein kleines Lokal, wo es vorzügliche Ravioli und einen sehr guten Chianti gab. Dort war es, wo Tullio mit Marion seinen Geburtstag feierte. Es war ein schönes, ausführliches Fest. Er hatte schon am Nachmittag das Menü zusammengestellt. Es war fast wie in Bari. Sie schrieben eine Ansichtskarte an Tullios Familie: an den Vater, die Mama und den siebzehnjährigen Luigi. Später setzte Tullio, wieder einmal, seine Weltanschauung auseinander. »I know the whole trut!« behauptete er emphatisch. Diesmal stellte sich heraus: er war nicht nur gegen die organisierte Gewalt, den Staat; er war auch gegen den Verstand, gegen die Vernunft, den Kopf, das Denken. »Die Menschen denken zuviel«, erklärte Tullio, »deshalb können sie nicht glücklich sein.« Seine Theorie war: Alle Krankheiten kommen vom Gehirn; vor allem die Tuberkulose. Man bekämpfte dieses Übel am wirkungsvollsten, wenn man auf das leidige Nachdenken beinah ganz verzichtete. »Früher waren die Menschen gesund, weil sie weniger dachten und nicht soviel wußten. Ich weiß beinah gar nichts«, gab Tullio zu. »I am ignorant. – But I know the whole trut!« schloß er triumphierend und goß sich noch einmal Chianti ein.
Marion lauschte ihm amüsiert; machte sich dabei auch ihre eigenen Gedanken, obwohl ihr Freund doch gerade das Denken so dringend widerriet. Marion dachte: ›Auch sein kindlicher, ungeübter Verstand ist berührt und ergriffen von den Stimmungen, den gefährlich starken Tendenzen der Zeit. Marcel – erfahren und viel zu bewandert in allen intellektuellen Raffinements – hat die großen Worte verflucht und nach der Tat, dem Opfer verlangt. Dieser Überdruß an der Vernunft, dieser aggressive Zweifel an der intellektuellen Kritik scheint die Krankheit unserer Generation – oder ist es vielmehr ein Symptom der Gesundung? Sind alle diese jungen Menschen so müde der Gedanken und der Zweifel – weil