Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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Heimweh nach der verlorenen Landschaft in ihrem Herzen mit der Trauer um den verlorenen Freund. Marcel war tot, ins Herz getroffen, tot – unter fremden Himmeln gestorben. Und hier kein Himmel, der hätte trösten können. Und hier – kein Himmel.

      Marion hatte das Gesicht in die Hände gelegt – aber ohne zu weinen – als es an der Türe klopfte.

      Ein junger Mann, der einen großen Kübel und mehrere Lappen trug, trat ins Zimmer. Marion schaute kaum auf. Der junge Mann fragte höflich, ob es die Dame stören würde, wenn er die Fenster putzte. »Sie können es brauchen«, sagte er, auf die Fensterscheiben deutend; dabei lachte er ein wenig. Seine englische Aussprache war fehlerhaft. ›Er hat den italienischen Akzent‹, dachte Marion – übrigens nicht eigentlich interessiert; ganz mechanisch. Sie hatte dem Jungen noch nicht geantwortet. Er fragte wieder: »Darf ich?« Dabei ging er schon, mit energischen, etwas wiegenden Schritten, durchs Zimmer und stellte den Kübel vor dem Fenster hin. Seine Stimme hatte einen hellen und festen Klang.

      Marion sagte am Schreibtisch: »Natürlich. Bitte. Ich wollte ohnedies eben ausgehen …« Sie erhob sich, um sich aus dem Wandschrank Hut und Mantel zu holen. Der Junge kniete auf dem Fensterbrett und begann schon, eine der Scheiben mit dem nassen Tuch zu bearbeiten. Marion schaute ihn an.

      Sie blieb stehen, noch ehe sie den Schrank erreicht hatte. »Sie sind Italiener?« fragte sie ihn. Er lachte und nickte. »Woran merken Sie das?« wollte er lachend wissen. Marion – nach einer Pause, die mehrere Sekunden lang dauerte: »Das kann man doch hören …«

      Sie nahm Hut und Mantel; machte sich geschwind vor dem Spiegel zurecht, und ging – etwas zu rasch – aus dem Zimmer. Der Junge hatte in seiner Tätigkeit am Fenster innegehalten und ihr nachgeschaut, bis sie die Türe hinter sich schloß. Sein Gesicht war braun und kräftig geformt, mit blauen, weiten, sehr leuchtenden Augen, deren Helligkeit zum Schwarz des dichten, glatten Haars kontrastierte.

      Marion, im Korridor, klingelte nach dem Lift; der ließ auf sich warten, wie meistens. Sie dachte – mehr noch erstaunt als entzückt: ›Aber dieser Bursche ist ja schön wie ein junger Gott! Nein, so etwas! Plötzlich tritt ein junger Gott zu mir ins Zimmer; trägt eine kurze braune Lederjacke – das blaue Hemd offen am Halse – und putzt mein Fenster mit einem Lappen. Ein überraschender Vorfall. Dergleichen erlebt man nicht alle Tage …‹ Sie klingelte nochmals. Der Lift kam nicht. Sie erwog, ins Zimmer zurückzugehen; ein Vorwand dafür hätte sich finden lassen … Das würde die Gelegenheit bedeuten, noch ein paar Worte mit dem Burschen zu sprechen. ›Denn wenn ich von meinem ausgedehnten Spaziergang zurückkomme‹, meinte sie, ›ist er doch natürlich nicht mehr da, und dann sehe ich ihn nie wieder.‹ – Plötzlich aber empfand sie mit Beschämung die Albernheit ihres kleinen Plans. ›Er würde merken, daß ich seinetwegen zurückkomme … Was für Dummheiten!‹

      Es machte sie nervös, hier zu stehen und auf den Lift zu warten. Sie öffnete die Tür zum Treppenhaus – die halb verborgene Tür, die sie so lange nicht gefunden hatte und die ihr nun schon vertraut war. Vertraut war ihr auch der muffig-modrige Geruch auf der engen Treppe, die eigentlich gar nicht den Gästen zur Benutzung dienen sollte, sondern nur zur vorläufigen Aufbewahrung von allerlei Abfall.

      Vom fünften Stockwerk geschwinden Schrittes hinunter in den Empfangsraum zu steigen macht etwas atemlos. Marion keuchte, als sie die andere schmale und geheime Tür öffnete, durch die sie, nach dem Ausflug in die Unterwelt, wieder ans Tageslicht treten durfte. Der Concierge betrachtete die Dame, die da aus den eigentlich unbetretbaren, fast verbotenen Gegenden kam, zunächst recht erstaunt; erinnerte sich dann aber, daß Miss Kammer nun einmal solch drollig-originelle Angewohnheiten habe – und lächelte strahlend. »How do you do, Miss Kammer? Nice weather today …«

      Das Wetter war wirklich schön; Marion hatte es, von ihrem Zimmer aus, noch gar nicht feststellen können. Der schmale Streifen Himmel, der zwischen den Reihen der Häuserfronten sichtbar wurde, strahlte in harter und reiner Bläue. ›Fast wie im Engadin‹ – dachte Marion, plötzlich guter Laune.

      ›Wo wollte ich eigentlich hin?‹ fragte sie sich selber, ziemlich heuchlerisch; denn in Wahrheit hatte sie ja vorgehabt, einen ausgedehnten Spaziergang zu unternehmen. – ›Natürlich: nur bis zum Drugstore an der Ecke, um Zigaretten zu holen …‹

      ›Woher hat der Junge diese Augen?‹ überlegte sie, während sie die paar hundert Meter, die zwischen dem Hotel und dem Drugstore lagen, hastig zurücklegte. ›Und woher kenne ich sie? Woher sind mir die Blicke dieses italienischen Fensterputzers bekannt?‹ – Sie blieb stehen. Ihr Herz klopfte heftiger; bis zum Hals hinauf fühlte sie es nun klopfen. ›Diese Augen – sternenhaft geöffnet unter gewölbten Brauen … kindlich und trauervoll und etwas wahnsinnig – sollen sie mich denn nie loslassen? – Ach, Marcel, Marcel …‹ – Sie trat in den Drugstore, verlangte zwei Pakete Lucky-Strike-Zigaretten, bezahlte siebenundzwanzig Cent und ging.

      Als sie in ihr Zimmer zurückkam, war der Junge noch da. Er kniete auf dem Fenstersims und bearbeitete die Scheiben mit dem Lederlappen; es gab ein häßlich knirschendes Geräusch. Marion sagte: »Es ist schönes Wetter draußen.« Der Junge, ohne sich in der Arbeit zu unterbrechen, drehte das Gesicht halb nach ihr hin. »Aber Sie haben keinen langen Spaziergang gemacht …«

      Über dem offenen Hemdkragen erhob sich der Hals, ein wenig zu breit vielleicht – zugleich stämmig und kühn. Hatte sein Gesicht wirklich Ähnlichkeit mit dem anderen Antlitz, das verloren war und versunken? Mit dem kindlichen und stolzen, von unbeschreiblichen Abenteuern vielfach gezeichneten Antlitz Marcels? – Marion prüfte die Züge dieses Fensterputzers, während sie, möglichst hochmütig, sagte: »Ich hatte eine kleine Besorgung zu machen.«

      Es waren wohl nur Schnitt und Farbe der Augen, die mit so bestürzender Heftigkeit an Marcel erinnerten. Übrigens blickten diese Augen unschuldiger und blanker als die tragisch aufgerissenen Augen des Verlorenen. In dem Gesicht des Italieners gab es nur klare und starke Linien. Die Nase war kurz und gerade. Die Lippen – etwas zu dick, um im klassischen Sinne völlig schön zu sein – schienen aus einem soliden und verlockenden Material geformt, wie sehr edle Früchte. Wenn die Lippen sich öffneten, leuchteten die Zähne – ›Marcel aber hat poröse, gelbliche Zähne gehabt‹, mußte Marion denken. – Die kraftvolle Rundung des Kinns und die Form der breiten, hochsitzenden Wangenknochen waren bei Marcel ähnlich gewesen.

      Marion murmelte etwas über ein paar Briefe, die sie eilig zu schreiben habe. Der Italiener, mit einer plötzlich pathetisch verfinsterten Stirn, sagte: »Bitte … Ich bin ja ohnedies hier gleich fertig.« Dabei rieb er mit demonstrativem Eifer die Fensterscheiben. Marion lächelte: »So war es doch nicht gemeint.« Da schaute er sie dankbar aus seinen hellen, weiten, blanken Augen an.

      Sie setzte sich an den Schreibtisch – diese Geste glaubte sie sich doch schuldig zu sein, nachdem sie die Bemerkung über die Briefe nun einmal gemacht hatte. Indessen sorgte sie dafür, daß die Unterhaltung nicht abbreche. »Wie lange sind Sie schon in New York?« – Er berichtete: »Ich bin hier geboren. Aber als ich zwölf Jahre alt war, wollten meine Eltern nach Italien zurück, und sie nahmen mich mit. Meine Eltern leben in Bari: das ist eine große Stadt in Italien. Mein Vater möchte in Bari sterben. Es ist die schönste Stadt auf der Welt, sagt mein Vater. Aber ich habe es dort nicht ausgehalten. Seit zwei Jahren bin ich wieder hier.« – Er reckte, aufatmend, den schlanken und athletischen Körper, als ob es ihm ein physisches Behagen verursachte, wieder hier zu sein.

      »Wie alt sind Sie denn jetzt?« fragte Marion. Er antwortete: »Zweiundzwanzig!« – mit einem stolzen und kindlichen Lächeln, das den Glanz seiner Zähne zeigte. Dann verfinsterte sich seine blanke Stirn gleich wieder.

      »Da stehe ich, ein großer langer Kerl, zweiundzwanzig Jahre alt, und bin nichts als ein Fensterputzer!« Seine Augen waren dunkel geworden – fast schwarz – und die starken Lippen hatte er trotzig vorgeschoben. »Eine feine Situation!« Er lachte erbittert. Dann stellte er fest: »Eigentlich wollte ich schreiben« – und ließ den Scheuerlappen, wie entmutigt, sinken.

      Marion erkundigte sich: »Was wollten Sie schreiben? Romane? Oder Gedichte? Oder Philosophie?«

      Er machte eine große Gebärde, die wie eine Umarmung war. »Oh – alles – einfach