Sie gefiel den Amerikanern. »I think we do like you!« sprach herzlich die Dame vom Klubvorstand, und die anderen nickten. »It was wonderful to have you here! The whole crowd was just crazy about you! Couldn’t you have dinner with us tonight?«
Marion machte Eindruck, weil sie aufrichtig war. Sie überzeugte, weil sie ihrerseits starken Glauben hatte, weil die Flamme in ihrem Blick nicht künstlich sein konnte, der Schrei, das Schluchzen in ihrer Stimme nicht affektiert. Ihre Persönlichkeit imponierte, man war beeindruckt durch ihren Mut. »Such a brave little thing!« sagten die Damen, und die jungen Leute – wie auch die bejahrten Professoren – zeigten sich empfänglich für den fremdartigen Charme ihrer Erscheinung: die lockige Purpurmähne über dem kurzen, ausdrucksstarken Gesicht; der leuchtende, feuchte Mund, die schräggestellten, leidenschaftlichen Augen; die Magerkeit der gestrafften Glieder, der schönen, nervösen Hände. »Sie ist etwas ganz Besonderes!« sagten die Professoren, Studenten und sogar die abgebrühten Journalisten. »Very different – in a charming manner: that’s what she really is! – And very continental, too!« fügten sie anerkennend hinzu.
Man applaudierte ihrem Vortrag sogar dann, wenn man seinem Inhalt kaum hatte folgen können – nur der reizenden Erscheinung wegen; weil die Augen dieses Mädchens gewannen, und weil ihre Stimme entzücken, rühren und erregen konnte. – Tatsächlich war die Darbietung, mit der sie zu den Klubs und Universitäten kam, für das Publikum etwas Neues und wäre von einer weniger attraktiven Person wahrscheinlich nicht akzeptiert worden. Damen, die Vorträge hielten – das kam tausendmal vor; Schauspielerinnen sah man sich auf dem Theater an; lieber noch auf der Filmleinwand. Aber ein Mädchen, das Gedichte sprach, noch dazu teilweise in fremder Zunge? Es war gar zu »continental« und hätte leicht verwunderlich, selbst komisch wirken können. – Der Agent indessen, der in Marions Tournee Geld und Kraft investiert hatte, war sich seiner Sache beinah sicher gewesen, und sein geübter Instinkt behielt recht: Die Leute in Detroit, Kansas City und Baltimore fanden das Experiment nicht langweilig, sondern faszinierend. Noch während Marion unterwegs war, kamen neue Angebote, neue Engagements. Ihre Rückreise nach New York verzögerte sich.
Überraschender- und – wie Marion schien – paradoxerweise gingen diese Einladungen beinah sämtlich von amerikanischen Organisationen aus; die deutschen Gruppen hielten sich zurück. Hatte es nur politische Gründe? Lehnten die deutschen Vereine es ab, die Ausgebürgerte, die Emigrantin bei sich zu empfangen? – Marion dachte darüber nach, nicht ohne gekränktes Erstaunen. ›Werden meine Landsleute sogar hier von Hitler regiert?‹
Da sie sich fast immer an Amerikaner wendete, schien es ihr ratsam, die Rezitationen deutscher Verse einzuschränken, und die begleitende, erläuternde Rede ausführlicher zu machen. Ihr Englisch wurde fließend; ihr Akzent war gut. Sie erzählte, auf dem Podium stehend, vom »anderen, besseren Deutschland«, vom »guten alten Europa« und seinem Ruhm – fast mit der gleichen Nonchalance und improvisierten Leichtigkeit, die sie beim Diner mit den Klubdamen hatte. Sie verstand es, zu amüsieren. Die Anspielungen aufs Aktuelle, auf Personen und Probleme des Tages, wurden dankbar belacht. Sie berichtete von Heines Leben in Paris, von Lessings Polemiken, Goethes fürstlich erhöhter, einsamer Existenz, von den Tragödien Hölderlins, Kleists und Nietzsches – ehe sie die Verse oder Prosastücke sprach. Auch von den Lebenden, den Emigranten wußte sie Geschichten, die rührten und unterhielten. Es folgten die Dichtungen, oft in englischer Übersetzung. Die Rezitation bekam mehr und mehr den Charakter von sparsam verwendeter Illustration. Die Einführung, Deutung, politisch-moralische Schlußfolgerung ward das Wesentliche, Zentrale. Nach dem Vortrag stürmten alte Damen auf Marion zu, um ihr zu versichern, wie beglückend und belehrend alles für sie gewesen war. »Vor fünfunddreißig Jahren habe ich in Leipzig gelebt!« Die Weißhaarige sagte es deutsch – es war mühsam für sie, aber sie wollte beweisen, daß sie es noch nicht ganz vergessen hatte. »Damals war Deutschland schön! – ein so feines Land! Jetzt ist es wohl total – verrückt geworden? Isn’t it too bad? – Aber seitdem ich Sie gesehen habe, liebes Kind, bin ich wieder stolz darauf, daß meine Großmutter aus Hannover stammt. – Ich war nämlich schon nah dran, mich meiner armen Großmutter zu schämen«, flüsterte die Alte, hinter vorgehaltener Hand. »So wie man sich in Deutschland jetzt wohl einer jüdischen Großmutter schämt …« fügte sie kichernd hinzu.
Eine andere Frau sagte zu Marion: »Die Deutschen sind nicht zu entschuldigen. Gerade wenn man ihre großen Eigenschaften bedenkt, wächst die Empörung über ihre Entartung. – Ich war von Ihrem Vortrag begeistert. Sie wollten uns ein ›anderes Deutschland‹ zeigen – und, wahrhaftig: Sie haben es lebendig gemacht! Aber hat es, als Nation, als Realität, jemals existiert – dieses ›andere Deutschland‹, auf das Sie sich berufen? Es hat deutsche Genies gegeben, und es hat immer ein paar tausend Deutsche gegeben – wie Sie; ich habe Freunde unter ihnen gehabt. Aber der Rest? Das Ganze? – Während des Krieges hat man uns versichert: Es ist nicht das deutsche Volk, gegen das man kämpfen soll; es sind nur seine Tyrannen. Damit war euer lächerlicher Kaiser gemeint. Nun – der ist unschädlich gemacht worden. Und nach fünfzehn Jahren war ein neuer deutscher Tyrann da: nicht weniger grotesk, aber viel gefährlicher als Wilhelm. Nun sollen wir noch einmal zwischen diesem Volk und seinen schlimmen Führern den fundamentalen Unterschied machen?« Die Dame, die selbständig nachdachte und sich nichts einreden ließ, fragte es beinah drohend. »Mir scheint doch leider«, fügte sie mit Nachdruck hinzu, »das deutsche Volk hat die Führer, die ihm gefallen und die zu ihm passen.«
Marion nannte ihr Programm, das bis dahin unter dem Titel »Das andere Deutschland« angekündigt worden war, nach diesem Gespräch – das nicht das erste seiner Art gewesen war: »Deutschland von gestern – und morgen«.
Es kamen Tage, da meinte sie: Ich kann nicht mehr. Abends, auf dem Podium oder am geselligen Tisch, versagte sie niemals; ihre Energie überwand jede Müdigkeit: sie strahlte und ließ noch den Schlauesten nicht merken, wie elend ihr ein paar Stunden früher gewesen war. Während der langen Eisenbahnfahrten wurde ihr oft schwindlig; sie mußte sich übergeben. Solche Art von jähen Übelkeiten hatte sie nie gekannt. ›Was ist mit mir?‹ – Sie machte sich ernsthaft Sorgen und war doch sonst nicht hypochondrisch gewesen.
Die Landschaft ward immer öder; immer melancholischer der Blick in die kleinen Ortschaften, an denen der Zug stoppte oder langsam vorbeifuhr. Das kahle Backsteingebäude des Bahnhofs; dahinter die Perspektive der »Main Street«; ein paar Dutzend Ford-Wagen; ein paar große Plakate von Camel-Zigaretten und Coca-Cola; ein paar schmutzige Kinder, weiße oder schwarze; zwei oder drei Drugstores, ein Kino. Darüber der trüb bedeckte winterliche Himmel … Pullman Miles – Happy Miles … Winter im Mittelwesten.
An irgendeiner dieser Stationen stieg Marion aus – jeden Tag an einer anderen, und es schien immer dieselbe. Die Damen vom Klubvorstand oder die Herren von der Universität holten sie in einem Ford- oder Buick-Wagen ab. In der Hotelhalle erwarteten sie zwei Interviewer, vom »Chronicle« und von den »Daily News«. Sie saßen in Schaukelstühlen und rauchten dicke Zigarren. Marion erkundigte sich beim Portier, ob Post für sie da sei. Ja, es waren Briefe für Miss von Kammer gekommen. Sie sagte: »Thanks« und steckte sie zu sich. Erst mußte sie mit den Journalisten sprechen. Während sie, präzis und munter, Auskünfte gab, schielte sie auf die Couverts. Sie erkannte verschiedene europäische Marken. Aber erst ein paar Minuten später, im Lift, entdeckte sie, daß sie auch von Tullio eine Nachricht hatte. Dies war seine ungelenke, dabei stolz geschwungene, kindliche Schrift. Seit zehn oder zwölf Tagen war kein Lebenszeichen von ihm gekommen. Während der ersten Wochen ihrer Tournee hatte Marion fast an jeder Station einen Brief, mindestens ein Telegramm oder eine Karte von ihm gefunden. Meistens freilich waren es nur kurze, rhetorisch flüchtige Grüße und Beteuerungen gewesen: »Ich denke an Dich, meine Liebste! Wann kommst Du wieder? Seit vorgestern arbeite ich in einem anderen Hotel. Hast Du Erfolg? Vergiß Deinen Tullio nicht!!!«
Dann war er plötzlich verstummt; auch Depeschen