Schwankte unter ihnen nicht das Zimmer – diese nicht besonders saubere Hotelstube, nahe Pennsylvania Station – wie einst ein anderes Zimmer geschwankt hatte, an einer französischen Küste? Es schien ein Schiff auf hoher See zu sein – oder vielleicht nur ein kleiner Nachen. Wohin trug er sie? Gab es Ufer, jenseits dieser Gewässer, die sich unermeßlich breiteten? Und wenn es Ufer gab – hatte man Kraft genug, sie zu erreichen?
Gefahren – Gefahren überall … Oh, wir sind schon verloren …! Welche Schuld haben wir auf uns geladen, daß man uns zu solcher Strafe verdammt …? Marion und Tullio hatten den entsetzten Blick, als wäre ein Abgrund jäh vor ihnen aufgesprungen.
Aus dem Abgrund stiegen Feuerbrände, auch Qualm kam in dicken Schwaden, und Felsbrocken wurden emporgeschleudert. Es war der Krater eines Vulkans.
Hüte dich, Marion! Wage dich nicht gar zu sehr in die Nähe des Schlundes! Wenn das Feuer dein schönes Haar erfaßt, bist du verloren! Wenn einer der emporgeschleuderten Felsbrocken deine Stirne streift, bist du hin! Auch könnte es sein, daß du am Qualm elend ersticken mußt. Furchtbar ist der Vulkan. Das Feuer kennt keine Gnade. Ihr verbrennt, wenn ihr nicht sehr schlau und behutsam seid. Warum flieht ihr nicht? Oder wollt ihr verbrennen? Seid ihr versessen darauf, eure armen Leben zu opfern? – Aber ihr habt nur diese! Hütet sie wohl! Bewahrt euch! Wenn auch ihr im allgemeinen Brand ersticken solltet – niemand würde sich um euch kümmern, niemand dankte es euch, keine Träne fiele über euren Untergang. Ruhmlos – ruhmlos würdet ihr untergehen!
Da sprach Tullio die Worte, auf die Marion längst mit tausend Ängsten gewartet hatte. »Ich kann nicht bei dir bleiben, meine Geliebte.« – Sie fragte: »Warum nicht?« – so ruhig, als hätte er ihr mitgeteilt, daß er heute lieber ins Kino statt ins Museum wollte. Er redete pathetisch, den schönen dunklen Kopf in die starke Hand gestützt: »Weil mein Leben mich hier nicht befriedigt. Fenster putzen können auch andere. Ich habe Aufgaben, habe Pflichten! I know the whole trut! – Ich muß nach Europa, gegen fascismo arbeiten: in Italien, vielleicht auch in Deutschland. Ich muß kämpfen! Die Macht ist böse, überall erniedrigt sie den Menschen. Ich muß die Macht niederringen, den großen Drachen …« Und, die Stirne gesenkt, die Augen beinah geschlossen, wie geblendet von einem zu starken Licht, brachte er noch hervor: »Ich muß mich opfern … Es wird das Opfer verlangt …«
Wie kannte Marion diese Worte! Wie vertraut waren ihr diese Blicke, diese stolzen und verzweifelten Gesten! Der italienische Proletarier schien den Pariser Intellektuellen zu kopieren – und meinte es ernst und ehrlich wie dieser. ›Es wird das Opfer verlangt …‹ Dies ist nicht die Stunde des kleinen Glückes, und auch das große wird uns kaum gewährt. Die Welt will anders werden, sie windet sich in Krämpfen, das Böse hebt scheußlich mächtig das Haupt, wir werfen uns ihm entgegen, und wenn wir verbluten sollen an seinem Biß: Es wird das Opfer verlangt. Menschliche Bindungen, zarte Rücksicht auf die Geliebte kommen kaum in Frage: die Zeiten sind nicht danach. Wir umarmen uns, und das Glück ist heftig, weil es flüchtig bleibt. Leb wohl, und vergiß mich nicht! Wir sind Emigranten, du und ich, das Böse hat uns die Heimat gestohlen, die Heimatlosen kennen keine Treue. En somme, Madame, vous êtes sans patrie. Hatten Sie sich denn ein stilles Eheglück mit mir erwartet, chère Madame? Ich bin ein anarchistischer Fensterputzer. – Sie wußten doch, wem Sie sich hingaben, in diesem Hotelzimmer, wo es etwas übel riecht. Adieu, adieu: dieses ist Abschied – eine Realität; die Realität unseres Lebens.
Marion – an gewissen praktischen Details trotz allem interessiert – erkundigte sich: »Wann dachtest du denn zu reisen?« Seine Antwort war finster und allgemein gehalten. »Ich weiß noch nicht … Bald – nur zu bald … Vielleicht treffe ich meinen kleinen Bruder Luigi in Paris … Ich erwarte ein Telegramm … Ich muß auf einem Dampfer arbeiten, um nach Europa zu kommen – als Heizer oder als Kellner … Es kann bald sein – sehr bald …«
Zunächst aber war es Marion, die reiste. Ihre Tournee begann. Sie mußte für einen Damenklub in Philadelphia sprechen; den nächsten Tag für einen anderen in Baltimore; dann in Washington, Rochester, Buffalo, Detroit, Kansas City. Tullio begleitete sie zur Pennsylvania Station; sie kamen an dem Hotel vorbei, wo sie sich geliebt hatten, er hatte die Augen voll Tränen. Er verlangte: »Du mußt mir jeden Tag schreiben! Jeden Tag – nicht seltener – versprich mir das!« Er hob, mit mühsamer Schalkhaftigkeit, mahnend den Zeigefinger. »Ich muß doch immer wissen, was los mit dir ist!« sagte er noch. Seine eigenen Reisepläne erwähnte er nicht; nur vor der Trennung, die durch Marions Tournee verursacht wurde, schien er Angst zu haben. Eifrig wie ein Schulbub notierte er sich ihre Adressen; sie wechselten jeden Tag. Er sah rührend aus in seinem bescheidenen grauen Paletot, das mißfarbene, verwitterte runde Hütchen auf dem Kopf.
Er sah schön aus, sein Gesicht war schön gebildet, Marion liebte es, sein starkes, beinah wildes Gesicht, Marion schaute es an. Er schleppte den Koffer; sie hatte keinen Träger nehmen dürfen. Der Koffer war ziemlich schwer; Tullio keuchte. Sie schaute ihn an. »Adieu, Tullio! Mach’s gut!«
Sie ließ vor Nervosität ihr Täschchen fallen, es ging auf, Toilettegegenstände und Börse lagen auf dem Pflaster des Bahnsteiges. »Ich bin immer so ungeschickt!« Sie rang verzweifelt die Hände; ließ die Gelenke knacken. Da stand sie, eine lange, dünne, nervöse Dame in ihrem schwarzen Mantel; den kleinen Hut etwas unordentlich aufgesetzt; darunter kam das Purpurhaar hervor. Sie war nicht mehr völlig jung – nicht mehr neunzehnjährig war Marion, auch die Fünfundzwanzig hatte sie schon überschritten, und der dreißigste Geburtstag lag hinter ihr. Seht – um den leuchtenden, verführerischen Mund gab es schon scharfe Falten; auch um die schiefgestellten Katzenaugen ward dergleichen bemerkbar. Marion von Kammer – die Tochter der geborenen von Seydewitz; die Schwester Tillys, einer kleinen Selbstmörderin; die Witwe Marcels, eines Dichters und Soldaten; die Geliebte eines Fensterputzers: da stand sie, mit langen Beinen, zwischen den Augenbrauen einen angestrengten und gequälten Zug, im Mund die Lucky-Strike-Zigarette; schlenkerte mit ihren Handschuhen; wußte nicht, wohin mit ihren Händen – und sprach: »Adieu, Tullio! Vergiß mich nicht! Und leb wohl!«
Marion – wieder auf Tour: sie empfand es wie eine Heimkehr. Die Ruhelosigkeit war der vertraute Zustand und hatte fast beruhigende Wirkung. Wir sind Vagabunden, Zigeuner, total entwurzelt, heimatlos, sans patrie. ›Wo bin ich gerade jetzt?‹ dachte sie wieder wie damals, im Haag oder in Bratislava. ›Wo habe ich übernachtet? In einer Stadt namens Memphis oder in Chicago? Oder bin ich in einem Pullman car?‹
An die Pullman cars war sie bald gewöhnt. Erst hatte sie es beschwerlich gefunden, sich in den verhängten Betten, halb liegend, halb sitzend, an- und auszuziehen – man stieß mit dem Kopf gegen die niedrige Decke, es war unbequem, und ein eigenes Compartment konnte sie sich nicht leisten. Aber sie bekam schnell Routine. Nach einigen Reisetagen schienen ihr die amerikanischen Züge komfortabler als die europäischen. »Pullman Miles – Happy Miles!« – las sie auf den bunten Plakaten, die vor der Damentoilette hingen. Sie gab dem Reklametext beinah recht. Unterwegs fühlte sie sich am wohlsten.
Denn die Aufenthalte waren strapaziös. Anstrengender als die Vortragsabende waren die Interviews und die Geselligkeiten. Mit vielen Menschen mußte Marion plaudern, und sie hatte immer gut in Form zu sein. Die Klubdamen, die Journalisten, die Professoren, Studenten, jungen Mädchen – alle baten: »Tell us something about Germany! How is it possible …?« – Und dann half ihr kein Gott: erzählt sollte werden … Es war Teil ihrer Arbeit, es gehörte zu ihren Pflichten.
Übrigens sprach und berichtete sie nicht ohne Vergnügen. Der Wille aller dieser Menschen, sich zu unterrichten, war mehr als träge Neugier; er war rührend und beinah tröstlich. Die Fragen selber wirkten oft naiv und ahnungslos: »Warum mag Herr Hitler die Juden nicht?