Alles war ihm beschwerlich. Das Essen – in Cafeterias oder »Drugstores« auf hohen Barstühlen oder im Stehen hastig eingenommen – schmeckte ihm nicht. (›Bohnen zum Fisch, Bananen mit Mayonnaise, Apfelkuchen mit Käse, Eiswasser zum Kaffee und Kaffee zur Suppe – wer hält denn das aus!‹ dachte er grimmig.) Die süßlich scharfen Zigaretten verursachten ihm Hustenreiz; der Whisky machte ihn krank; die Jazzmusik, die überall aus den Radioapparaten lärmte, ging ihm auf die Nerven; er fürchtete sich vor allem, sogar vor den Zeitungen mit ihren ewig sensationellen, immer schreienden Überschriften und ganz besonders vor den dicken Sonntagsnummern, an denen man schleppte wie an einer Last. Er fühlte sich so elend, daß er tagelang das Bett hütete: ›Es muß eine Grippe sein, Halsschmerzen habe ich auch, wahrscheinlich etwas Fieber, sicher kommt es von dem feuchten Klima.‹ Er ließ sich, um die Höhe seiner Temperatur festzustellen, ein Thermometer aus dem Drugstore kommen; aber selbst das medizinische Instrument erwies sich als bösartig-fremd. Es funkelte tückisch-munter; die Zahlen schienen zunächst unleserlich, als er sie dann schließlich doch herausbekam, entsetzte er sich über ihre Höhe: hundertdrei, hundertvier – was sollte denn das bedeuten? Mußten denn hier alle europäischen Maße überboten werden?
Er hatte drei Wochen für New York zur Verfügung gehabt, ehe er nach dem Mittelwesten abreisen mußte, um seine Tätigkeit an der kleinen Universität zu beginnen. Drei Wochen – eine lange Zeit, und sie war langsam vergangen. Nun aber waren es nur noch etliche Tage, die blieben. Sorgenvoll und pedantisch sagte sich der Professor: ›Ich habe noch zu wenig von der Stadt gesehen. Ich muß etwas unternehmen.‹
Man hatte ihm, in Europa, die Aussicht gerühmt, die von einem der höchsten Gebäude New Yorks, dem Rockefeller Center, zu genießen war. ›Das ließe sich probieren!‹ beschloß Benjamin. ›Aus der Vogelperspektive wirkt alles besser; die Fahrt zum hohen Dach kostet nur vierzig Cents, ich riskiere es, ich wage mich in den Lift.‹
Als der Aufzug ihn in rasender Geschwindigkeit nach oben trug, bereute er schon bitterlich sein Unternehmen. Ihm wurde übel, in den Ohren sauste es fürchterlich, er fühlte sich nah einer Ohnmacht. ›Der menschliche Organismus ist für solche Abenteuer, für Geschwindigkeitsexzesse dieser Art nicht geschaffen‹, konnte er gerade noch denken. ›So viel darf einem nicht zugemutet werden. Die Zivilisation schlägt ins Barbarische um …‹ Da hielt der Elevator mit einem Ruck. – Von der Aussicht hatte Benjamin so gut wie nichts: teils, weil er den Himmelfahrtsschock noch nicht überwunden hatte; teils, weil der steile Blick in die Tiefe ihn neuerdings schwindlig machte.
Auch abends, in der »Musical Show« am Broadway, die er aus purem Pflichtgefühl besuchte, fühlte er sich nicht gut. Er verstand die Witze nicht, über die alle so herzlich lachten; die Girls langweilten ihn, die gellende Musik tat seinen Ohren weh, die Sentimentalität der Liebesszenen war ihm peinlich, und nur einmal, gegen Schluß der Komödie, mußte er etwas kichern: eine respektlose Bemerkung über den deutschen »Führer« war vorgekommen. Er saß im Parkett zwischen den gutgelaunten Menschen – ein einsamer Fremder, wie immer; ein Außenseiter wie eh und je – und sein kleines Gelächter war von solcher Art, daß es nicht so bald wieder aufhören wollte. Es schüttelte ihn, es verzerrte die Züge, tat weh; es war nicht harmlos, nicht froh; ein nervöser Lachkrampf – die Nachbarn schauten ihn verwundert an. Was ist das für ein sonderbarer Mann – von gedrungenem Körperbau, mit hoher Stirne, grüblerischen Augen – der dort alleine sitzt und kichert wie ein hysterischer Backfisch?
Es war kein gutes Gelächter gewesen; aber es hatte seine Stimmung doch verbessert. Warum sollte er jetzt gleich nach Hause gehen? Man könnte noch ein bißchen am Times Square schlendern … Zum ersten Mal gefiel ihm das wirbelnde Spiel der kreisenden, tanzenden, sich auflösenden und eilig neu formierenden Lichtreklamen. ›Eine Schönheit – auch dies!‹ empfand der Professor aus Bonn. ›Eine neue Schönheit, vielleicht. Man muß sich gewöhnen; muß sich empfänglich machen für neue Werte und Reize, da man die alten verliert … Man muß Spaß verstehen, viel Spaß …‹
Er trank in einer überfüllten Bar zwei Whiskys. Ein Besoffener legte ihm den Arm um die Schulter; er ließ es sich, etwas ängstlich, gefallen. Der Besoffene sagte: »You have such a nice face, Doc! Such a funny continental face! I like you. Have a drink with me. What do you drink? – Tell me!« insistierte er, schon beinah zornig – weil Benjamin nur gequält lächelte – »What do you drink? – After all, you must drink something!« – Benjamin mußte einen dritten Whisky schlucken. Es war reichlich für ihn. Immerhin gab es ihm den Mut, eines jener Tanzlokale zu betreten, die sich so verlockend als »Parisian Dancing« plakatierten. Schon seit längerem war er neugierig, zu erfahren, was diese Etablissements im ersten Stock, die so einladend und etwas verdächtig wirkten, zu bieten hatten.
Der Tanzplatz war durch eine niedrige Barriere vom Lokal, in dem die Tische standen, abgetrennt. Es gab nur wenige Gäste; die meisten Mädchen schienen unbeschäftigt. Als Abel eintrat, drängten sie sich an die Barriere, wie Tiere im Zoologischen Garten sich ans Gitter drängen, wenn jemand mit Futter sich naht. War es ihnen verboten, das eingezäunte Tanz-Bassin zu verlassen? Waren sie eingekerkert auf dieser engen Fläche schmutzigen Parketts? – Dem Professor wurde unheimlich zumute. »Tanz mit mir!« bettelten die Mädchen. Sie hatten merkwürdig flache, klirrende Stimmen, wie Automaten; sie hoben die Arme, schüttelten die gespreizten Hände, die bunten Gesichter, das gelockte Haar; auch die weichen Körper in den armen, bunten Flitterkleidern schüttelten sie.
Die Minuten, die man tanzend verbrachte, wurden gezählt; jede Tanzminute kostete zwei Cents. Wenn das Orchester zu spielen aufhörte, mußte man zahlen. Übrigens gaben sich die Mädchen redliche Mühe, scheuten keine Anstrengung und keinen Trick, um den Tanz für ihre Kavaliere amüsant und lohnend zu gestalten.
Benjamin setzte sich an einen Tisch und bestellte Kaffee. Er beobachtete einen alten, hageren Mann, der ein hübsches brünettes Mädchen führte; sie waren das einzige Paar auf der Fläche. Der Mann hatte ein heuchlerisches Pfaffengesicht – ›so spielen Schmierenschauspieler den Tartuffe‹, dachte Benjamin. Die Augen verschwanden hinter den spiegelnden Gläsern eines großen Zwickers. Das Mädchen sah todmüde und ungewöhnlich gelangweilt aus. Zwischen den rasierten Augenbrauen stand ein kleiner Zug von Ekel, während die gefärbten Lippen das mechanische Lächeln hielten. Übrigens war sie reizend; der schmale Körper, verführerisch unter der enganliegenden schwarzen Seide des Kleidchens – und auf dem schmalen Hals, das Gesichtchen blütenhaft zart – ›wahrscheinlich hat sie exotisches Blut‹, dachte Benjamin. ›Von einer Südseeinsel könnte sie sein, sie gefällt mir.‹
Er ärgerte sich, weil der heuchlerische Alte eine so unanständige Art zu tanzen hatte. Das war ja scheußlich, wie er sich benahm; als Tanz könnte man diese unzüchtig schiebenden, wackelnden Bewegungen kaum noch bezeichnen; es war die nackte und groteske Obszönität – welch ein schamloser Alter! Benjamin war gebannt und angewidert von solchem Schauspiel.
Eine starke Blonde hatte sich neben ihm niedergelassen: er bemerkte es erst, als er von ihr am Ärmel gezupft ward. Es stellte sich heraus, daß sie Deutsche war – Rheinländerin – er mußte Bier für sie kommen lassen, sie hob das Glas, sagte: »Pröstchen« und scheute nicht davor zurück, ihn »Onkelchen« zu nennen. »Ich heiße Anni«, erklärte sie siegesgewiß, »die lustige Anni aus Köln!« Sie hatte keine Augenbrauen, schönes blondes Haar, einen zu großen Busen und ein blödes Lachen. Benjamin fragte sie, ob sie das exotische Mädchen kenne, das vorhin mit dem obszönen Alten getanzt hatte. Die frohe Anni lächelte säuerlich. »Och – das ist also dein Typ, Onkelchen«, machte sie, halb neckisch, halb verdrossen. Sie holte das Mädchen heran, die Kleine war aus Los Angeles, Benjamin schaute sie an. Aus der Nähe betrachtet, war die Farbe des Gesichtes und der schön geformten Arme etwas gelblich; in den langen, schimmernden Augen aber, die sowohl schwermütig als auch listig blickten, gab es goldene Lichter. Der Professor empfand: ›In die könnte ich mich verlieben.‹ Er hatte drei Whiskys gehabt. Sie sagte: »Meine Mutter ist aus Honolulu. Kennst du die Lieder von Honolulu? Schöne Lieder. Meine Mutter hat mir gezeigt, wie man tanzen muß, damit es den Männern Spaß macht. Ich kann es gut, der Alte hat mir einen Dollar extra geschenkt, ich gehe morgen ins Kino, Gary Cooper, der gefällt mir am besten, wenn ich mit dem einmal tanzen dürfte …«
Man