Ganz entschieden: die Reise war kein Vergnügen. Das Schiff kam Marion wie ein luxuriöser Käfig vor; es wurde enervierend und quälend, jeden Tag die gleichen, gelangweilten Mienen zu sehen; die langen Mahlzeiten, die stumpfsinnigen Deckpromenaden, sogar das Pingpongspiel – alles wurde zur Marter. Sie freute sich auf die Ankunft wie ein Kind auf Weihnachten. Sie freute sich auf New York. Gierig las sie in der Reklamebroschüre, die man in den Kabinen verteilte:
»New York est la ville gigantesque, elle s’est développée entre deux rivières, en remontant tous les dix ans vingt rues dans le nord, de telle sorte que maintenant, de la Battery à Bronx, il y a trente kilomètres de maisons. Avec ses cinq ›boroughs‹, Bronx, Brooklyn, Queens, Manhattan et Richmond, New York est un véritable monde. – Désormais, vous sentirez toujours de l’autre côté de l’océan frémir, trépider, peser cette prolifération inouïe, cette formidable masse de monuments inimaginables abritant une agglomération d’humanité sans pareille …«
Die Ankunft hatte festlichen Charakter. Marions Agent war zur Stelle: ein munterer Herr und äußerst zuversichtlich, was Marions Chancen »in this country« betraf. Auch einige Journalisten hatten sich eingefunden, auf Veranlassung des Agenten: sie mußte ihnen erzählen, warum sie nicht in Deutschland leben mochte; ob ihr Vater, der berühmte Arzt, den Kaiser gekannt habe; ob ihr verstorbener Gatte ein hoher Offizier in Spanien und Mitglied der Académie française gewesen sei, und wie ihr New York gefalle. »How do you like New York?« Sie versicherte: »I am sure I will love it …« – und sie meinte es ernst.
Sie fühlte sich gleich zu Hause in der ungeheuren Stadt – ville gigantesque, Gigantenstadt, Überstadt, Stadt der Städte, monströse Siedlung, überdimensional, von enormer Häßlichkeit, enormer Schönheit, verwirrend, lähmend, bedrückend, erheiternd. Marion sagte sich jeden Morgen beim Aufwachen: ›Jetzt lebe ich in New York. Paris liegt hinter mir; hinter mir: Zürich, Amsterdam und Prag. Die Gegenwart heißt New York. Alles andere muß Erinnerung sein – und vielleicht auch Zukunft. Wenn ich New York nicht lieben würde: ich müßte mich dazu zwingen, es zu lieben. Aber es gefällt mir; es gefällt mir wirklich …‹
Das kleine Hotel, 39. Street, zwischen Lexington und Park Avenue, hatte man ihr in Paris empfohlen. Ihr Zimmer ging auf den Hof und war dunkel, aber nicht ohne eine gewisse Behaglichkeit. Sie saß gerne unten in der Bar und plauderte mit dem Mixer, Monsieur Gaston, einem Franzosen. Der Raum sah sauber und lustig aus, mit großen Spiegeln hinter der Theke und Möbeln, deren Lederbezüge rot leuchteten – »beinah wie in Paris …« sagte Marion und ertappte sich zu ihrem Ärger dabei, daß sie doch ein klein wenig Sehnsucht und Heimweh hatte nach dem, was hinter ihr lag und nur Vergangenheit war, oder vielleicht Zukunft … Monsieur Gaston, ein charmanter, welterfahrener Geselle, erzählte ihr mancherlei; zum Beispiel Geschichten über seine Gäste und ihre Schicksale. »In diesem Sommer«, sagte er, »als wir es so sehr heiß in New York hatten, saß jeden Tag ein deutscher Professor an meiner Bar – ein sehr feiner Herr, aber so traurig! Er konnte sich gar nicht hier einleben und hatte ein betrübtes Gesicht! Pauvre type. Ja, für einen gebildeten Herrn muß es schwer sein, sich in neuen Verhältnissen zurechtzufinden …« – Marion meinte: »Wie kann es jemandem in New York nicht gefallen? Es ist doch wunderbar hier!« – »Madame haben eben mehr Lebensmut als der Professor«, sagte der erfahrene Gaston.
Sie bekam bald heraus, daß manches, was man in Europa über New York erzählte, schierer Unsinn war. Das berühmte »amerikanische Tempo« zum Beispiel – in Berlin hatte man es vielleicht, etwas krampfhafterweise, gehabt; hier indessen suchte man es vergeblich. Die Stadt war eher gemütlich, bei all ihrem Riesenmaß. Den gehetzten Eindruck machten die kürzlich eingetroffenen Europäer, die gierig waren, sich dem eingebildeten »amerikanischen Tempo« anzupassen und rapide vorwärtszukommen – was sie sich gerade durch ihre Hast und die hysterische Gespanntheit ihres Egoismus erschwerten. Die Amerikaner ließen sich durchaus Zeit: Marion stellte es, erstaunt sowohl als befriedigt, fest. Manchmal wunderte sie sich über ihre eigene Ungeduld, das nervöse Bedürfnis nach Geschwindigkeit. Den Amerikanern, die im Hotel wohnten, schien es kaum etwas auszumachen, wenn sie mehrere Minuten lang auf den Lift warten mußten – wie es häufig geschah. Marion aber verlor die Nerven. Sie klingelte heftig, und da der »Elevator« noch immer nicht kam, suchte sie nach der Treppe; schließlich konnte man vom fünften Stockwerk ja auch zu Fuß in die Halle gelangen. Die Treppe aber war zunächst unauffindbar; sie schien zur Benutzung für die Gäste überhaupt nicht bestimmt. Endlich fand Marion die versteckte Tür. Das Treppenhaus war eng und lag fast im Dunkel. Es roch modrig hier, wie in Räumen, die man nur selten betritt: die Treppe war ein abgestorbenes Glied des lebendigen Hauses.
Marion, die vergessen wollte – die gar zuviel zu vergessen hatte – stürzte sich fieberhaft auf die neuen Eindrücke, auf die neuen Menschen. Alles interessierte sie, alles machte Spaß: die rasende Fahrt im Lift, die Wolkenkratzer empor bis zum Aussichtspunkt auf dem Dach – man bekam etwas Ohrensausen und Magenweh; aber es war doch schön – der enorme Rundblick über die unermeßlich gebreitete Stadt – gewaltige Landschaft: wild zerklüftet, wie das Hochgebirge; weit, ruhend und ewig bewegt, wie das Meer. Ihr schmeckten die geschwinden Mahlzeiten in den Cafeterias, den Automatenbuffets, auf hohen Barstühlen oder im Stehen hastig eingenommen; sie mochte das zugleich scharfe und süße, kräftige Aroma der amerikanischen Zigaretten – Chesterfields, Camels, Lucky Strikes. Sie amüsierte sich über die Zeitungen, vor allem über die fetten Sonntagsausgaben mit ihren unendlichen Beilagen: Sport, Film, Broadwaytheater, Hollywoodklatsch, Börse, Karikaturenserien, Berichte aus dem »Gesellschaftsleben« – wie komisch waren die eitlen Mienen der mondänen »Debütantinnen« und die ernsthaften Beschreibungen der Abendkleider, die sie getragen hatten! – Sie liebte die Jazzmusik und die munter vorgebrachten kleinen Reden, die fast ohne Unterbrechung aus dem Radio kamen, und sie liebte sogar das Wetter: dieses geschwind und heftig wechselnde, von einem Extrem ins andere jäh umschlagende, grausame und lustige Wetter der Stadt New York. An manchen Tagen war die Luft mit Elektrizität so geladen, daß man kleine Schläge empfing bei der Berührung von metallischen Gegenständen. Die seidene Wäsche knisterte und klebte am Körper, und wenn man einem Menschen die Hand gab, sprühten Funken: es war etwas unheimlich und sehr amüsant.
Anfangs schienen sogar die Cocktailparties in der Park Avenue unterhaltend; der Manager bestand darauf, daß Marion sich in der »Gesellschaft« bemerkbar mache. Allmählich ward der Umgang mit den Reichen ermüdend. Marion hatte ein Grauen vor dem Konventionellen – vielleicht weil ihre Mutter, die geborene von Seydewitz, gar zu lange Meisterin in der Kunst der floskelhaften Konversation gewesen war. In den Salons der »society«-Damen wurde jedes spontane Wort wie eine Obszönität vermieden. Das Spiel der Fragen und Antworten funktionierte mechanisch und starr; niemand interessierte sich für die Worte des anderen, alle Worte waren inhaltslos.
Marion hatte Stunden tiefer Niedergeschlagenheit. Der erste Enthusiasmus war abgenutzt und verbraucht; das Herz füllte sich mit Bangigkeit und Langeweile.
Sie saß am Schreibtisch, sie versuchte, irgend etwas zustande zu bringen – einen Brief oder ein paar Notizen zu ihrem Vortrag. Die Hände blieben wie gelähmt auf den Tasten der Schreibmaschine liegen.
Das summende Geräusch des elektrischen Eisschrankes störte sie. Alles störte und alles tat weh. Sie ging durchs Zimmer; ließ sich auf dem breiten Fensterbrett nieder; es war glühend heiß von der Zentralheizung. Die Hitze im Raum war fast unerträglich; jetzt erst fiel es ihr auf. Der Heizkörper war hinter einem weiß lackierten Gitter versteckt; sie fand den Griff nicht, durch den die Hitze sich hätte abstellen lassen. Das Fenster immerhin konnte man öffnen, wenngleich nicht ganz ohne Schwierigkeiten. Es war ein Schiebefenster, und die Kraft, die man brauchte, um es in die Höhe zu bringen, war bedeutend. Marion strengte sich tapfer an; plagte sich schnaufend; schließlich kam die kalte Luft herein. Während Marion aber noch die Kühlung dankbar genoß, senkte sie auch schon – zum wievielten Male enttäuscht? – die Stirn vor dieser trostlosen Aussicht. Was war zu sehen? Nur der kahle Baum vor der roten Mauer, an der die Zickzacklinie einer schwarzen Feuertreppe nach oben führte. Kein Himmel – ach, kein Himmel,