Dies schrieb er, in umständlicher und pathetischer Form. Er betonte: »Ich werde Dich immer lieben!« Vergaß indessen nicht, grausam hinzuzufügen: »Du verlierst mich, ich verschwinde aus Deinem Leben, zwischen uns ist es aus.« In hochtrabenden und konfusen Worten ließ er wissen, daß er nach Europa fahre, nächster Tage schon. »Ich arbeite als Kellner auf einem Schiff. In Europa aber will ich kämpfen.« Wo kämpfen? Gegen wen kämpfen? Er erklärte es nicht. Aber Marion wußte es ja. Sie hatte noch seine Worte im Ohr: »Die Macht ist böse, überall erniedrigt sie den Menschen. Ich muß die Macht niederringen, den großen Drachen …« Und weiter – die Stirne gesenkt, die Augen beinah geschlossen, wie geblendet von einem zu starken Licht: »Ich muß mich opfern … Es wird das Opfer verlangt …«
Oh, diese Knaben, diese Soldaten, diese grausamen Märtyrer! – kindlich gierig alle nach dem Opfertod, und so schnell bereit, ihm alles zu opfern: das eigene Leben, samt dem Leben der anderen. – Marion, die Witwe Marcels – noch einmal verlassen, von ihrem italienischen Fensterputzer; Witwe zum zweiten Mal, alte Kriegerwitwe, erfahren in Abschiedsschmerzen, geübt im großen Adieu; Marion, unermüdliche Jungfrau von Orléans am Vortragspult; siegesgewisse Kämpferin; bewährte Trösterin; ermunterndes Beispiel für viele – seht, sie weint! Schaut hin: sie vergießt nochmals Tränen; in einem Schaukelstuhl sitzend, den sie von der heißen Zentralheizung weggerückt hat; an einem Schreibtisch, auf dem die Bibel und das Telefonbuch liegen; im Reisemantel, kleinen schwarzen Hut auf der Purpurmähne; irgendwo im Mittelwesten der USA – sie weiß kaum, in welcher Stadt – so kauert sie, die Knie hochgezogen, das Gesicht in die mageren Hände geworfen, und gönnt sich ein kleines Schluchzen. Die Koffer liegen noch auf dem Bett. Sie sollte auspacken; muß das Abendkleid bügeln lassen. In zwei Stunden wird das Telefon läuten: »Mrs. Piggins is in the lobby …« Mrs. Piggins ist der Klubvorstand, sie wird die Künstlerin zum Vortrag abholen; Marion muß baden, sich erfrischen, das Gesicht zurechtmachen, reichlich Rouge auflegen, sie sieht scheußlich aus – blaß und mager, und dazu die verheulten Augen.
›O Tullio – Tullio: warum? Wozu dieses Pathos, diese leeren Schwüre, aufgeregten Gesten? Wir hätten miteinander leben sollen. Ach, ihr scheut alle die unsägliche, lange, süße Mühe des Lebens! Der eigentlichen Verpflichtung weicht ihr alle aus! Ihr großen Helden, meine armen Brüder – warum bevorzugt ihr die leichten, schnellen, tödlichen Triumphe …? Mir ist übel. Wovon ist mir übel? Die ganzen letzten Tage ist mir nicht gut gewesen. Was ist mit mir?
Was ist mit mir, Tullio?‹
Tullio – stürmischer Liebhaber; Anarchist und verkanntes Genie; jetzt wohl schon als Steward auf hoher See amtierend – Tullio, der Überschwengliche und Ungetreue, hörte die Frage nicht. Marion zog es vor, sich selbst die Antwort heute noch zu ersparen; sie hinauszuschieben, noch ein wenig offenzulassen. – Um sich auf andere Gedanken zu bringen, las sie, mit feuchten Augen, ihre europäische Post.
Frau von Kammer, die geborene von Seydewitz, hatte geschrieben. Früher waren Mamas floskelhaft kühle Briefe für Marion eine Peinlichkeit gewesen; jetzt bedeuteten sie große Freude. Die Mutter schrieb gescheit und herzlich; nicht ohne Humor, trotz einem gewissen Unterton von Schwermut. Auch hatte sie viel zu erzählen. Die kleine Susanne hatte sich verlobt – berichtete Frau von Kammer. »Sie scheint glücklich zu sein; das ist natürlich die Hauptsache. Unter uns gesagt: ich finde den Kerl ziemlich unausstehlich. Er ist aus einer guten preußischen Familie; sein Großvater war mit meinem armen Papa befreundet. Wahrscheinlich ist es eine Art Gnade von ihm, daß er ein Mädchen ohne Geld und mit nicht rein arischem Blut zur Frau nimmt. Susanne will mit ihm nach Berlin ziehen. Dort soll auch die Hochzeit sein. Du kannst Dir vorstellen, liebe Marion, daß ich nicht gerade sehr entzückt von all dem bin … In ungefähr vier Wochen wird Susanne also Frau von Mackensen heißen.«
Die zweite Neuigkeit war noch wesentlich interessanter. Marie-Luise hatte sich dazu entschlossen, eine Pension zu eröffnen: »mit meiner Freundin Tilly zusammen!« – Frau Tibori hatte etwas Geld aus Hollywood mitgebracht. Für den Anfang war es reichlich genug. Die beiden Damen hatten eine große, hübsche Villa am Zürichberg gefunden: relativ billig und wie gemacht für eine nette Familienpension. »Den guten Ottingers – Du weißt: Tillys prachtvollen alten Freunden – habe ich eigentlich alles zu danken. Ohne deren Einfluß, den sie so lieb für mich verwendet haben, hätte ich die Erlaubnis nie bekommen können. Am 1. Januar machen wir auf. Du kannst Dir vorstellen: ich habe alle Hände voll zu tun und bin mächtig aufgeregt. Es haben sich ziemlich viel Gäste angemeldet; Schweizer und Emigranten. Man soll es gut bei uns haben, unsere Köchin ist ausgezeichnet, und ich will versuchen, die Preise möglichst niedrig zu halten. So viele Menschen, die jetzt aus Deutschland kommen, haben doch gar kein Heim und wissen überhaupt nicht, wohin mit sich. Ich habe wirklich den Ehrgeiz, ihnen etwas zu bieten, was mit der Zeit beinah ein Ersatz für das Verlorene werden könnte …«
Wer hätte dergleichen von Mama erwartet? Sie war starr gewesen – nicht eigentlich lieblos, vielleicht aber doch unfähig, Gefühle mitzuteilen und zu aktivieren. Mit ihren Töchtern hatte sie wie eine distinguierte Fremde verkehrt. Eine von ihnen war in den Tod gegangen – die süße Tilly hatte sich auf und davon gemacht, war eingeschrumpft, sehr hold und klein geworden; entrückt, entschwunden … Ein plumper Unglücksbote hatte der Mutter den Abschiedsbrief überreicht: da war, durch die Kraft der Tränen, eine Rinde um ihr Herz geschmolzen.
Nun wollte sie also eine Pension eröffnen, mit ihrer Freundin Tilla zusammen. ›Gute Mama!‹ dachte Marion gerührt. ›Der erste Januar – das ist ja schon in neun Tagen. Der erste Januar 1938 …‹
Dann las sie die anderen Briefe.
Eine Nachricht von Madame Rubinstein aus Paris – dies war überraschend; denn die Beziehungen zwischen Marion und Anna Nikolajewna hatten sich, während der letzten Jahre, eher abgekühlt. Nun ließ die russische Freundin wieder einmal von sich hören, weil sie unglücklich und sehr einsam war. Ihr Gatte, Monsieur Rubinstein, war gestorben. »Mon pauvre Léon est mort«, berichtete sie in ihrer altmodisch feinen und genauen Schrift. »Für ihn bedeutet es wohl eine Erlösung; er war immer melancholischer geworden, das Heimweh machte ihn krank, ganz abgesehen von seinem quälenden Nierenleiden.«
Marion erinnerte sich des aufgeschwemmten, grauen und porösen Gesichtes – des irdischen Antlitzes des Herrn Léon Rubinstein. Nun war es also zerfallen. Die Verwesung hatte leichte Arbeit mit ihm gehabt; es hatte stets etwas verwest gewirkt … »Während seiner letzten Stunden hat er nur von Mütterchen Rußland gesprochen«, schrieb Anna Nikolajewna. »›Jetzt darf ich endlich heimkehren‹ – hat er immer wieder gesagt.«
»Man soll die Heimat nicht aufgeben, sie ist unersetzlich.« – Marion hörte wieder die Stimme ihrer alten Freundin. Sie sah das enge, überfüllte Zimmer – den Samowar, die Nippes-Sachen, die Souvenirs, die ausgestopften Tiere. – »Man kehrt nicht zurück. Wer sich von der Heimat löst, hat es für immer getan.« Dies waren die furchtbaren Worte Anna Nikolajewnas gewesen.
Die kleine Germaine aber – das trotzig-ernsthafte Kind – war zurückgekehrt: auch dies erfuhr Marion, und Madame Rubinstein klagte: »Ich habe also keinen Menschen mehr!« Ihr Töchterchen hatte sich in Moskau niedergelassen und Arbeit in einem Modesalon gefunden. »Erstaunlich genug« – wie die verlassene Mutter bemerkte – »man scheint sich in Sowjetrußland neuerdings für elegante Damenkleidung zu interessieren. Germaine schreibt mir, daß die Frauen in Moskau sich schminken wie die Pariserinnen – wenn auch weniger geschickt. Das Kind scheint sich wohl zu fühlen. Zu Anfang kam ihr wohl alles in der fremden Heimat etwas seltsam vor; aber allmählich gewöhnt sie sich. Neuerdings ist ein Flirt zwischen ihr und einem jungen Ingenieur aus Kiew im Gange. Nun, man wird sehen, ob sich etwas Ernsthaftes daraus entwickelt … Wenn Germaine in Rußland heiraten sollte, werde ich sie für immer verlieren. Ich kann nicht dorthin zurück. Ich werde in Paris sterben, wie mon pauvre Léon.«
Marion dachte: ›Viel Schicksal ist diesen Briefen anvertraut worden, die auf der »Normandie« oder der »Queen Mary« eilig über den Ozean geschwommen sind. – Was für Neuigkeiten weiß Theo Hummler? Laß sehen!‹
Hummlers Epistel hatte trocken informativen Charakter. Sie enthielt Mitteilungen über den Fortgang der politischen