Marion examinierte ihn weiter: »Und für den Faschismus haben Sie gar nichts übrig?«
Der Junge wurde sehr böse. »Aber natürlich nicht! Wie können Sie so etwas fragen? – Ganz und gar nichts habe ich für fascismo übrig! – Ach, wer weiß denn«, rief er mit Jammertönen, »wie miserabel, wie trostlos, wie ekelhaft die Verhältnisse in Italien sind! Niemand darf den Mund auftun. Niemand ist seines Lebens sicher.« Dabei hatte er ein theatralisches Gebärdenspiel, das die Gefahr schildern zu sollen schien, in der sich jeder Italiener befand und vor der es beinah kein Entrinnen gab. »Außerdem kann man dort nichts verdienen«, fügte er trockener hinzu. »Die Geschäfte gehen schlecht. Und die jungen Leute werden irgendwohin in den Krieg geschickt, nach Abessinien oder nach Spanien. – Mich aber können sie nicht verschicken«, konstatierte er stolz. »Ich bin amerikanischer Bürger.«
Später forschte er, etwas ängstlich: »Sie sind wohl Deutsche?« Sie lachte: »Man scheint es meinem Akzent anzumerken …« Er versicherte galant: »Gar nicht! Ihr Englisch ist ausgezeichnet. Aber ich habe die deutschen Bücher auf Ihrem Tisch gesehen.« – »Ja, ich lese noch deutsche Bücher.« Marion sprach leiser, lachte nicht mehr und wendete ihr Gesicht ab, als ob sie sich etwas schämte. »Aber ich bin lange nicht in Deutschland gewesen«, fügte sie rasch hinzu. – »Warum denn nicht?« fragte er, halb lustig, halb lauernd. »Sind Sie vielleicht auch nicht ganz einverstanden mit Ihrem fascismo? Ihrem Nationalsozialismus – wie man die miserable berliner Kopie einer schlechten römischen Erfindung wohl nennt?«
Nun mußte sie wieder lachen. »Nein – mit den Nazis bin ich auch nicht einverstanden.« – Sie begannen um die Wette zu schimpfen: jeder schimpfte auf den Diktator seines Landes und suchte zu beweisen, daß er der Schlimmere, der unvergleichbar Arge sei. Es war ein pervertierter nationaler Ehrgeiz, von dem sie beide besessen schienen – die »ausgebürgerte« Deutsche mit dem französischen Paß und der emigrierte Italiener, der amerikanischer Bürger war – in einem New Yorker Hotelzimmer stritten sie sich darüber, welche von ihren Regierungen abscheulicher war. Der Junge aus Bari hatte das letzte Wort. »Es mag ja sein, daß Ihr Hitler noch mehr Unheil angerichtet hat als unser Mussolini. Aber il Duce hat angefangen! – das muß man ihm lassen. Ohne Benito – kein Adolf!« Er lachte triumphierend, ließ die Zähne schimmern, warf kühn den Kopf in den Nacken und sah herrlich aus – wie ein junger Gott.
Das Telefon läutete; der Fensterputzer wurde in ein anderes Zimmer befohlen. Eilig packte er seine Sachen. »Ich habe mich schon zu lang hier aufgehalten. Es wird Krach geben …«
Am nächsten Morgen war er wieder da – »um den Fußboden schön blank zu machen!« – wie er übermütig sagte. Marion hatte ihn erwartet. Sie sprachen wieder, und sie schauten sich an. Diesmal sagte er ihr seinen Namen – den ihren wußte er schon; er hatte sich beim Portier erkundigt. Er hieß Tullio Rossi und wohnte bei einer verheirateten Schwester in Brooklyn. »Ich spare Geld«, sagte er, »um meinen kleinen Bruder aus Bari hierher kommen zu lassen. Er ist siebzehn Jahre alt. Was soll er denn in Italien? Il Duce würde ihn in irgendeinen Krieg schicken. Soll er fascismo helfen, Tunis oder Nizza zu erobern – damit noch mehr Menschen unglücklich werden?« Er holte die Photographie des Siebzehnjährigen aus der Tasche. »Ist er nicht hübsch?« Dabei zeigte er lächelnd den Glanz seiner Zähne. »Mein hübscher kleiner Bruder heißt Luigi.« Er reckte sich auf die stolze und theatralische Art, als ob der Umstand, daß seines kleinen Bruders Name Luigi war, ihn besonders selbstbewußt und fröhlich stimmte.
Er war glänzender Laune; zärtlich und überschwenglich. »Heute ist ein guter Tag!« rief er aus. »Ein ganz hervorragender Tag, ich habe es gleich beim Aufstehen gespürt. Kein Tag gleicht dem anderen – haben Sie das auch schon bemerkt? Es gibt gute und schlechte. Heute ist also ein besonders guter. – Ja, ich kenne das Leben!« Er schlug sich mit der Faust an die Brust, sehr vergnügt über seine Lebenskenntnis im allgemeinen und über diesen guten Tag im besonderen. »Tullio kennt das Leben! Tullio weiß Bescheid!«
Beim Abschied aber bekam er wieder die finsteren Augen. »Nun ist das Zimmer sauber«, stellte er fest und schickte einen drohenden Blick durch den Raum. Etwas sinnlos fügte er hinzu: »Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan. Der Mohr kann gehen …« – Marion aber fragte einfach: »Wann treffen wir uns? Und wo?«
Er schaute sie lange an, aus seinen hellen, heftigen Augen, die so schnell die Farbe wechselten. Er fand, sie war schön – zu schön, am Ende, für den armen Tullio aus Bari. Aber würde er denn immer der arme Tullio sein? Er war zu Großem bestimmt; würde herrliche Verse schreiben wie auch Theaterstücke und politische Manifeste. Er wollte sich würdig erweisen dieser sehr schönen Frau, die ihm jetzt ein Rendezvous vorschlug, als ob das gar nichts wäre. Die lockige Fülle ihres Haars hatte Purpurschimmer. Und wie siegesbewußt trug sie den kleinen Kopf! – Für Tullios Geschmack war sie ein wenig zu mager, vor allem was den sehnigen Hals und die langen, unruhig muskulösen Hände betraf. Aber er bewunderte ihren großen, leuchtenden Mund und das tiefe Farbgemisch in den Katzenaugen und ihre langen Beine und die Art, wie sie sich mit einer ungeduldig herrschsüchtigen Bewegung das Haar aus der breiten Stirne schüttelte. Er liebte auch ihre Stimme, die zugleich einschmeichelnd und grollend war, drohend und zärtlich und stark und sehr reich an überraschenden, herben oder süßen Nuancen. – Tullio war dazu imstande, sich geschwind zu begeistern. Er meinte, diese Frau schon zu lieben. Er begehrte sie schon.
Sie trafen sich abends, in einer kleinen Bar um die Ecke. Tullio, in einem bescheidenen grauen Paletot, ein etwas mißfarbenes und verwittertes rundes Hütchen auf dem Kopf, sah nicht mehr ganz so attraktiv aus wie in der offenen Lederbluse, die er zur Arbeit trug. Marion brauchte einige Minuten, um seinen großen Reiz wieder zu finden, wieder zu entdecken.
Ihr war sonderbar ernst zumute, als beginne nun ein sehr schöner, aber auch gefährlicher, vielleicht verhängnisvoller Abschnitt in ihrem Leben. Sie dachte an Marcel. Wenn sie die Augen schloß, zeigte sich ihr ein Gesicht, das mehr dem des fernen Toten als dem des Lebenden an ihrer Seite glich; es hatte aber die Züge von beiden. Sie bat Marcel um Verzeihung. Sie versprach ihm: ›Ich werde dich immer lieben. Was nun auch für mich beginnen mag, es kann mich dir nicht entfremden. In meinem Herzen bleiben, Wundmalen gleich, die Spuren deiner ungeheuren Blicke. Ich bin deine Witwe, Marcel.‹
Tullio seinerseits war lustig bis zur Ausgelassenheit. Er lachte viel und sang Melodien aus italienischen Opern. Dazwischen schüttelte er den Kopf, als könnte er es selbst nicht begreifen, daß er hier saß, Marion an seiner Seite. »Life is funny«, sann er mit geheimnisvollem Mienenspiel. »Extremly funny – don’t you think so, Marion?« Dann sang er wieder; dann sprach er über Detektivromane, und schließlich gab er, in gedrängter Form, sein politisches Glaubensbekenntnis. »Ich bin Antifaschist«, sprach er feierlich. »Aber der Kommunismus gefällt mir auch nicht. Ich glaube, der Staat an sich ist das Schlechte. Kein Mensch sollte Gewalt über andere Menschen haben. Die Macht verdirbt den Charakter. Ich bin Anarchist. – Ja, Tullio kennt das Leben!« schloß er triumphierend.
Später, auf der Straße, preßte er Marions Arm und sagte mit einer Stimme, die mehr wütend als zärtlich klang: »Ich möchte mit dir allein sein, Marion! Ich möchte mit dir allein sein!«
»Das möchte ich auch«, sagte Marion.
Er versetzte düster: »Aber im Hotel geht es nicht. Dort kennen mich alle; sogar der Nachtportier weiß, daß ich der Fensterputzer Tullio bin. Es würde einen Skandal geben, wenn du mich mitnähmest.« Nachdem er diese Betrachtungen angestellt hatte, stampfte er vor Zorn mit dem Fuß aufs Straßenpflaster.
»Nein, im Hotel geht es wohl nicht«, gab Marion zu. Dabei berührte sie mit ihren Fingern seine geballte Faust: die große, harte Faust eines Arbeiters.
Sie stand nahe bei ihm. Ihr Blick ging über sein Gesicht. Die Lippen hatte er schmollend vorgeschoben, und in den