Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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Ist die Barbarei das Ziel, die Auflösung der Zivilisation die Rettung? – Aber er haßt den Faschismus. Da er diese falsche Ordnung bekämpft, muß er eine andere Ordnung wollen: eine bessere, die sowohl freier als auch vernünftiger wäre. – Der Überdruß an der Vernunft und am Staat erklärt sich aus dem Mißbrauch, der mit der Vernunft getrieben wurde, aus der Schlechtigkeit der Staaten. Unsere Generation empfindet: Lieber das Chaos als die permanente Ungerechtigkeit. Hinter dem Chaos aber sieht sie – ohne es noch zu wissen oder sich zuzugeben – schon die neue Ordnung, der sie dienen will …‹

      Marion liebte die Stadt New York. Alles auf den Straßen machte ihr Vergnügen. Es ergötzte und erfrischte sie, den gewaltig strömenden, exakt geregelten Verkehr der Wagen zu beobachten. Wenn das Lichtsignal ihnen zu stoppen gebot, war es gestattet, die Straße zu überkreuzen, an der Reihe der Wagen vorbei, wie an einem Wasserfall, der sich plötzlich nicht mehr ergießen durfte, sondern rauschend stillstand. Marion wurde eine kleine Angst nicht los. Sie sah aber lächelnd, wie Kinder und junge Mädchen den stehenden oder im dichten Verkehr ganz langsam fahrenden Wagen zutraulich auf die Kotflügel klopften, so wie man ein gezähmtes Ungeheuer lässig streichelt: der besondere Reiz so kecker Liebkosung ist es ja gerade, daß der Unhold einen zerreißen könnte, käme es ihm plötzlich in den unberechenbaren Sinn.

      Es war gut, mit vielen Menschen zu reden; Tullio hatte schnell Kontakt mit mancherlei Leuten. Sie unterhielten sich mit den Negern, die in den Nebenstraßen des Broadway oder in Harlem ihre Künste zeigten; oder mit den Männern, die vor großen Geschäften ihre Schilder spazieren führten: »Kauft hier nichts! Boykottiert diesen Laden! Hier werden Gewerkschaftsmitglieder unfair behandelt! Helft uns in unserem Protest!« Mit diesen sprachen sie über soziale Fragen, über das Arbeitslosenproblem, über Roosevelts »New Deal« und seine Chancen. Mit den kleinen Negerjungen aber, die an den Straßenecken Schuhe putzten, sprachen sie über Baseball oder die Aussichten eines großen Boxkampfes, der angekündigt war. Die kleinen Negerjungens hatten zarte, etwas müde, dabei lustige und schlaue Affengesichter. Marion schaute gerne den flinken Händen bei der Arbeit zu. Die Dunkelheit ihrer Haut schien empfindlich und abgenutzt, an manchen Stellen fleckig, als trügen die Kinder sehr alte, strapazierte Handschuhe.

      Einmal fuhren sie nach Yorkville, ins deutsche Viertel. Aber dort fühlte Marion sich gar nicht wohl. Sie ekelte sich vor den hakenkreuzgeschmückten Zeitungen, die überall aushingen. Die Gesichter vieler Menschen, denen sie hier begegnete, waren ihr unangenehm; es schienen böse und dumme Gesichter: Marion fürchtete sich. Tullio wollte einen deutschen Film sehen. Es gab ein Lustspiel; seltsamerweise zeigten die Figuren auf der Leinwand sich eher verdrossen, sie schrien sich an wie Unteroffiziere. Wenn sie lustig sein wollten, wurden sie roh. Die jungen Männer – hünenhaft gebaut, mit fast idiotischen Mienen – schlugen ihren Mädchen tüchtig auf den Hintern, ehe es zur Umarmung kam, die ihrerseits barbarischen Charakter hatte. Marion dachte: ›Ist dies deutscher Humor?‹ Den Ton der Stimmen konnte sie kaum ertragen; auf eine herausfordernde Art war er zugleich forsch und sentimental, aggressiv und wehleidig. ›Wie fremd die deutschen Stimmen mir geworden sind!‹ empfand Marion. Nach einer Viertelstunde gingen sie. Der Platzanweiser – ein Deutscher – erkundigte sich, ob ihnen der Film nicht gefallen habe. »Es ist ein abscheulicher Film«, sagte Marion.

      Der Platzanweiser war ein großer, blonder Bursche mit langem, hagerem, recht gut geschnittenem Pferdegesicht. »Alle deutschen Filme sind Dreck«, sagte er, und sein Gesicht hatte plötzlich einen Ausdruck von Haß. Marion unterhielt sich noch etwas mit ihm. Der Bursche ließ durchblicken, daß er ein politischer Flüchtling war. Er wagte es nur zu flüstern: »denn wenn sie es hier rausbekommen, verliere ich meinen Job. Das sind hier alles Nazis – die ganze Bande!« – Leute kamen; er mußte ihnen mit seiner Taschenlampe den Weg zu ihren Sitzen durchs dunkle Parkett zeigen. Ehe er sich von Marion trennte, hob er die Faust, zur Geste des antifaschistischen Grußes. Sein Gesicht, das im Halbdunkel des Theaters verschwand, sah sehr hart und zornig aus.

      Wie rasch vergingen die Tage, und auch die Wochen waren geschwind vorbei. Marion lud ihren Tullio in die Oper ein; sie hörten »Aida«, Tullio war nur mit Mühe davon abzuhalten, die geliebten und vertrauten Melodien schallend mitzusingen.

      Sie fuhren zur Washington Bridge und zur Brooklyn Bridge; sie genossen die Aussicht von den höchsten Wolkenkratzern, und sie spazierten im Central Park. Sie besuchten den Zoologischen Garten, die Öffentliche Bibliothek, die Museen, die Warenhäuser und die Empfangsräume der großen Hotels. Sie wollten alles sehen. Beide waren neugierig und enthusiastisch. Am meisten liebte Marion die Stadt zu einer gewissen Stunde am späten Nachmittag. Dann wurde das Licht durchsichtig und bekam einen besonderen, strengen Reiz. Hinter den Wolkenkratzern standen die schmalen Streifen des Himmels in einer blassen, stählernen Bläue. Irgendwo mußte noch die Sonne sein; aber man sah sie nicht mehr. Die hohen Stockwerke der Hausgiganten waren von einem kalten, süßen, etwas giftigen Rosa beschienen wie die Gipfel des Hochgebirges vom Sonnenuntergang – während die Straßen sich schon, gleich Schluchten, mit Schatten füllten. Dann wurde es plötzlich sehr kalt. Marion drängte sich enger an Tullio.

      Wo war sie, und wer schritt da an ihrer Seite? War dies nicht die furchtbare, überirdisch schöne Landschaft des Engadins, und blies nicht der Maloja-Wind sie gewaltig an, um diese Straßenecke? – Sie zog den Jungen an sich, damit sie ihn wiedererkenne, ihn nicht verwechsle. Wir verwechseln die miteinander, die wir lieben müssen. Es ist immer dasselbe Antlitz, dem wir verfallen. – ›O Marcel, ich bin deine Witwe. In meinem Herzen bleiben, Wundmalen gleich, die Spuren deiner ungeheuren Blicke.‹

      Auch Tullio schien betrübt geworden, als teilte er Marions Erinnerungen, samt der nie zu stillenden Trauer um einen Toten. – Seine Stimmungen änderten sich rapid. Er war reizbar und stolz, kindisch und leicht gekränkt, zärtlich und naiv, roh und sanft. Er war stets überraschend. Manchmal glaubte Marion: Er ist schön, aber einfach dumm; dann wieder: Er ist begabt, aber er muß wahnsinnig werden. Und wieder ein anderes Mal: Er ist stark und gut, der Haß gibt ihm Kraft und Feuer, er kann etwas Tüchtiges leisten, er wird sein Leben sinnvoll machen, er kann arbeiten, er geht nicht zugrunde. Wenn er ausrief: »I know the whole trut!« und: »Alles Übel kommt von den Gedanken!« – erschrak Marion, und ihr Gelächter, das ihm antwortete, klang nicht munter. Wenn er aber seine Ausbrüche gegen »fascismo« hatte, der ihm die Heimat verdarb, beobachtete sie mit Entzücken sein bewegtes Gesicht. Schatten flogen über die blanke Stirn, in seinen Augen war das Wetterleuchten, und sogar das Funkeln der raubtierhaften Zähne ward drohend.

      Manchmal machte er sich auch Sorgen wegen des sozialen Unterschiedes, der zwischen ihnen bestand. »Wir sind aus verschiedenen Welten. Was hast du eigentlich an mir?« konnte er fragen. »Ich bin doch nur ein einfacher, dummer Kerl – habe nichts gelernt.« Marion lächelte stumm. Mit ihren Lippen berührte sie seine grobe, abgearbeitete Hand. »Bist du glücklich?« wollte er wissen. »Kann ich dich glücklich machen?« – Sie antwortete nicht.

      Doch wiederholte sie in ihrem Herzen die Frage: ›Bin ich glücklich? Liebe ich ihn genug? Gibt es zwischen ihm und mir nicht zuviel Trennendes? Ich bin mehrere Jahre älter als er. Ich bin erzogener als er, und ich habe eine andere Art zu denken. Habe ich nicht auch eine andere Art zu empfinden als Tullio? All seine Reaktionen sind mir fremd und erstaunlich. Vielleicht liebe ich ihn gerade deshalb so sehr. Denn ich liebe ihn sehr‹ – empfand Marion mit ihrem ganzen Herzen.

      War sie glücklich, nachts, während der Stunden, die sie in dem verdächtigen kleinen Absteigehotel, nahe der Pennsylvania Station, verbrachten?

      Marion hatte sich nie mit solcher Heftigkeit lieben lassen. Er war unersättlich. Sein Ernst in der Umarmung, seine beinah wütende Sachlichkeit bei den Liebkosungen waren erschreckend. Er warf sich über sie wie ein Ringkämpfer auf seinen Gegner. Er war geschwind befriedigt, und dann rief er: »Noch einmal!« – es klang wie ein Schlachtruf. Auch sein erhitztes, schweißbedecktes Gesicht sah wie das eines erschöpften Kriegers aus, mit durstig trockenen Lippen, dem feucht verklebten Haar, den gierig weit geöffneten Augen. Seine Zärtlichkeit war vehement wie eine Naturkatastrophe. Sein Körper bäumte sich wie in Qualen. Auch sein Stöhnen klang, als ob es von einem Gefolterten käme. »Tue ich dir weh?« fragte er sie – selber leidend an seiner Lust. Als Marion den Kopf im Kissen schüttelte: »Aber ich will dir weh tun! Sonst liebst du mich nicht!«

      Manchmal