Die lustige Anni aus Köln machte böse Zeichen mit den Augen, runzelte die Stirne, schüttelte den Kopf. Aber der Professor war schon aufgestanden. »Ja, dann muß ich also bezahlen …« Er fühlte sich plötzlich sehr niedergeschlagen. ›Warum bin ich enttäuscht?‹ dachte er, schon zum Gehen gewendet. ›Was habe ich mir erwartet? Die einzige Überraschung dürfte doch sein, daß der kleine Spaß nicht teurer war. Natürlich kostet es ein paar Cents, wenn man die Zeit der fleißigen Tänzerinnen in Anspruch nimmt … Wer erwartet Gratisunterhaltung von armen Huren?‹
Er sah, durch eine dicke Wolke von Zigarettenrauch, noch einmal das zarte, müde Gesicht der Kleinen aus Honolulu – eine empfindliche, schon etwas gelblich welke Blüte über dem anmutig schmalen Hals. Sie lächelte ihm zu – oder galten dieser Blick, dieses Winken schon nicht mehr ihm, sondern dem neuen Kavalier, der sich nahte? Er hatte den Hut schief auf dem Kopf, eine dicke Zigarre im Mund und ging breitbeinig, schwankenden Schrittes. Er war schwer betrunken. Während der neue Kavalier sich mit einer Bewegung, die fast schön war durch ihre schamlose Gier, über die Kleine neigte, verließ Professor Abel das Etablissement.
Dieses war sein Flirt am Times Square, New York City.
Am Tag vor seiner Abreise geschah es Benjamin, daß er in einem Friseurladen Tränen vergoß. Der Mann in der weißen Schürze, der ihn rasierte, war taktvoll genug, es zu übersehen; trotzdem blieb der kleine Zwischenfall peinlich genug.
Benjamin ließ sich gerne vom Coiffeur behandeln. Es machte ihm Vergnügen, faul und wohlig ausgestreckt im verstellbaren Sessel zu liegen, während man ihm das Gesicht mit heißen und kalten Tüchern, mit allerlei Crèmes und Duftessenzen erfrischte. Aus dem Radio sprach eine sonore, forsch bewegte und gleichsam ermunternde Stimme. Der Professor mit der eingeseiften Miene hörte nicht hin; wahrscheinlich handelte es sich um Fußballspiel …
Aber was für Töne ließen sich nun vernehmen? Der Professor hob jäh den Kopf – es war gefährlich, denn er hatte das blanke Messer des Barbiers am Hals. Beethovens »Mondscheinsonate«: Benjamin erkannte sie gleich, obwohl die erlauchte Melodie halb zugedeckt und verdorben war durch Jazzrhythmen, die ihr im Äther Konkurrenz machten. Indessen verstand es jemand, den Apparat so zu stellen, daß die ordinäre Tanzmusik verstummte und nur noch das Herrliche klang: das Herrliche füllte den Frisiersalon mit wunderbarer, magisch starker Gegenwart. Welche Gnade! – ach, welche Erschütterung für den Professor aus Bonn.
Er erschauert, tausend Erinnerungen kommen mit den vertrauten Tönen: seine Heimat – oder doch alles, was er an ihr geliebt hat – ist plötzlich da. Annette Lehmann, die Ungetreue, und die traulich-musischen kleinen Feste in Marienburg – alles stellt sich ein, beim gerührten Aufhorchen. Ein Heimweh ohnegleichen bewegt Benjamins Herz, während er im schräggestellten Sessel ruht und lauscht. Ein Gefühl der Einsamkeit, so stark vorher niemals empfunden; Verlassenheit ohne Grenzen – ihm ist zumute wie dem Kinde, das im Wald verlorenging, es ist dunkel, aus dem Schatten drohen Ungeheuer, und da kommt plötzlich die Melodie, mit welcher die Mutter ruft – aber aus was für Fernen! Tröstlich und quälend zugleich schweben sie herbei, die holden Klänge der Heimat … Wie empfängt man sie? Nicht mit trockenen Augen. Man läßt die Tränen fließen – mag der Barbier sie sehen oder nicht; man kann sie nicht halten; auch tut es wohl, sie auf den Wangen zu spüren und den Salzgeschmack auf den Lippen.
Benjamin mußte schluchzen, weil die Mondscheinsonate ihn im Barber Shop überraschte – so weit war es mit ihm gekommen. Der Coiffeur – ein gutmütiger Mann; nicht mehr jung – bemerkte: »You like music, Sir? I am fond of music myself.« Damit weckte er seinen seltsamen Kunden aus der gefährlichen Träumerei. Benjamin kam zu sich, wischte sich die Augen und murmelte etwas über das heiße Tuch, das zu Tränen reize.
Er schämte sich seiner Unbeherrschtheit und dachte – den prickelnden Geruch von Kampferwasser in der Nase: ›Alter Narr, der ich bin! Sentimentaler, deutscher alter Narr! Gestern abend habe ich mir aus der konventionellen Begegnung mit einer armseligen kleinen Frauensperson das melancholische Abenteuer zurechtgemacht – und jetzt flenne ich wie ein Baby wegen der alten Sonate, die übrigens nicht einmal mein Lieblingsstück von Beethoven ist. So was gehört sich nicht, es ist peinlich … Während der ganzen letzten Wochen habe ich versagt: ein totaler Versager bin ich gewesen. An New York liegt es nicht, New York ist großartig, es liegt an mir, ich bin keineswegs großartig, ein sentimentaler Professor, vielleicht auch schon etwas verkalkt, und hoffnungslos europäisch. Sollte ich nicht froh darüber sein, daß in diesem Lande etwas Neues für mich beginnt? Statt Amerika kennenzulernen, lieben zu lernen, sitze ich hier und vergieße dumme Tränen über alte deutsche Romantik – als ob ich nicht wüßte, wohin diese Romantik führt, welcher Art ihre Konsequenzen sind, wenn sie sich politisch manifestiert! Bin ich nicht ein Opfer dieser Konsequenzen? Und lasse mich trotzdem erschüttern von dem alten, morbiden, abgenutzten Zauber! Eine Schande! Eine Blamage! Eine Peinlichkeit!
Irgendwo, im Mittelwesten dieses Landes, wartet etwas auf mich – eine Aufgabe; etwas Wichtiges, etwas Schönes! Es gibt junge Leute, die von mir etwas lernen wollen. Vielleicht sind sie recht naiv, etwas unwissend; aber aufgeschlossen, frisch, vertrauensvoll …
Man gibt mir hier eine Chance – man gibt uns hier eine Chance. Die muß ich nutzen, für die muß ich dankbar sein. Das Land, das mich aufnimmt, mich leben und arbeiten läßt, hat ein Recht, Ansprüche an mich zu stellen. Gewisse Dinge darf es sich verbitten – zum Beispiel dieses weinerliche Heimwehpathos. Ein vernünftiger Grad von Optimismus ist angebracht; ein Wille zur Zukunft, der nicht überschwenglich, aber solid zu sein hat, wird zur Pflicht.
Kopf hoch, alter Benjamin! Pull yourself together, old fellow! Die Tränen sind längst getrocknet. Draußen machen die Autobusse, die Zeitungsverkäufer, die Trambahnen ihren forschen Lärm. Geh hinaus! Sei dabei! Spiele nicht den Einsamen, Feinen! Es ist eine fragwürdige Ehre, fein und einsam zu sein: abgesehen davon, daß es nicht für vorteilhaft gilt. – Die Depression sei definitiv überwunden. Das Leben in Amerika fange an.‹
12
Marion machte die Überfahrt von Le Havre nach New York auf einem mittelgroßen französischen Dampfer, in der Tourist Class. Die Reise langweilte sie. Sie war enttäuscht vom Meer, das sie von den Ufern aus so sehr geliebt hatte. Das Grenzenlose war öde. Der runde Horizont ermüdete den Blick; die kahle Größe der Wasserlandschaft, die tote Majestät der Unendlichkeit war geeignet, ein bedrücktes Herz erst recht traurig, beinah hoffnungslos zu stimmen.
Sie versuchte, sich zu zerstreuen. Die Bücher, die sie für die lange Reise mitgenommen hatte, ließ sie unten in der Kabine liegen; abends vor dem Einschlafen las sie in ihnen; tagsüber ging es nicht: sie war zu nervös, konnte sich nicht konzentrieren. Am ehesten gelang es ihr, die unruhig zerstreuten Gedanken zu sammeln, wenn sie mit Menschen sprach. Sie war gesellig; spielte Pingpong mit Studenten aus dem amerikanischen Mittelwesten; flirtete mit einem französischen Grafen, der durch soignierten Spitzbart und Monokel auffiel; schwätzte über Hüte und Parfüms mit einer lustigen kleinen Pariserin – über die politische Situation mit einem jungen Rechtsanwalt aus London; sie freundete sich mit einem deutschen Emigranten an, der in Berlin Schauspieler gewesen war – »aber kein besonders guter!« wie er munter gestand – und in New York Kellner werden wollte; und sie ärgerte sich über ein Ehepaar aus Frankfurt am Main, Siegmund und Marta Meyer, weil sie ihr erklärten: »Wir sind selber Nichtarier; aber man muß doch objektiv sein und zugeben: in vieler Hinsicht ist der Antisemitismus berechtigt. Die deutschen Juden sind zu frech gewesen, besonders in Berlin, wir in Frankfurt haben das nie gebilligt, diese arroganten Typen, Journalisten oder Börsenschieber, lauter Parvenüs, die meisten waren ja erst nach dem Krieg aus Polen oder Rußland eingewandert