Klaus Mann - Das literarische Werk. Klaus Mann. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Klaus Mann
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783754940884
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gute Marie-Luise! Ob sie eine alte Frau geworden war? Sie fielen sich in die Arme, und abends gingen sie auf den Rummelplatz, wie zwei Schulmädchen, um den finnischen Riesen zu sehen, den größten Menschen der Erde … Wie zwei Schulmädchen … Inzwischen aber war das Leben vergangen. ›Wie habe ich es verbracht?‹ – Tilla hatte reichlich Zeit, darüber nachzudenken, auf der langen Fahrt durch den amerikanischen Kontinent, von Küste zu Küste. Keine Reporter fielen ihr lästig; keine Verehrer schickten Telegramme. Sie saß in ihrem privaten Abteil – das hatte sie sich doch noch geleistet – und sann. ›Ich bin beinah fünfzig. Meine Haare wären weiß, wenn ich sie nicht färbte. Wie habe ich mein Leben verbracht? Ein Leben ist doch eine große Sache – eine kostbare, eine seltsame Sache …‹

      Abel machte die Überfahrt von Southampton nach New York auf einem großen englischen Dampfer, in der Tourist Class. Er genoß die Reise; er liebte das Meer; liebte es zu allen Tageszeiten und zu jeder Stunde der Nacht; er war gebannt von seiner Ruhe und von seiner Veränderlichkeit; tausendmal neu entzückt von den tausendmal wechselnden Farben: ineinander spielend oder einander jäh ablösend, Perlgrau und Schwarz, giftiges Flaschengrün, rosig überhauchtes Weiß, drohendes Schiefergrau und die unendlichen, unbeschreiblichen, immer wieder überraschenden Nuancen des Blau. Der Anblick des Meeres war sehr tröstlich für diesen Menschen auf der Überfahrt. Ob es still atmete oder sich heftig erzürnte: das Meer hatte die Kraft, das Herz und die Gedanken abzulenken, zu befreien von den kleinen Sorgen und dem großen Kummer. Solcher Befreiung, solchen Trostes war Benjamin bedürftig, und er war dankbar für ihn.

      Mit den übrigen Passagieren unterhielt er sich kaum. Er blieb einsam, auf seinem Liegestuhl, am kleinen Tisch während der opulenten Mahlzeiten, bei den Spaziergängen – immer um jenes ziemlich kurze Stück des Promenadendecks herum, das den Tourist-Class-Bewohnern zur Verfügung stand. Die Mitreisenden respektierten sein Bedürfnis nach gedankenvoller Ruhe. Ein einsiedlerischer Professor: das kennt man. Zwar hatte niemand in der Tourist Class jemals seinen Namen gehört; bedeutend gefurchte Stirn und grüblerischer Blick des schweigsamen Deutschen indessen ließen vermuten, daß es sich hier um einen Herrn von imposantem Wissen handelte. Man ließ ihn bei seinen Büchern. Nur manchmal trat ein keckes junges Mädchen oder eine schwatzhafte alte Dame heran, die, mit Kreuzworträtseln beschäftigt, in Erfahrung zu bringen hofften, welcher Strom in Asien mit G beginnt, und welcher deutsche Dramatiker der klassischen Epoche seinen Namen mit einem »Sch« am Anfang buchstabiert.

      Benjamin langweilte sich nie. Seine Tage waren mit Sorgfalt eingeteilt, immer gab es eine Beschäftigung. Zwischen den Stunden, die für den Deckspaziergang oder einfach für die träumerische Betrachtung des Meeres reserviert waren, lagen die anderen, die dem Studium der englischen Sprache und der Lektüre gehörten. Abel hatte beschlossen, täglich mindestens fünfundzwanzig englische Vokabeln zu lernen. Leider war seine Aussprache schrecklich, und da er fast gar nicht sprach, hatte er kaum Gelegenheit, sie zu verbessern. Er las die Geschichte der Vereinigten Staaten und einen Roman von Dickens in der Originalsprache mit gewissenhafter Benutzung eines Lexikons. Zur Erholung blätterte er dann in der »Welt als Wille und Vorstellung«, in Tolstois »Krieg und Frieden«, den Tagebüchern Hebbels, Mörikes Gedichten und anderen schönen Dingen, die er in seinem Handkoffer mit sich führte.

      Es waren gute Tage – die besten seit Jahren, wie ihm schien. Er genoß sie, Stunde für Stunde. Wäre nur die Aussicht auf die Ankunft nicht gewesen! Die verdarb beinah alles, ruinierte das stille Glück – wenn man den Fehler beging, an sie zu denken. Die acht mal vierundzwanzig Stunden konnten nicht ewig dauern. Anfangs schien ihr Ende kaum abzusehen – so wie dem Kinde Ferien unendlich scheinen, die gerade beginnen. Schließlich aber mußte der Morgen kommen, da die Freiheitsstatue – majestätisch und hilfsbereit, hochmütig und milde zugleich – den muskulösen Arm und das geschmückte Haupt den Passagieren der Third, Tourist und Cabin Class entgegenreckte. »Auch auf dich haben wir nicht gewartet!« spricht die Freiheitsstatue: irgendein Emigrant und armer Kerl hatte einmal behauptet, diese entmutigenden Worte könne man der großen Dame, Lady Liberty, von der Stirne ablesen. Daran mußte Abel sich nun erinnern. »Auch auf dich haben wir nicht gewartet …« Ach, sicherlich, es würde Unannehmlichkeiten bei der Ankunft geben; vielleicht ließ man ihn überhaupt nicht an Land – obwohl doch sein Visum in Ordnung war und sein Paß noch für eine Weile Gültigkeit hatte; vielleicht wurde er gleich zurückgeschickt, deportiert oder mußte mindestens für mehrere Tage auf jene gräßliche Insel, Ellis Island genannt, wo man verdächtige Fremde wie Zuchthäusler traktierte – davon hatte Abel viel des Schlimmen gehört.

      In Wirklichkeit verlief dann alles sehr harmlos. Abel hatte die Nacht vor Aufregung nicht schlafen können. Das Schiff lag seit Mitternacht in Quarantäne vor New York. Um fünf Uhr morgens war Benjamin auf dem Deck. Aus dem blau schwimmenden Dunst des frühen Sommertages trat, zart und deutlich, die zackige Linie der Wolkenkratzer – wie eine phantastische Kulisse zwischen den verschleierten Himmel und das sanft schimmernde Meer gestellt. ›Das ist es also‹, dachte der deutsche Professor, ergriffen und etwas ängstlich. ›Das ist also New York …‹

      Er hatte noch reichlich Zeit, sich mit Grübeleien abzugeben, die übrigens mehr um die Vergangenheit als um die Zukunft kreisten; denn er war ein vorwiegend historisch orientierter Mensch. Er dachte an Bonn, an Annette Lehmann und an die selige Mutter in Worms; an Amsterdam, das »Huize Mozart«, an Stinchen, den »Brummer« und Herrn Wollfritz; er dachte an irgendeine Straßenecke oder ein Kaffeehaus in Wien, an eine hübsche Perspektive durch den Londoner Hyde Park, an das Jüdische Comité in der skandinavischen Stadt und an den heruntergekommenen Berliner Schupomann, der die goldene Uhr hatte stehlen wollen. ›Das alles ist lange her‹, sann der Historiker. ›Es ist schon Geschichte; Teil und Abschnitt meiner Lebensgeschichte, ein Kapitel aus meiner Biographie. – Und was fängt nun an? – Man muß Spaß verstehen, wenn man leben will‹, dachte er noch – und wußte nicht genau, warum es ihm, gerade jetzt, einfiel. ›Man muß sehr viel Spaß verstehen. Humor muß man haben, sense of humour, keep smiling …‹

      Er stand im Rauchsalon der Tourist Class, zwischen deutschen Auswanderern, französischen Geschäftsleuten und englischen Vergnügungsreisenden, die alle darauf warteten, den amerikanischen Beamten ihre Pässe zeigen zu dürfen. Die Beamten trugen Brillen, hatten frische, rosige Gesichter zu grauem Haar und versuchten ihren gutmütigen Mienen einen gravitätisch-strengen Ausdruck zu geben. Die deutschen Auswanderer fürchteten sich vor ihnen; sie setzten sich ihnen gegenüber an den kleinen Tisch, zitternd, in mühsam gefaßter Haltung, wie der schlecht vorbereitete Schüler, für den das Examen beginnt.

      Auch Benjamin war nervös, als an ihn endlich die Reihe kam. Aber der Beamte – der gerade vorher eine allein reisende junge Dame ins peinlich lange Kreuzverhör genommen hatte – behandelte ihn zuvorkommend, beinah herzlich. Er sagte: »Alles in Ordnung, Professor!« – und entließ ihn mit der Bemerkung: »Gut für Sie, daß Sie hergekommen sind! Hier hat man mehr Achtung für einen gebildeten Mann als in Ihrem Lande!« – Benjamin wurde ein wenig rot: der Schüler war, zu seiner eigenen Überraschung, gelobt worden.

      Er fühlte sich der Stadt New York nicht gewachsen. Alles war ihm fremd und etwas grauenhaft. Er empfand, unter Schaudern: ›Die Wolkenkratzer fallen mir auf den Kopf – gleich werden sie mich begraben.‹ – Vor allem vermißte er Bäume in dieser Steinwüste. Er schmachtete nach etwas Grünem wie der Durstige nach einem Schluck Wasser. Man konnte stundenlang durch diese Straßen gehen, ohne ein Stückchen Wiese, ein frisches Gesträuch oder einen Brunnen zu finden. Die Hitze war drückend, die schwere Luft schien mit Feuchtigkeit vollgesogen, man war den ganzen Tag in Schweiß gebadet, nachts hörte der Asphalt nicht auf zu glühen. Der Central Park, wo Benjamin ab und zu promenierte, gewährte keine Erholung. Die Wege dort waren staubig und überfüllt; auch das Grün der Bäume schien unfrisch. – Am wohlsten fühlte er sich noch im Hotel – 39. Straße, East, zwischen Lexington und Park Avenue – das Bekannte ihm empfohlen hatten. Sein kleines Zimmer ging auf den Hof und war ziemlich dunkel. Immerhin gab es Ruhe dort, und es war vergleichsweise kühl. Übrigens gefiel ihm auch die kleine Bar des Hotels; er plauderte gern mit dem Mixer, Monsieur Gaston. Abgesehen von diesem charmanten und welterfahrenen Gesellen hatte er in New York keine Freunde. Die Empfehlungsschreiben blieben wieder unbenutzt; Abel tröstete sich mit der Überlegung: Es ist nicht die Saison, um Besuche zu machen; die meisten Leute sind wohl auf dem Land … Er war