Die Kabinen der Passagiere befanden sich auf Deck zwei und drei. Auf Deck vier lagen das sogenannte Zentrum mit dem Schalter des Kundenservice, die Champagner Terrasse, der Spiel Salon, mit unzähligen, einarmigen Banditen, sowie dem unteren Teil des McBeth Speisesaals.
Deck fünf bestand aus einer einzigartigen Einkaufsstraße, der Royal Promenade mit kleinen Boutiquen, Cafés, Eissalon, Pizzeria, Friseursalon, sowie einem typischen dunklen englischen Pub. Daneben befanden sich: Der zweite Teil des großen McBeth Speisesaals und der Eingang zum Alhambra Show Theater. Auf dem sechsten Stockwerk waren die Passagier-Suiten, Bibliothek, Konferenzräume, Showboat Lounge, Internetcafe, Bildergalerie mit Auktionsraum sowie die Kreuzfahrtberatung.
Fehlten noch Deck acht mit dem Wellnessbereich, diversen Pools, Solarium, Fitnessraum, sowie Deck neun mit Laufparcour, Golf, Tischtennis oder Ballspiel und letztendlich das Oberdeck zehn, mit der Viking-Lounge Bar und der Diskothek.
„Ist es hier nicht einfach umwerfend?“ meinte Melba entzückt, nachdem sie mit ihren beiden männlichen Begleitern mehrere Stunden das Innenleben des prachtvollen Schiffes durchforstet hatte.
„Nun lasst uns aber hinunter in den Speisesaal gehen, ich habe großen Appetit und bin schon auf die Menüauswahl gespannt.“
Sie nahmen an der ersten Essenssitzung um neunzehn Uhr teil und standen aufgeregt vor dem ganz in rotem Plüsch gehaltenen, pompös wirkenden Speisesaal.
„Tisch vierundsechzig bitte!“ Ein ganz in bordeauxrot gekleideter Kellner führte sie durch den Irrgarten von Tischen, Stühlen und Buffets. Ein goldenes Schild wies ihn als Francesco Orlando aus. Er war zweifelsfrei Italiener. An einem ovalen, auf Hochglanz polierten Tisch blieb er stehen. Der war für zehn Personen gedeckt. Kaum, dass sie sich gesetzt hatten, entstand auch schon eine Art Small Talk. Die Gäste stellten sich einander vor, während Claudio und Luis das Schmunzeln und die zweideutigen Blicke einiger Mitreisender nicht entging. Eine bildhübsche, junge Dame, die mit zwei Herren verreiste, was mochte wohl dahinter stecken? Mit wem war sie zusammen?
Als man Claudio nach seinen Beruf fragte, entschloss er sich dafür sein schwerstes Gesprächsgeschütz zu platzieren. „Ich bin Schriftsteller“ antworte er freundlich und nippte dabei an einem Weinglas welches ihm in der Zwischenzeit gereicht worden war. Vorherige Erfahrungen hatten ihm gezeigt, dass die Erwähnung seines Berufes einer Gruppe von Fremden gegenüber oftmals Reaktionen von Erstaunen bis hin zur Bewunderung auslöste. Manchmal wurde ihm auch bis ins kleinste Detail von obskuren, ja mysteriösen Autoren erzählt, die jahrelang Manuskripte bei zig tausenden Verlagen einreichten, jedoch niemals die Chance auf eine Veröffentlichung bekamen. Diese Taktik funktionierte fast immer um ein Abendessen in eine Art gemütliches Gesellschaftsspiel zu verwandeln, wobei ihm dann meistens der Part des Verlierers zugedacht war. Den letzten noch verbliebenen freien Platz an ihrem Tisch nahm dann eine etwas skurrile Persönlichkeit ein: Ein Weltenbummler, der sich schon etliche Tage nicht mehr gewaschen, geschweige denn gekämmt oder rasiert zu haben schien. Er trug ein verblichenes Flanellhemd zu einer abgenutzten und löchrigen Jeanshose. Auch so etwas gab es heutzutage auf einem Kreuzfahrtschiff.
In der Tat war das Leben an Bord eines solchen Ozeanriesen eine Welt für sich. Schnell hatten sich die Reisenden an die Fotoshooting Mentalität gewöhnt. Schiffseigene Fotografen waren überall anzutreffen. Für Fotos wurde posiert, was das Zeug hielt. Beim Abendessen oder zu besonderen Veranstaltungen, mit dem Kapitän, oder mit den Kellnern und Künstlern, beim Verlassen des Schiffes, bei der Champagne Begrüßung, dem Gala Abend und bei was es nicht sonst noch so alles gab. Die Fotos wurden dann im Gang zum Speisesaal nebeneinander aufgereiht und für den Verkauf ausgestellt.
Ein ausgedehntes Duschbad erweckte die Lebensgeister, während der eifrige Room-Service bereits die feuchten Handtücher, die Claudio zum trocknen über den Stuhl vor der Spiegelkommode gelegt hatte, geschickt austauschte. Über Lautsprecher wurde noch einmal auf die Aktivitäten des Abends hingewiesen. Eine Eisshow sollte die Hauptattraktion sein und ab 23 Uhr spielte ein kubanischer Musiker Rockoldies in der Viking-Lounge. Das alles geschah während die Marilu Kurs auf die kanarischen Inseln nahm.
Efraim hatte sich eine Spritze gesetzt und fühlte sich jetzt besser. Die drohenden Schmerzen waren zunächst abgewehrt. Kurzerhand nahm er eine frische Uniform aus seinem Schrank und schlüpfte hinein. Es war halb elf, als er seine Kabinentür entriegelte und nach dem Steward läutete. Er bekam ein Abendessen serviert, welches Doktor Robinson mit Sicherheit sofort in die Toilette gekippt hätte. Nach dem Essen ging er hinauf in die Viking-Lounge Bar. Er wusste, dass Rubén ab Elf hier Rockoldies von Santana zum Besten gab. Und Rubén legte los wie der Teufel. Nach „Oye como va, Samba Pa Ti und Europa folgte Black Magic Woman. Efraim hatte sein Problem vollkommen vergessen. Er bewunderte Rubéns Spieltechnik. In der Pause gesellte sich der Musiker zu ihm. Die beiden Männer waren schon öfters miteinander zur See gefahren. Daher gingen sie eher freundschaftlich miteinander um. Sie rauchten, tranken Kaffee und sprachen über den ersten Reisetag. Efraim fand, dass Rubén müde und abgespannt aus sah. Der Rock `n Roll scheint seine Spuren zu hinterlassen, dachte er.
„Sie sehen ziemlich mitgenommen aus, mein Lieber“, sagte er auch prompt zu Rubén.
„Vielleicht rauche ich zu viel, dazu schlafe ich nicht gut“, bekam Efraim als Antwort zu hören.
„Mm...ich habe mir schon gedacht, dass etwas nicht mit ihnen stimmt. Sie sind in Malaga die ganze Zeit an Bord geblieben, während sich ihre Kollegen an Land vergnügten. Was ist denn los mit ihnen?“
Diesmal antwortete Rubén nicht sofort. Er überlegte eine Weile, dann stellte er seinem Kapitän eine Gegenfrage: „Sind Sie eigentlich schon einmal verheiratet gewesen, Senor Capitan?“
Efraim musste nicht lange überlegen, obwohl ihn diese persönliche Frage einigermaßen überrascht hatte. „Nein, ich bin immer Junggeselle geblieben, aus eigener Überzeugung sozusagen, warum fragen sie?“
Es folgte eine lange Pause in der keiner der beiden Männer ein Wort von sich gab. Plötzlich zog Rubén ein zerknittertes Foto aus seiner Hosentasche und legte es vor Efraim auf den Bartisch. „D...das ist meine Verlobte“, sagte er. Efraim sah sich das Foto an.
„Eine sehr schöne Frau“, sagte er, dachte aber insgeheim: Armer Kerl! Sie ist doch viel zu schön für einen Musiker, der andauernd unterwegs ist. An seiner Stelle würde ich gut auf sie aufpassen.“
Und dann sprudelte es auch schon wie von selbst aus dem armen Rubén heraus. Er berichtete seinem Kapitän, dass er seine Verlobte schon zwei Jahre nicht mehr gesehen hatte. Der Kontakt zu ihr sei quasi abgebrochen, als damals klar war, dass er nicht nach Kuba zurückkehren würde. In Gedanken sah er vor sich, wie er Daynais kennengelernt hatte:
Natürlich machen wir weiter. Die Musik ist schließlich unser Leben. Und wir haben Fans und Freunde. Sogar in der UJC (Vereinigung junger Kommunisten). Durch sie finden wir Fürsprechung und Unterstützung.
Ich drehe mich auf dem schäbigen Hocker der Cantina herum und blicke sehnsüchtig zur geschlossenen Tür de la Sectorial Provincial de Cultura. „Wann fängt der Beamte endlich an zu arbeiten?“ Eigentlich habe ich keine Lust mehr zu warten, doch ich bin extra hergekommen. Also starre ich weiter auf die geschlossene Tür. Und da – wie durch ein Wunder, sie öffnet sich. Das Mädchen mit dem langen, schwarzen Haar, das aus der Tür tritt, ist höchstens zwanzig Jahre alt. Sie hat eine reife, frauliche Figur, die durch den engen Rock, den sie trägt, vorteilhaft betont wird. Sie wirkt adrett und nett. Mit einer elastischen Bewegung, zieht sie die Tür hinter sich zu. Ich springe von meinem Hocker und laufe auf sie zu. „Bitte, Senorita, wann öffnet die Oficina de la cultura?“, frage ich sie. „Ich habe eine Verabredung, aber es ist schon weit über die Zeit.“
Sie fährt überrascht herum und sieht mich mit ihren großen dunklen Augen an.