Für die über tausend Schiffspassagiere war der Kapitän ein wichtiger Bestandteil der Seereise. Fast gehörte er in den Werbeprospekt wie die Unterkunft, die Verpflegung oder auch die Landausflüge. Daher war das erste Abendessen für die meisten Passagiere eher eine Enttäuschung. Der Kapitänsplatz war leer geblieben. Schon tauchten Fragen auf wie: „ Wo ist er, wie sieht er überhaupt aus, und wie alt mag er sein?“
Im Gegensatz zu den meisten seiner Kollegen hegte Efraim eine richtige Abneigung gegen den gesellschaftlichen Teil seines Berufes. Menschlich gesehen war ein bisschen Spröde, was aber der Beliebtheit bei seiner Mannschaft keinen Abbruch tat.
„Können sie mir nicht die Kapitänsgala abnehmen Alvaro?“ fragte er deshalb am dritten Abend seinen ersten Offizier.
„Alles, nur das nicht“, entgegnete der mit einem breiten Lächeln. „Da müssen Sie leider selbst durch. Wenn der Schwindel auffällt, dann wirft mich die Meute eigenhändig über Bord. Warum hegen sie eigentlich eine so ausgeprägte Abneigung gegen Passagiere?“
„Ach was, das stimmt doch gar nicht. Sie interessieren mich nur nicht besonders, was ich auch gerne zu gebe.“
„Na wenn die das wüssten“, scherzte Alvaro. Jetzt musste auch Efraim grinsen. Er wusste ganz genau, er würde der Gala und dem Posieren nicht entkommen können. Daher fügte er sich seinem Schicksal.
Luis und Claudio waren den ganzen Morgen zusammen mit Melba über den Laufparcour gerannt. Jetzt wollten sie ihre sportlichen Aktivitäten langsam ausklingen lassen und nur noch die Sonne am Pool genießen. Sie schafften es noch der fragwürdigen Kunstauktion in der Showboat Lounge auf Deck sechs aus dem Weg zu gehen. Von dem Kauf so genannter originaler Kunstwerke auf einem Kreuzfahrtschiff hatte man ihnen dringend abgeraten. Dem formalen Abendessen mit der großen Kapitänsgala hingegen konnten sie nicht entkommen. Im Gegensatz zu Melba, die sich bereits voller Vorfreude zum Umziehen in ihre Kabine zurückgezogen hatte, standen die beiden Freunde der bevorstehenden Kleiderauswahl eher etwas skeptisch gegenüber.
Gemäß dem Aussehen manch anderer Kreuzfahrtteilnehmer an jenem Abend, schien es den meisten Reisenden nicht viel besser zu gehen. Aufgetakelt bis zum äußersten stöckelten unförmige und in die Jahre gekommene rundliche Damen in kaum enden wollenden High Heels über die Royal Promenade auf Deck fünf, vorbei an Sorrentos Pizza, dem Cafe Promenade, Jerrys Ice Cream Shop, dem Friseursalon und der Squeeze Juice Bar in Richtung MacBeths Speisesaal.
Claudio hatte sich für eine helle Leinenhose und ein elegantes, dunkles Hemd, mit dazu passender Weste entschieden, bevor er sich auf den Weg in Richtung Speisesaal auf Deck vier machte. Beim Eintreffen am Tisch vierundsechzig waren die Neunzehn Uhr bereits um einiges verstrichen, denn er hatte noch vorher eine Tasse Kaffee in einem der zahlreichen Cafés auf dem Promenadendeck genossen und seine Augen nicht von den neusten Modetrends lassen wollen. Die hätte er sich allerdings getrost sparen können, denn beim Anblick der zurechtgemachten Melba blieb ihm glatt die Spucke weg. Sie war wirklich eine Göttin und der Star des Abends in dem prallgefüllten Speisesaal.
Kapitän Efraim Rodriguez ließ noch auf sich warten. Wie er solche Anlässe hasste. Nicht nur weil er sich in den engen, schwarzen Smoking zwängen musste. Ihm graute vor der geballten Aufmerksamkeit, den belanglosen Gesprächen und den vielen Fototerminen. Viel lieber würde er jetzt in seiner Kabine hocken und ein paar Akkorde auf der Gitarre klimpern, aber was sein musste, musste eben sein.
Der Empfang war grenzenlos, der Applaus wollte gar nicht aufhören, als er geflankt von seinen beiden Offizieren den Speisesaal betrat. Tisch fünfundsechzig stand auf einer leichten Anhöhe und war für drei Personen gedeckt. Efraim stand auf, erhob sein Glas und hielt die übliche Begrüßungsrede. Alles war reine Routine und schon viele Male vollzogen worden. Die Blitzlichter der Kameras leuchteten auf und dann war es auch schon fast wieder vorbei. Francesco Orlando brachte die Menükarte und nahm die ersten Bestellungen für die Vorspeise auf. Wie zufällig fielen die Augen des Kapitäns auf den Nachbartisch und blieben an jemand ganz Besonderem hängen. Seine Pupillen öffneten sich weit und seine Augen glänzten als er in das perfekt geschnittene Gesicht von Melba Gonzales Martinez schaute. Für einen kurzen Moment hatte sie seinen Blick erwidert und es hatte ihn beinahe umgehauen.
„Was für eine Schönheit!“ Er konnte sich gar nicht satt sehen an der jungen Dame, musste allerdings in Ausübung seiner Stellung, die Fassung wahren, denn immerhin war er die Obrigkeit an Bord. Außerdem war er kein Mann schneller Gefühle und Emotionen. Auch Luis konnte seinen Blick nicht von Melba lassen, die ihm zu allem Überfluss auch noch genau gegenüber saß. Ihr Aussehen war einfach perfekt und selbst die anwesenden Damen blickten neidisch, aus den Augenwinkeln, zu ihr hinüber. Dabei war sie längst nicht so aufgetakelt wie die meisten ihrer Geschlechtsgenossinnen. Nur das eben alles an ihr stimmte. Sogar die kleine goldene Spange, die sie sich in ihr langes Haar gesteckt hatte.
Während der Nacht passierte die Marilu die kanarischen Inseln. Der dritte Reisetag begann recht trübe. Der Himmel war Regenverhangen und dazu gab es Windböen bis Stärke acht. Das weiße Schiff wiegte sich über Backbord und Steuerbord und tauchte zusätzlich mit Heck und Bug in die hohen Wellen ein. Dieses bei den meisten Passagieren gar nicht beliebte „Schlingern“ dauerte bereits einige Stunden an und wenn die Marilu einmal aus ihrem Rhythmus ausbrach, dann gab es gleich einen harten Schlag gegen die Außenhaut des Schiffes. Für viele Reisenden bedeutete dieser Moment ein akrobatisches Turnen über die Decks während andere leidend in ihren Kojen lagen und sich der Vorstellung hingaben, dass die von Francesco Orlando servierten, exklusiven Mahlzeiten in ihren Mägen dieselben, wilden Sprünge machten, wie alles andere auf dem riesigen Schiff. Sie litten bis hin zur Selbstaufgabe unter der Zwangsweisen Teilnahme an einem Schauspiel, dem sie nicht entrinnen konnten.
Efraim öffnete frühmorgens die Schiebetür auf der Backbordseite und betrat das Oberdeck. Die tückischen Bewegungen der Wellen schien seinem Körper überhaupt nichts aus zumachen. Er gesellte sich zu einem der Matrosen, der dort die angeketteten Liegestühle kontrollierte, und peilte mit dem Fernglas die Lage. Auf der anderen Seite der Reling entdeckte er eine einzelne Gestalt in einer blauen Öljacke.
„Nanu“, sagte er zu seinem Seemann: „Haben wir noch eine Unerschrockene hier draußen?“
„In der Tat. dem war so, nur das die Person nicht nur unerschrocken sondern auch das hübscheste weibliche Wesen an Bord der Marilu war. Efraim zündete sich einen Cigarillo an und meinte: „ Die Dame habe ich bereits gestern in einem Abendkleid bewundern können. Sie sieht wirklich umwerfend aus.“
Der junge Matrose nickte ihm schweigend zu, während er seiner Arbeit nach ging. Jetzt blickte die junge Dame im Regenmantel zu ihnen herüber. Efraim nickte kurz zurück. Es war nicht mehr als eine freundliche Geste, dann ging er in seinen Salon und griff zu der angefangenen Flasche Tequilla. Er dachte an die Langeweile: „Sollte sie wirklich aufkommen? In diesem Fall hätte ich noch nicht einmal mehr dieses eine Jahr verdient, das Doktor Robinson mir noch gibt. Aber, sie wird sicher nicht kommen! Ich habe mich noch niemals gelangweilt. Und ganz besonders im Bewusstsein, dass es nur noch ein Jahr dauert, müsste eigentlich jede Sekunde zu einer spannenden Sache werden.“
Gegen Abend war der Sturm dann vorbei und das „normale“ Leben an Bord nahm wieder seinen Lauf: Die niemals enden wollenen Buffets, Restaurationen, Animationen, Sport und Unterhaltungsveranstaltungen während sich das Schiff dem Äquator näherte. Roger schlenderte vom Speisesaal kommend vorbei am Studio B, der Karaoke Bühne und dem Spielsaal mit den unzähligen einarmigen Banditen. (Jemand hatte ihm erzählt, dass mit den Automaten ähnliche Umsätze erzielt werden wie mit dem gesamten Fahrkartenverkauf aller Kreuzfahrtteilnehmer ).
Dann