Jene Crewmitglieder, die keinen Freigang hatten, schliefen am Vormittag oder am Nachmittag, je nachdem, wann man sie für ihren Dienst eingeteilt hatte. Gegen Abend schien sich das Leben an Bord wieder zu normalisieren. Diesmal erfolgte das Abendessen unter freiem, karibischem Sternenhimmel, auf den oberen Decks und mündete in eine anschließende Abschiedsparty für Cartagena. Melba und Efraim hatten das Abendessen bereits um eine halbe Stunde überzogen, als sie sich ebenfalls unter die tanzenden Passagiere bei den Pools mischten. Dabei begab sich Efraim an die offene Bar, um „Stabilisatoren“ zu holen, wie er die alkoholischen Getränke nannte.
Eigentlich hätte er aus dem schmerzhaften Nachspiel der nächtigen Unmäßigkeit etwas lernen müssen und wenigstens für diesen Tag harte Drinks meiden sollen. Doch er machte seine eigene Rechnung auf und versuchte der ganzen Tragödie noch etwas Positives abzuringen, aber sein Körper ließ sich diesen neuerlichen Angriff nicht bieten. Nach dem dritten Glas Tequilla bemerkte Melba plötzlich wie er seine Fäuste zusammenpresste und sein Gesicht eine aschgraue Farbe annahm.
Blitzschnell packte sie ihn beim Arm: „Mein Gott Efraim, was ist mit ihnen?“
„Nichts ist mit mir“, versuchte er zu antworten, während er sich von seinem Hocker erhob. „Bitte lassen sie mich…“
„Aber sie müssen…“
„Ich bin der Kapitän an Bord dieses Schiffes! Bitte seien sie ein folgsames Mädchen und genießen einfach weiter ihren Tequilla.“
Melba sah ihn ungläubig an.
„Glauben sie mir, ich weiß damit umzugehen. Es ist schnell wieder vorbei!“
Er verließ das Oberdeck und ging in Richtung der Aufzüge. Im Gang blieb er stehen, presste sich die Hände gegen seinen Unterleib. Kalter Schweiß bildete sich auf seiner Stirn. Diesmal kam es noch schlimmer. Er spürte wie ihm übel wurde. Verzweifelt rannte er den Gang entlang und die Treppen hinauf. Er wusste, er würde es nicht mehr schaffen können, aber er riss sich noch einmal zusammen und rannte weiter, bis er seine Kabine erreicht hatte. Hastig öffnete er die Tür und stürzte hinein, jedoch bis zum Bad schaffte er es nicht mehr…
Nach mehreren Versuchen richtete er sich wieder auf aber es war noch nicht zu Ende. Wie in Trance fingerte er nach der erlösenden Spritze, die er wie immer „einsatzbereit“ in der obersten Schublade seines Schreibtisches vermutete. Mit zitternder Hand stand er vor dem Waschbecken und versuchte die Nadel anzusetzen.
Er rutschte ab: einmal, zweimal, dreimal, dann spürte er endlich die honigfarbene Flüssigkeit in sich eindringen. Doch noch wollte der Schmerz nicht nachlassen.
„Verdammt! So lange hatte es bisher noch nie gedauert!“
Wieder spürte er den Brechreiz in sich aufsteigen. Jetzt schienen die Beschwerden sogar noch an Heftigkeit zuzunehmen. Mit Schrecken bemerkte er die leichte rote Verfärbung in seinem Erbrochenen. Es war Blut. Er fröstelte und zog sich einen Bademantel über. Für einen Moment erwog er sich eine weitere Spritze zu setzen, aber dann dachte er an dieses Schiff, dass er ja eigentlich führen sollte. Während er noch zögerte, ließ die nächste Attacke nicht lange auf sich warten. Diesmal riss es ihn von den Beinen. Er wurde ohnmächtig, brach zusammen und blieb auf dem Boden des Badezimmers liegen.
Kapitel 6
Luis fand keinen Schlaf. Trotz der Gewaltmärsche durch die Altstadt von Cartagena wollte sich bei ihm keine rechte Müdigkeit einstellen.
„Kommst du noch mit auf ein Bier?“ fragte er Claudio. Als Antwort gähnte der ihn an. „Nein Danke, ich bin völlig groggy! Geh nur alleine an die Bar. Ich werde dir heute Abend kein guter Gesprächspartner mehr sein.“
„Auch gut, vielleicht treffe ich George, den Weltenbummler noch irgendwo und kann ihn zu einem Drink überreden. Bin aber bald zurück.“ Sprach es und verließ kurz darauf die gemeinsame Kabine in Richtung der Aufzüge, die ihn hinauf auf das Außendeck befördern sollten. Er ließ sich ein Bier einschenken und begab sich mit dem Glas in der Hand nach achtern, ganz in die hintere Ecke des Schiffes. Dort, so war er sich sicher, würden sich zu diesem Zeitpunkt keine Passagiere mehr aufhalten. Die verweilten zumeist bei den Tischtennisplatten auf halber Strecke.
Die Marilu machte ruhige Fahrt und im Zwielicht des scheidenden Tages genoss Luis den ruhigen Platz. Langsam fing die Reise an Spaß zu machen. Überhaupt erschien ihm Seemann gar kein übler Job zu sein. Immerhin schien die Seefahrt jegliche Art von Beziehung jung und interessant zu halten. Man konnte sich nach einer langen Reise wieder auf den Partner freuen und würde sich jedes Mal viel zu erzählen haben. Vielleicht war der Beruf des Seemanns sogar einer der wenigen, die einem Mann erlaubten, eine Familie zu gründen und gleichzeitig frei zu sein.
Oh Mann, das hätte auch gut von Claudio stammen können, dachte Luis und lächelte im Stillen vor sich hin. Mit der Treue ist das sowieso so eine Sache für sich. Schließlich kann man auch nicht jeden Tag nur Eintopf essen. Aber wieso gerade Eintopf? Jetzt denke ich wirklich schon beinahe wie Roger. Hat der mir nicht immer ausführlich von den Vorzügen gertenschlanker und kaffeebrauner Frauenkörper erzählt und von langen, schwarzen Haaren, dunklen, großen Augen mit viel Leidenschaft und Hingabe?
Zuletzt dachte Luis an Melba. Mit ihr würde sicher selbst die normale, tägliche Form einer Ehe etwas Besonderes sein. Sie ist einfach eine klasse Frau.
Die frische Luft und der Alkohol machten ihn müde. Er lehnte sich gegen die Reling und spürte, wie ihm die Augen zufielen. Ein in der Nähe arbeitender Arbeiter, der mit dem Säubern des Decks beschäftigt war, entdeckte eine leere Cola-Dose und kickte sie mit voller Wucht gegen die Reling.
Mit einem plötzlichen Reflex schreckte Luis zusammen. Die instabile Position, in der er sich jetzt befand, machte es ihm unmöglich den Schwung der heftigen Bewegung abzubremsen. Und der war so stark, dass er sein Gleichgewicht verlor und Hals über Kopf über die Reling kippte. Dummerweise hatte er genau an jener Stelle gestanden, wo sich gerade kein Rettungsboot befand. Er versuchte sich an der glatten Bugwand festzuklammern, doch das war unmöglich. Er rutschte ab und glitt ins Wasser.
Die Schiffsschraube, kam ihm in den Sinn. Ich muss mich von dem verdammten Teil fernhalten.
Zum ersten Mal durchbrach sein Kopf die Wasseroberfläche. Freilich nur für einen kurzen Moment, doch der genügte, um das langgezogene, dumpfe Signal wahrzunehmen. Er wusste, das Signal galt ihm. Man hatte begriffen, dass er über Bord gegangen war.
Oben an Deck, gestikulierten Matrosen wild mit den Armen. Dann bemerkte sie ihn und warfen einen roten Rettungsring ins Meer. Luis schnappte danach. Die Berührung mit dem kalten Kunststoff beruhigte ihn ein wenig. Die Chancen zu Überleben hatten sich erhöht.
Trotz des Deliriums in dem er sich befand, hatte auch Efraim das Alarmsignal vernommen. Er raffte sich auf und torkelte aus seiner Kabine. An Deck schüttelte er sich wie ein kleiner Hund und rannte ohne Schuhe, nur im Bademantel, auf die Kommandobrücke, die sich bereits mit Zuschauern gut gefüllt hatte.
„Los! Alle Mann, die nicht zur Besatzung gehören, runter von der Brücke“, rief er in die Menge. „Was ist eigentlich geschehen?“
Sofort klärte man ihn auf. „Alle Maschinen Stopp!“, befahl er und ordnete gleichzeitig an, eine Notmeldung durchzugeben.
„Was ist eine Notmeldung?“ Plötzlich war Melba an seiner Seite. Eigentlich hatte sie auf der Kommandobrücke gar nichts zu suchen. Er wollte sie zurückschicken, tat es aber dann doch nicht.
„Eine Notmeldung ist eine Warnung an alle sich nahenden Schiffe“, erklärte er schnell. Damit ließ er sie stehen und wandte sich seinen Offizieren zu. „Werft noch einen weiteren Rettungsring hinterher, dann schnell die Scheinwerfer in Stellung bringen und ein Rettungsboot klarmachen.“ Er schien die Situation im Griff zu haben.