Unser Erfolg wir entsprechend gefeiert: Mit Musik. Wir geben zwei, drei Konzerte, dann holt uns der Alltag wieder ein. Es dauert acht Monate, bis uns die Urkunde zugestellt wird. Als professionelle Band benötigen wir unbedingt neue Aufnahmen. Und die sollen diesmal gemäß unserem neuen Status ausfallen. Uns fällt ein Freund in Havanna ein, der uns früher schon einmal bei Aufnahmen unterstützt hat. Noch ehe wir in den Zug nach Havanna steigen, checken wir unsere Ersparnisse. Die Erkenntnis trifft uns wie ein Schlag. Wir besitzen lächerliche 100 pesos. Wie sollen wir davon das Studio bezahlen? Ich denke an die Inschrift, die ich auf einem Grabstein gelesen habe: “Für den ewigen Amateur. Möge er in Frieden ruhen.“
Nichts geht mehr, gar nichts. Eines Tages spricht mich jemand auf der Straße an: „Hola amigo. Was ist mit Rocas?“
„Ich versuche es ihm zu erklären. Er legt seine Hand auf meine Schulter und sagt: „Bruder, du bist keinen Schritt vorangekommen...“ Dieser Satz bleibt an mir hängen.
Rubén zündete sich eine Zigarette an, während er die Menschentraube beobachtete die eilig über die Gangway das große Kreuzfahrtschiff verließ. Eigentlich war es an der Zeit, seiner Schwester einen Brief zu schreiben. Einen ausführlichen Brief, aber das hatte er schon so oft gewollt und dann waren es doch nur wieder die üblichen Grüße geworden und allenfalls ein kurzer Reisebericht. Viel hätte er sowieso nicht schreiben können, denn seine Briefe wurden genauestens kontrolliert, falls man sie ihr überhaupt aushändigte. So schrieb Rubén belangloses Zeug. Er erzählte von der großen Hitze in Kolumbien, von den Mangrovenwäldern, die sie dauernd passierten, von der historischen Altstadt Cartagenas und von den Passagieren an Bord, mit ihrem manchmal fragwürdigen Benehmen. Das was er schrieb war belangloses Gerede, denn das, was er wirklich gern geschrieben hätte, erwähnte er nicht.
Kapitel 8
Melba und Claudio saßen auf der Terrasse des Restaurants „Paisa“ in Santa Martha und blickten über die langgezogene Bucht. Sie hatten frischen Fisch gegessen und widmeten sich nun einer Flasche mit argentinischem Rotwein. Die Marilu hatte am frühen Morgen in der kolumbianischen Hafenstadt, nördlich von Cartagena festgemacht. Danach waren die Passagiere von Bord gegangen. Unter ihnen hatten sich auch Melba und Claudio befunden. Luis hatte es vorgezogen noch einen Tag in der Nähe eines Arztes zu verbringen. Die ganze Nacht hatte er ruhig geschlafen und Komplikationen waren glücklicherweise keine aufgetreten.
Am Nachmittag hatte das Kreuzfahrtschiff einige, fremde Besucher an Bord gehabt. Einheimische, die sich das prachtvolle Schiff einmal aus nächster Nähe ansehen wollten. Gegen Eigenwerbung hatte die Reederei niemals etwas einzuwenden.
Claudios Verhältnis zu Melba trat auf der Stelle. Es bot sich kaum eine Gelegenheit, ihr näher zu kommen. Allerdings ließ sie ihn irgendwie auch nicht richtig an sich heran. Es war eindeutig, dass sie mehr an dem Kapitän interessiert war, als an ihren beiden Reisebegleitern. Trotzdem setzte er noch auf die Faszination der Karibik und erhoffte sich insgeheim, spätestens in der Dominikanischen Republik bei ihr landen zu können.
Obwohl sie im Freien saßen, waren sie geschützt vor den lästigen Insekten, weil die komplette Terrasse des Restaurants mit Moskitonetze ausgestattet war, die durch Bambussprossen auf Spannung gehalten wurden. Neben dem positiven Schutzeffekt, wirkte dies zudem rustikal und sehr exotisch. Hier genossen die Touristen die beeindruckende Aussicht auf die endlose Fläche des Meeres, auf der sich das grelle Licht der langsam untergehenden Sonne widerspiegelte.
„Es ist wunderschön hier“, sagte Melba, während sie die würzig, sanfte Meeresluft einatmete. „Und so ausgewogen, verstehst du was ich meine?“
Claudio nickte ihr zustimmend zu, obwohl er ihr nicht genau zugehört hatte. Das Stadtzentrum mit den vielen, hell erleuchteten Straßen und Plätzen, auf denen das Leben pulsierte, lag weit von ihnen entfernt. Und genau, das war es auch: Kein Telefonanruf, kein Lärm und keine Menschen, die dauernd etwas von einem wollten. Keine Probleme von gestern und auch keine neuen, die für den kommenden Tag drohten. Sie saßen einfach nur da und genossen den Augenblick.
„So muss die viel zitierte heile Welt ausschauen, oder was meinst du?“ fragte Claudio nach einiger Zeit.
„Nennen wir es lieber einen heilen Moment in dieser sonst so kaputten Welt“, antwortete Melba. „Das trifft eher den Punkt. Manchmal werden diese Momente in unserem Leben immer seltener, bis es sie dann gar nicht mehr gibt. Und das ist dann der Anfang vom Ende. Sie müssen da sein und gehören zum Leben wie Essen und Trinken. Ansonsten kann man nicht existieren!“
Diesmal glaubte er zu wissen, was sie meinte. Dennoch fragte er: „Sprichst du von deiner Beziehung zu Javier?“
„Ganz genau. Wir kennen uns schon so lange und dachten ans Heiraten, aber dann wurde unsere Beziehung mehr und mehr von seiner Arbeit in der Anwaltskanzlei bestimmt. Es ging einfach nicht mehr, und genau aus diesem Grund bin ich jetzt hier. In diesem Restaurant und auf der Marilu, und aus demselben Grund werde ich später mit euch durch die Karibik reisen. Ich bin auf der Suche, nach diesem speziellen Gefühl der Ausgeglichenheit.“
„Und, wirst Du es finden?“
„Ja, ich denke schon. Jetzt zum Beispiel und selbst auf der Marilu, unter mehr als tausend Passagieren hat es schon solche Augenblicke gegeben.“
Mit Genugtuung bemerkte er, wie sehr sie die Reise, mit allem Drum und Dran doch zu beeindrucken schien und Santa Martha war ein elektrisierender Ort. Besser konnte die Sache gar nicht laufen. Claudio beschloss noch in der kommenden Nacht die Festung im Sturm zu erobern. Ohne Zweifel, sie würde sich nach dem Abendessen bald in ihre Kabine zurückziehen wollen, ein Umstand, der ihm entgegenkam. Er wollte versuchen, sie unter einem Vorwand in ihrer Kabine zu besuchen und befand er sich erst einmal dort..., würde sie ihn kaum mehr zurückweisen können.
Denn wozu habe ich sie schließlich eingeladen? Damit sie sich den ganzen Tag mit Luis unterhält, oder den Kapitän anhimmelt…?