Bei Ebbe geht das Meer nach Hause. Marie Wendland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Wendland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748547679
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kam Stina Patrick zur Hilfe.

      „Davon gehe ich aus, das ändert aber nichts am Sachverhalt. Hätte er hier gefegt, wäre ihm dieser Scherbenhaufen aufgefallen. Und selbst Patrick wäre dann wohl auf die Idee gekommen, ihn zu entfernen.“ Spätestens jetzt war Klara unter der Gürtellinie angekommen. Aber in solchen Momenten war ihr das egal. „Patrick, fegen. Jetzt, heute Abend und die nächsten zehn Abende.“ Hätte Patrick ihr vor fünf Minuten noch zu gerne vorgehalten, dass er schon jetzt nicht wusste, wie er alle seine Aufgaben in einer Schicht schaffen sollte, blieb ihm der Widerspruch jetzt im Hals stecken.

      Klara drehte sich um, stürmte in ihre Wohnung, schnappte nach ihrer Handtasche, stürmte vorne aus dem Gebäude und schwang sich auf ihr Fahrrad. Als sie sich entfernt hatte, löste sich die Schockstarre über Idas Haus. Julia begann die Tische einzudecken. Patrick suchte fluchend nach Handfeger und Schaufel. Die Spatzen schilpten, die Möwen krächzten. Nur Stina stand noch immer da, die goldfarbene Packung in der Hand. Kaffee würde es heute Morgen wohl vorerst nicht geben.

      ~

      Klara radelte zügig Richtung Inseldorf. Die braunen Reifen ihres weißen Fahrrads mit dem braunen Ledersattel, den passenden braunen Griffen und einem geflochtenen Weidenkorb am Lenker surrten auf dem glatten Asphalt. Der frische Wind kam ihr frontal entgegen und machte das Treten anstrengend. Er kühlte aber auch ihr Gesicht und Klara beruhigte sich. Es mussten noch einige Kleinigkeiten für das Mittagsgeschäft besorgt werden, das konnte sie im Dorf gleich erledigen. Die meisten Lebensmittel und Verbrauchsgüter für das Hotel wurden zwar am Festland bestellt, mit dem Frachtschiff geliefert und von einem Fuhrunternehmer per Elektrokarre direkt vor ihrer Tür abgestellt. Trotzdem ging immer mal wieder eine Zutat aus und musste in einem der beiden kleinen Supermärkte nachgekauft werden. Das hatte Klara heute Vormittag sowieso vorgehabt, nur ihr Abgang war so nicht geplant gewesen.

      Sie wusste selbst nicht genau, warum sie manchmal so wütend werden konnte. Sie wusste nur, dass es ihr nicht gefiel. Inhaltlich bereute sie die Sache dabei überhaupt nicht. Die Vorstellung, wie ein kleiner Junge eine Glasscherbe in seine patschigen Händchen nahm und Blut zwischen seinen kleinen Fingern hervorrann, ließ sie immer noch erschaudern. Nein, sowas durfte nicht passieren! Aber dass sie wegen so einer Sache so wütend wurde, dass es ihr schwer fiel sich zu beherrschen, war zutiefst unprofessionell.

      Trotzdem passierte es immer wieder. Plötzlich war da etwas Dunkles in ihr, das sich rasend schnell ausbreitete und ihr Herz und ihren Kopf besetzte. Versuchte Klara dieses Dunkel zu fassen, fand sie nur ein Gefühl von Angst, das sie in ihr Herz gesperrt hatte und das dort über die Jahre einen hässlichen Fleck hinterlassen hatte. Angst vor dem Unkontrollierbaren. Angst vor dem Unumkehrbaren. Angst vor der Hilflosigkeit. Klara versuchte sich gerne einzureden, dass dieses Gefühl irgendwann einfach da gewesen wäre, irgendeine hormonbedingte Störung. Aber tief in ihrem Inneren wusste sie, wann es angefangen hatte, wusste es auf das Jahr, den Tag, die Stunde, die Minute genau.

      Ihr Handy vibrierte. Sie hielt an, zog es aus der Jackentasche und sah Ralphs Grinsen auf dem Display.

      „Hi!“, begrüßte sie ihn und rang nach Luft. Sie war von der Fahrt gegen den Wind ziemlich außer Atem.

      „Hallo, mein Schatz. Störe ich vielleicht gerade bei irgendwas?“ Sie sah das Grübchen, das sich dabei über seinem rechten Mundwinkel bildete, vor ihrem inneren Auge und musste schmunzeln. Typisch Ralph!

      „Nein, du weißt doch, ich schalte mein Handy aus, wenn wir allein sein wollen“, entgegnete sie mit ernster Stimme, aber ihre Augen blitzten fröhlich.

      „Jetzt beflügele die Eifersucht deines dich abgöttisch liebenden Ehemanns nicht auch noch! Du weißt doch, was Fernbeziehungen für psychische Belastungen auslösen können.“

      „Ach, in Hamburg findest du bestimmt eine nette Therapeutin. Außerdem führen wir keine Fernbeziehung, du bist nur vier Tage die Woche weg.“ Jetzt musste sie doch laut lachen und Ralph lachte sofort mit. Sie liebten diese Neckereien beide.

      Plötzlich tauchten die unfreiwillige Einwegflasche und das untrainierte Hirn von Patrick (hatte sie das wirklich gesagt?) aber wieder in ihrem Kopf auf und Klara verstummte. Ralph spürte ihren Stimmungsumschwung sofort. Auch typisch!

      „Was hast du denn heute schon erlebt? Es ist doch noch nicht mal 9:00 Uhr!“

      „Im Café lagen Glasscherben. Ich hab‘ Patrick ziemlich angefahren.“ Ralph kannte sie gut genug, um zu wissen, was das bedeutete.

      „Der Kerl ist Bodybuilder, du solltest wirklich vorsichtig sein, Schatz. Nein, Spaß beiseite, er macht auf mich keinen empfindlichen Eindruck. Er wird es also überleben.“ Klara wusste sehr zu schätzen, dass Ralph sie aufheitern wollte, und es gelang sogar ein wenig. Trotzdem hatte selbst ihr wunderbarer Ralph nur eine vage Ahnung von dem Dunkel in ihrem Herzen.

      Kapitel 5

      Edinburgh, Mai 2018

      Es war Mai geworden. Die unzähligen rosa Kirschblüten, die die ehrwürdigen Gemäuer lebendig gemacht hatten, waren längst einem satten Grün gewichen. Die Temperaturen stiegen und mit ihnen die Anzahl der Touristen. Das gefiel Ally. Je mehr Touristen kamen, desto oberflächlicher und gleichgültiger wurde die Stadt.

      Sonst hatte sich nichts verändert. Und egal wie ausdauernd Lau­rel auch nervte, Ally gab sich alle Mühe, dass das auch so blieb. Vogelstraußtaktik nannte ihre Betreuerin das. Ally verstand aber beim besten Willen die ganze Aufregung nicht. Ok, es waren nur noch drei Wochen bis zu den Abschlussprüfungen. Na und? Ally würde schon durchkommen und das musste bei einem Blick auf ihre letzten Zeugnisse auch Laurel klar sein.

      Ally war stets eine gute Schülerin gewesen und das hatte zwei Gründe. Zum einen war ihr das Lernen von Anfang an leichtgefallen. Sie wusste selbst nicht so recht, warum das so war, aber wenn das Leben es schon einmal gut mit einem meinte, sollte man ja bekanntlich nicht zu viel nachfragen. Zum anderen hatte sie schnell erkannt, dass die Lehrer einen in Ruhe ließen, wenn man nicht aus der Reihe tanzte. Also erledigte sie die Hausaufgaben, erschien morgens pünktlich und antwortete, wenn sie gefragt wurde. Letzteres kostete sie dabei die größte Überwindung, was dazu führte, dass sich Ally tatsächlich nur dann am Unterricht beteiligte, wenn sie ausdrücklich gefragt wurde. Ausgezeichnete schriftliche Leistungen trafen somit auf geradeso ausreichende mündliche und sicherten Ally im Klassenschnitt regelmäßig einen Platz im guten Mittelfeld. Und das führte wiederum dazu, dass auch ihre Klassenkameraden sie in Ruhe ließen. Nur Streber und Loser fielen auf.

      Ally war sich sicher, dass sich dieses Muster auch bei den anstehenden Prüfungen fortsetzen würde. Und mehr als einen befriedigenden Abschluss wollte sie auch gar nicht. Wozu auch?

      „Hey, Swirrel, wie weit is‘ es noch?“, riss Josh sie aus ihren Gedanken und sie war ganz froh darüber. Vielleicht hätte sich sonst doch noch ein winziger, aber hartnäckiger Gedanke an die Zukunft in ihren Kopf verirrt.

      „Dauert noch. Du weißt doch, wie weit es nach Leith ist!“, entgegnete Ally und beschleunigte ihre Schritte. Crispy neben ihr fing unmittelbar an zu schnaufen wie eine historische Dampflock. Er mochte zwar spurtstark sein, aber Kondition hatte der Typ eindeutig keine!

      Sie war nicht gerne mit dem Kastenbrot und der kleinen Farm unterwegs. Die beiden schafften es immer wieder, von allen Seiten schräg angeguckt zu werden. Ally konnte das nachvollziehen, sie mochte die beiden eigentlich ja auch nicht.

      „Warum rennen wir nochmal mitten in der Nacht in den Hafen?“, fragte Josh jetzt und blieb stehen.

      „Weil Swirrel da ein schlecht gesichertes Büro aufgetrieben hat. Wieder nicht zugehört, oder was?“, entgegnete Crispy entnervt, blieb aber auch stehen, erleichtert über die kurze Pause.

      Und weil ihr euch nicht in der Lage gefühlt habt, da alleine hin zu finden. Noch nicht mal mit Navi, fügte Ally in Gedanken hinzu. Sie standen in einer Wohnstraße auf halbem Weg zum Hafen Leith. Ally wollte sich gerade wieder zum Gehen wenden, als Crispy sie am Arm zurückhielt und nach vorne deutete.

      „Ja, und?“, flüsterte sie. Vielleicht fünfzig Meter vor ihnen war ein Pärchen in ihre Straße