Bei Ebbe geht das Meer nach Hause. Marie Wendland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Wendland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748547679
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eigentlich froh, dass sie dieses Alter hinter sich hatte. Damals hatte es Ralph noch nicht in ihrem Leben gegeben und wer weiß, wo sie heute ohne ihn wäre. In den vergangenen Jahren hatte sich alles zum Guten gewendet. Alles, außer dieser einen Sache, die nie wieder gut werden konnte. Klara erinnerte sich selbst daran, dass sie mit ihrem Leben, so wie es heute war, sehr zufrieden sein konnte.

      Als sie das Apartment verließ und durch die noch menschenleeren Gänge und vorbei an der Rezeption Richtung Terrasse ging, fiel ihr dieser Gedanke leicht. Alles war nicht nur blitzsauber, sondern auch geschmackvoll und mit viel Liebe zum Detail eingerichtet. Klara hatte Stunden auf Märkten und in kleinen Boutiquen verbracht, um die Lampenschirme, Spiegel, Kerzenhalter und Zuckerdosen zusammenzutragen. Jetzt bildeten alle Teile zusammen mit den schlichten Holzmöbeln und hellen Stoffen ein harmonisches Ganzes. Ja, hier konnten die Gäste sich wohlfühlen.

      Die Liebe zu Hotels begleitete Klara bereits seit ihrer Kindheit. Deswegen hatte sie nach dem Abitur zum großen Entsetzen ihrer Familie und Lehrer eine Ausbildung im Hotelgewerbe begonnen. Wie konnte sie nur? Bei ihren Abschlussnoten hätte sie Medizin oder Jura studieren können. Aber das Gefühl, sich in frisch gestärkte Bettwäsche fallen zu lassen, oder der Anblick eines liebevoll arrangierten Frühstücksbuffets, konnten ihr ein Lächeln ins Gesicht zaubern, egal wie mies der Tag auch gewesen sein mochte. Dieses Lächeln auch anderen zu entlocken, empfand sie als fast ebenso edle und sinnvolle Aufgabe, wie Kranke zu heilen oder Angeklagte zu verteidigen. Diese Leidenschaft, ihr Ehrgeiz und ihr Intellekt hatten dazu geführt, dass sie schnell in der Branche fußfasste. Sie verstand ein Hotel als das komplexe und empfindliche System, das es eben war und das nur funktionierte, wenn alle Rädchen abgestimmt ineinandergriffen. Das bedurfte einem perfekten Plan und dessen disziplinierter Umsetzung und dafür war Klara genau die Richtige. Zudem waren die Gäste schon seit ihrem ersten Arbeitstag an regelmäßig dem Charme ihrer blauen Augen, ihres Lächelns und ihrer fein gedrechselten Sätze erlegen.

      Aber so höflich und charmant sie den Gästen gegenüber war, so unnachgiebig und herrisch konnte sie ihre Kollegen und später ihre Mitarbeiter behandeln. Wenn Klara wusste, wie etwas funktionieren musste (und sie wusste es in den allermeisten Fällen tatsächlich), dann sagte sie es auch. Das hatte sie sich schließlich geschworen und sie hielt sich daran. Auch wenn es ihr anfangs so schwergefallen war, dass sie sich manche Stunde weinend auf dem Schulklo verstecken musste, war es ihr irgendwann wirklich vollkommen gleichgültig geworden, was andere über sie dachten. Ja, wer nicht angreifbar sein will, wird eben hart. Dass diese Einstellung sie irgendwann in die Selbstständigkeit führen würde, hatte Ralph ihr schon prophezeit, lange bevor Klara selbst diese Idee gehabt hatte. Heute wusste sie, dass es der richtige Schritt gewesen war. Als Chefin war sie zwar gefürchtet, aber geachtet, als Angestellte aber war sie mit wachsender Erfahrung immer häufiger angeeckt.

      Auch war es die richtige Entscheidung gewesen, auf diese Insel, die ihr an jenem schicksalhaften Nachmittag damals im Oktober quasi das Leben gerettet hatte, zurückzukehren. Dass es dazu gekommen war, kam Klara manchmal wie ein kleines Wunder vor. Dabei wusste sie natürlich, dass es so etwas wie Wunder rational betrachtet überhaupt nicht gab. Trotzdem erinnerte sie sich immer gerne an den Tag vor inzwischen elf Jahren zurück, an dem sie dieses Haus, das heute ihr Hotel war, entdeckt hatte. Der weniger rationale Teil von ihr, der klein, aber hartnäckig war, hatte sofort gewusst, dass das vernachlässigte Gebäude einmal ihr Hotel werden würde.

      ~

      Es war damals eine besonders stressige Zeit gewesen, was für Klara immer bedeutete, dass sie früher oder später Meerweh bekam. Unzählige Orte an der Nord- und Ostsee hatte sie mit Ralph in den Jahren zuvor bereits erkundet: Egal ob Rügen, Sylt, Büsum oder Norderney, Hauptsache der Wind wehte und der Horizont war endlos. Aus irgendeinem Grund war Klara aber ausgerechnet in diesem Jahr Wangerooge wieder eingefallen.

      Ein paar Wochen später hatten die Klassens dann an einem windigen Freitag im November auf dem Oberdeck der Fähre gestanden. Als Klara die eckige Kontur des Westturms, die schemenhaft aus dem herbstgrauen Dunst auftauchte, nach fünfundzwanzig Jahren wiedersah, verspürte sie ein merkwürdiges Kribbeln in der Magengegend. Sie musste wirklich total überspannt sein! Gut, dass jetzt ein herrlich faules, verlängertes Wochenende vor den beiden lag. Am nächsten Tag schlenderten sie nach einem ausgiebigen Frühstück zunächst durch die kleine Einkaufsstraße, bevor sie zu einem ausgedehnten Streifzug über die Insel aufbrachen. Der Himmel war immer noch grau, die Heide vertrocknet und die Möwen schrien klagend, aber Klara merkte schon nach wenigen Metern, wie die Weite der Nordsee mit ihrer rauen Schönheit ihre Kraftreserven auffüllte. Sie folgten den rot gepflasterten Fußwegen immer weiter, bis sie das westliche Ende der Insel erreicht hatten. Hier war die Dünenkette zur Seeseite hin mit Beton, Asphalt und Schutt befestigt, um die Nordsee daran zu hindern, sich die Insel bei Sturmfluten Stück für Stück zurückzuholen. Stand man auf dieser Befestigung, die die Insulaner Deckwerk nannten, konnte man bei klarer Sicht westlich die Nachbarinsel Spiekeroog ausmachen, drehte man sich um 180°, hatte man einen guten Überblick über die Insel selbst. Neben dem Westturm aus dunklem Backstein und dem rot-weiß geringelten neuen Leuchtturm gab es im Inselwesten nur wenige Gebäude. Keine weiß getünchten Villen, die an Wangerooges Vergangenheit als mondänes Seebad erinnerten, oder schnuckelige Einfamilienhäuser standen hier, sondern praktische Bauten, die gemacht waren, um dem rauen Klima zu trotzen.

      Klaras Blick wanderte langsam weiter Richtung Anleger, da sah sie es zum ersten Mal: Etwas abseits der anderen Gebäude, duckte sich ein Haus aus rotem Backstein in die Dünen. Ohne dass sie es hätte benennen können, hatte dieses Haus etwas an sich, dass sie wie magisch anzog. „Komm‘, Schatz, das schauen wir uns mal an!“ Sie gingen auf dem Deckwerk weiter, bis sie einen verschlungenen Dünenpfad erreichten, der direkt auf das Haus zuführte. Klara zögerte.

      „Was ist denn?“, fragte Ralph. „Du wolltest es dir ansehen, also gehen wir hin.“

      „Vielleicht ist das Privatgelände“, überlegte die brave Klara und sah sich so unbehaglich um, als würde sie einen Banküberfall planen.

      „Steht hier ein Schild? Nö! Dann also los.“ Damit zog Ralph sie am Ärmel und schon nach wenigen Minuten hatten sie das Haus erreicht. Der Bau war länglich und schlicht und das Dach weit nach unten gezogen. Das Besondere aber waren die Fenster, die in einem leuchtenden Meerblau gestrichen waren. Hier und da blätterte die Farbe ab.

      „Ich denke, hier wohnt keiner mehr“, meinte da auch Ralph und ging ungeniert um das Haus herum. Klara folgte ihm und sah, dass sich nach hinten heraus ein rechtwinkliger Anbau an das Haupthaus anschloss. Dieser wiederum reichte bis zu einem großen Holzschuppen heran, den sie für eine Scheune gehalten hätte, würde sie nicht wissen, dass es auf der Insel keine Landwirtschaft gab. Alles wirkte alt und vernachlässigt, man spürte aber noch deutlich die liebevolle Hand, die dieses Fleckchen Erde einst geschaffen haben musste. Sie gingen noch ein Stück weiter und entdeckten an der Hausseite, die zur Straße gerichtet war, ein rotes Schild mit weißer Schrift: Zu verkaufen. Ralph deutete darauf und zog vielsagend die Augenbrauen hoch.

      „Quatsch!“ Klara schüttelte energisch den Kopf, ging aber noch einmal zum Haus zurück. Durch eine verstaubte Scheibe sah sie drinnen etwas, das nach einem Verkaufstresen aussah, sowie ein Gewirr aus Stühlen und einigen Tischen. „Du, ich glaube, das war mal ein Café“, überlegte sie und konnte nicht vermeiden, dass ihre Stimme aufgeregt klang. Ralph hatte bereits sein Handy gezückt und begann zu tippen. „Was machst du?“, fragte Klara skeptisch.

      Ralph grinste. „Ich ruf‘ den Makler an.“ Er deutete auf die Telefonnummer auf dem roten Schild.

      „Das ist verrückt!“

      „Warum?“ Ralph zuckte die Schultern. „Nur mal gucken kostet ja nichts.“ Dachte Klara später an dieses Moment zurück, beschlich sie jedoch der Verdacht, dass Ralph von Anfang an die Chance gewittert hatte, sie endlich in die Selbstständigkeit zu schubsen.

      Der Makler wohnte nicht weit von Harlesiel entfernt und wollte sich tatsächlich schon am nächsten Tag mit ihnen für eine Hausbesichtigung treffen. „Hab‘ ich noch nicht lange im Angebot“, erklärte er, als er umständlich die von der Feuchtigkeit verzogene Tür aufschloss, „stand aber lange leer, bevor sich die Erben jetzt zum Verkauf entschlossen haben.“