Bei Ebbe geht das Meer nach Hause. Marie Wendland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Wendland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748547679
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aus, winkte zum Abschied und verschwand. Auch Ally machte sich wieder auf den Weg.

      Sie hatte es aber nicht eilig, zurück in ihr Bett zu kommen. Aufgeputscht von Adrenalin war sie nicht im Geringsten müde. Sie schlenderte durch die Straßen und nahm dabei gierig jedes kleinste Detail wahr. Wer wusste schon, wofür es nützlich sein konnte. In einer ruhigen Wohnstraße war trotz der späten Stunde ein Fenster im Erdgeschoss erleuchtet. Ally spähte hinein und sah ein Kind mit seiner Mutter am Küchentisch sitzen. Die Augen des kleinen Jungen waren vom Weinen noch gerötet, jetzt umklammerte er aber zufrieden eine dampfende Tasse mit Kakao oder heißer Milch, wie Ally vermutete. Bestimmt hatte er schlecht geträumt und die Mutter tröstete ihn. Ally betrachtete die Szene wie einen Nachrichtenbeitrag über ein verheerendes Erdbeben in Südostasien. Sie wusste, was das Geschehen für die Beteiligten bedeuten musste, aber nachempfinden konnte sie es nicht. Es war einfach viel zu weit weg.

      Ohne so recht zu wissen, wohin sie ging, fand sie sich irgendwann auf dem noch menschenleeren Platz vor dem Edinburgh Castle wieder. Von hier konnte sie fast die ganze Stadt überblicken. Über den Dächern im Osten wurde bereits ein schmaler Streifen Rosa sichtbar. Ally kletterte auf eine Mauer, kuschelte sich in ihre Jacke und sah zu, wie die Sonne immer weiter aufstieg und die gelblichen Fassaden, die für die Stadt typisch waren, zum Leuchten brachte. Ganz langsam erwachte die Stadt unter ihr zum Leben. Was konnte es schon Schöneres geben als so einen Moment?

      Kapitel 4

      Wangerooge, April 2018

      Klara hatte die Terrasse noch nicht ganz erreicht, da hörte sie schon laute Stimmen, Pfiffe und noch lauteres Gelächter aus dem Café. Sie beschleunigte ihre Schritte und als sie eintrat, verstummte das Gegröle schlagartig. Julia wischte gerade die Tische im Frühstücksbereich, Stina werkelte an der Kaffeemaschine und Patrick stand daneben und stützte mit seinem muskulösen Oberkörper die Wand ab.

      Er stützte die Wand ab? War das Gebäude denn etwa einsturzgefährdet? Klara nahm sich vor, ihm umgehend eine wertschöpfendere Aufgabe zuzuteilen. Zuvor musste sie hier aber einiges klarstellen.

      „Guten Morgen! Ich hoffe, ich störe nicht?“ Klara musste gar nicht laut sprechen, um Autorität auszustrahlen. Augenblicklich schienen Stina, Julia und Patrick den Atem anzuhalten. Die drei waren Anfang zwanzig und wollten hier für ein paar Monate jobben, bevor das Studium losging. Die Betonung lag hier ganz klar auf „wollten“, denn die Abbrecherquote bei solchen studentischen Aushilfen war recht hoch. Vielen wurde Wangerooge nach einigen Wochen schnell zu klein. Insel war eben nicht für jeden etwas, genauso wenig wie Klaras Anforderungen.

      „Unsere Gäste kommen hier her um sich zu erholen. Egal, ob das heißt morgens auszuschlafen oder zu meditieren, Ruhe ist dabei äußerst hilfreich. Wenn jemand von euch damit ein Problem hat, empfehle ich einen Job auf dem Hamburger Kiez.“

      Patrick sah kurz danach aus, als würde er diese Möglichkeit ernsthaft in Betracht ziehen. Dann könnte auch er vielleicht mal wieder ausschlafen. Seit er Anfang des Monats hier angefangen hatte, war sein Biorhythmus total durcheinander!

      Klara war aber noch nicht fertig: „Ich gehe davon, dass sich jeder von euch gut daran erinnert, was ich euch an eurem ersten Arbeitstag gesagt habe.“

      Julia musterte eingehend die Maserung des Holztisches vor sich, als würde sie dort nach ihrer Erinnerung suchen. Das waren aber auch wirklich zu viele Informationen gewesen. Wer sollte sich denn das alles merken, was man hier beachten musste?! Sie hatte sich den Job im Café irgendwie gechillter vorgestellt!

      Zum Glück fügte Klara hinzu, worauf sie hinauswollte: „Ich habe euch gesagt, die Arbeit hier soll allen Spaß machen. Das funktioniert aber nur, wenn sich jeder an die Spielregeln hält. Dazu gehört auch, vor lauter Spaß das Arbeiten nicht zu vergessen. Deswegen schlage ich vor, ihr legt jetzt einen Zahn zu, damit die Küche das Frühstück anrichten kann.“ Dass das keinesfalls als Vorschlag gemeint war, war wohl jedem klar. „Patrick, du machst schon mal die Terrasse fertig!“ Patrick löste sich von der Wand (die wie durch ein Wunder tatsächlich nicht einstürzte) und latschte nach draußen.

      Stina wischte ein letztes Mal über das glänzende Chrom der großen Kaffeemaschine und schnitt dann ein goldfarbenes Paket auf, um Kaffeebohnen aufzufüllen. Sofort verdrängte der intensiv aromatische Duft jeden Hauch von Reinigungsmittel, der noch in der Luft lag. Weiter kam Stina aber leider nicht. Egal von welcher Seite sie die Maschine auch untersuchte, eine Öffnung für Kaffee fand sie nicht. Sie seufzte. Im Gegensatz zu ihren beiden Mitstreitern fand sie den Job hier ziemlich cool. Wenn es jetzt noch wärmer wurde, könnte sie sich nach ihrer Schicht an den Strand legen, einmalig! Deswegen war sie fest entschlossen, diesen Job bis zum Ende ihres Vertrags im Oktober zu behalten. Wenn nur diese Kaffeemaschine sie nicht ständig so dumm dastehen ließe!

      „Klara“, begann sie zögerlich und spähte zu ihrer Chefin hinüber, die gerade die Tafel neben der Tür mit den Gerichten des Tages beschrieb, „ich glaub‘, ich brauch‘ nochmal Hilfe.“

      „Klar, bin sofort bei dir!“ Stina stellte überrascht fest, dass Klaras Stimme nicht mehr im Geringsten sauer klang. Wirklich böse war diese auch gar nicht gewesen. Sie hatte inzwischen zehn Jahre Erfahrung mit studentischen Aushilfen, wusste, wie diese tickten, und hatte sogar Verständnis dafür. Trotzdem wusste sie auch, wie sie mit ihnen reden musste, damit der Laden hier lief. Gerade am Anfang der Saison war es besonders wichtig streng zu sein, sonst würde sie den Sommer über nur Ärger haben. Und war erstmal Hauptsaison hatte sie dazu weder Zeit noch Nerven.

      Klara unterstrich „Zwiebelsuppe mit Käse-Croutons“ und „Schwedische Manteltorte“ jeweils mit einem schwungvollen Schnörkel, dann wischte sie sich die Kreide von den Händen und wollte Stina zur Hilfe eilen. Als sie aber den Tresen umrundete, ertönte ein lautes Klirren und Klara blieb wie angewurzelt stehen.

      ~

      Die Stille, die daraufhin eintrat, war so bedrohlich wie die vor einem schweren Gewitter. Selbst die Möwen über den Dünen und die Spatzen auf der Terrasse schienen ihr Krächzen und Schilpen vorsorglich eingestellt zu haben. Klara machte vorsichtig einen Schritt aus den Glasscherben heraus, in die sie zuvor getreten war, und zupfte das Flaschenetikett ab, das unter ihrem grauen Sportschuh mit den neonorangen Streifen kleben geblieben war. Holunderblütenlimonade. Mehrwegflasche. Naja, das jetzt wohl nicht mehr. Klara holte mehrmals tief Luft, dann befahl sie langsam, sehr deutlich und so laut, dass auch Patrick auf der Terrasse sie hören konnte: „Herkommen. Alle.“

      Hatten die drei zuvor schon vermutet, dass Klara sauer gewesen war, wussten sie in diesem Moment, dass sie falsch gelegen hatten. Jetzt war Klara sauer!

      „Wer von euch war gestern zum Fegen eingeteilt?“ Alle Blicke gingen zu Boden, als wollten sie sich selbst davon überzeugen, dass dieser eindeutig nicht gefegt worden war. „Ihr wisst, ich habe den Plan gemacht, also zwingt mich nicht nachzusehen.“

      „Das war wohl ich.“ Patrick stand trotz seiner Größe und Statur da wie ein Erstklässler.

      „Und?“

      „Es könnte wohl sein, dass ich das gestern nicht gemacht habe“, murmelte Patrick. Julia sog scharf die Luft ein, als würde sie einen Thriller verfolgen.

      „Warum?“ Patrick trat von einem Bein aufs andere und versenkte die Hände in den Taschen seiner tiefsitzenden Jeans. „Ich habe dich was gefragt. Warum wurde mein Café gestern nicht gefegt?“ Klara schaffte es problemlos, einen nicht gefegten Boden auf eine Ebene mit einem versehentlich freigesetzten Virus zu heben.

      „Ich hab‘ halt geguckt… Und da sah das alles sauber aus. Also sauber genug. Und da hab‘ ich gedacht, alle zwei Tage fegen reicht dicke.“

      „Vielleicht solltest du neben deinen Muskeln zur Abwechslung mal dein Hirn trainieren.“ Dass Klara zu zimperlich war, konnte ihr keiner nachsagen. „Erstens: Wenn ich dir eine Aufgabe gebe, wird sie erledigt. Zweitens: Es ist mein Hotel, das heißt, ich entscheide, wie sauber hier der Boden zu sein hat. Und drittens: Hier geht es nicht nur um Sauberkeit. Was wäre gewesen, wenn ich Sandalen angehabt hätte? Oder später ein Hund in die Scherben getreten wäre? Oder ein kleines Kind sie in den Mund gesteckt