Bei Ebbe geht das Meer nach Hause. Marie Wendland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Wendland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748547679
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ist der Preis aber auch fair, obwohl das Grundstück allein schon ein Vermögen wert wäre.“ Mit seiner ersten Aussage hatte er dabei zweifellos Recht: Das wenige Mobiliar war alt und abgenutzt, die Wände fleckig und die Fenster zugig. Jedoch waren die Zimmer schön geschnitten und das Haus war von innen geräumiger, als es von draußen erschien.

      Klaras Fantasie lief auf Hochtouren und in ihrem Kopf explodierten die Bilder. „Hier unten müsste wieder ein Café rein und draußen hat man dann eine herrliche Sonnenterrasse in den Dünen. Und in den Anbau kommen Gästezimmer.“ Der Makler führte sie jetzt durch einen Flur ins erste Obergeschoss und Klara erstarrte. „Und hier würden wir wohnen“, flüsterte sie und griff nach Ralphs Hand. In der Tat war das Zimmer, in dem sie gerade standen, außergewöhnlich: Mehrere Dachfenster ließen den Raum selbst an diesem trüben Novembertag hell erscheinen. In die Dachschräge war Richtung Westen ein großer Giebel mit einem halbrunden Fenster eingelassen, das den Blick auf die Dünen freigab. Vor allem aber konnte man von hier aus das Meer sehen, das in diesem Moment ruhig und einladend da lag, als würde es auf sie warten.

      Als die beiden am Ende des Tages in einem gemütlichen Insellokal aufs Abendessen warteten, sprudelte Klara immer noch vor Ideen. Alles rein hypothetisch versteht sich.

      „Soso, wollen Sie hier also ein Haus kaufen“, fragte der Wirt, als der die Getränke brachte, ohne anstandshalber wenigstens so zu tun, als hätte er nicht mitgehört.

      „Das war nur so ein Gedanke, wahrscheinlich eher nicht“, schränkte Klara gleich ein, aber Ralph nutzte die Gelegenheit und erkundigte sich, ob der Mann etwas über das leerstehende Haus am Westturm wusste.

      „Soso, ihr meint Idas Haus“, erwiderte dieser, als würde das alles erklären.

      „Wer ist Ida?“, fragte jetzt auch Klara neugierig nach.

      „Wer war Ida, ist wohl eher die Frage. Ida Paulsen, sie hat viele Jahre in dem Haus gewohnt und hatte auch lange so’n kleinen Kiosk da.“ Klara fiel ein, dass sie während der Klassenfahrt damals dort Erdbeermilch gekauft hatten. Es hatte aber auch Spülmittel, Dosentomaten und Zahnpasta dort gegeben. „Anfang der Achtziger ist ihr der Laden dann zu viel geworden“, fuhr der Wirt fort, „da war sie aber schon weit über siebzig. Ist dann aber noch bis zu ihrem Tod in dem Haus geblieben. 2000 war das, da erinner‘ ich mich noch genau dran.“

      Idas Haus. Ein freudiger Schauer lief Klara über den Rücken. Das Haus hatte also wirklich eine Seele.

      „Es gab auch ein kleines Café in Idas Haus, oder?“, erkundigte sie sich, als der Wirt wenig später die gebratenen Schollen (die wirklich vorzüglich waren) servierte.

      „Joa, kann schon sein, dass die alte Ida da mal Kaffee verkauft hat“, brummte er. „Heute ist sowas dann ja immer gleich ein Café und es gibt Cappuccino und so’n Gedöns.“ Er verschwand, um einen anderen Tisch zu bedienen, tauchte aber wenig später wieder auf.

      „Soso, Hamburger seid ihr also und wollt Idas Haus kaufen“, stellte er noch einmal fest und sah sie argwöhnisch an. „Wollt ihr dann bestimmt abreißen und so schicke Apartments bauen lassen.“

      „Nein!“, rief Klara aus tiefstem Herzen. „Das Haus muss stehen bleiben. Ich würde gerne ein kleines Hotel daraus machen. Mit einem Café natürlich“, fügte sie fast schüchtern hinzu.

      „Soso, ein kleines Hotel willst du daraus machen“, echote der Wirt und rieb sich den Schnurrbart. „Stell‘ dir dat man nicht so einfach vor, Deern. Da brauchst du mehr als so’n bisschen schaumige Milch. Die Touris müssen da erst mal hinkommen, in den Westen. Und wir Insulaner sind schon so’n spezielles Völkchen. Und im Winter kann‘s schon mal ungemütlich und einsam werden. Und wenn ich erst an das Haus denke…oh, oh.“ Er schüttelte sorgenvoll den Kopf und brachte ihnen unaufgefordert zwei Schnaps. „Hier, könnt ihr wohl brauchen. Aber Respekt, wenn ihr’s wirklich versuchen wollt.“

      Zuerst musste Klara sich ein Schmunzeln verkneifen. Der Mann war anscheinend nicht nur reichlich konservativ, sondern hielt sie augenscheinlich auch für ein unbedarftes, kleines Blondchen aus der Großstadt, obwohl er kaum zehn Jahre älter war als sie. Dann sickerte aber langsam die Erkenntnis durch, dass er mit allem Recht hatte, und ihre Begeisterung verpuffte.

      „Lass‘ uns darauf trinken“, sagte Ralph da aber und hob das kleine Glas.

      „Worauf?“, erwiderte Klara gereizt.

      „Darauf, dass wir ernsthaft darüber nachdenken werden.“

      ~

      Ja, sie dachten darüber nach und nicht nur das: Konten wurden geprüft und Banken konsultiert, während Klara einen ersten Businessplan ausarbeitete. Ohne wäre das ganze Unterfangen natürlich ein Himmelfahrtskommando geworden, was sie um jeden Preis vermeiden wollte. Nicht nur, dass sie existenzielle Angst vor einer Pleite hatte, ihr war es auch schlichtweg ein Graus mit diesen naiven Aussteigern in einen Topf geworfen zu werfen, die ohne Geld, ohne Plan und ohne Sprachkenntnisse in irgendein exotisches Land auswanderten und dann später in einer Reality Show wieder auftauchten.

      Wenige Tage vor Ende des Jahres 2007 war dann tatsächlich der Kaufvertrag unterzeichnet, ohne dass die Klassens es schon richtig begreifen konnten. Neben dem durchdachten Businessplan hatte dabei vor allem Klaras seltsames Gefühl, dass Idas Haus sie brauchte, den Ausschlag gegeben. Was sie aber selbstverständlich niemals zugegeben hätte. Dann war aber alles ganz schnell gegangen: Die Eigentumswohnung in Hamburg wurde verkauft und stattdessen mieteten sie ein kleines Apartment, in dem Ralph unter der Woche wohnen würde. Dass er nämlich weiterhin mit seinem gut bezahlten Job als Unternehmensberater von Hamburg aus für einen gefüllten Kühlschrank sorgen würde, war wesentlicher Bestandteil ihrer Finanzierung. Klara war somit die meiste Zeit auf sich allein gestellt, als sie im März auf die Insel zogen.

      Idas Haus hatte ihr einen im wahrsten Sinne des Wortes frostigen Empfang bereitet und es hatte Tage und etliche Diskussionen mit der veralteten Heizung gekostet, die klamme, abgestandene Luft aus dem Haus zu vertreiben. Schnell war klar, dass Klara ihre Ansprüche an die Renovierung würde zurückschrauben müssen, um überhaupt erst einmal die notwendigen Sanierungsarbeiten bezahlen zu können. Das aus der Not heraus geborene Weniger-ist-mehr-Konzept, wie Ralph es getauft hatte, zog sich bis heute durchs ganze Hotel. Warum neue Café-Bestuhlung kaufen, wenn man die alte doch mit etwas Beize und Zeit (ok, viel Zeit!) aufbereiten konnte? Warum in einheitliche Dekoartikel investieren, wenn gebrauchte Einzelstücke doch viel mehr Charme hatten? Warum meterweise Wände mit schweren Stofftapeten beziehen, wenn schlichtes Weiß die Einrichtung doch viel besser zur Geltung brachte? Dieser Ansatz hätte wohl leicht in einer Geschmacksverirrung à la Dauerbaustelle trifft Tante Ernas Wohnzimmer enden können, aber glücklicherweise hatte Klara auch hier gewusst, was sie tat. Vielleicht, dachte sie manches Mal, wäre es Ida so auch viel lieber gewesen. Durch die vielen Stunden, die sie allein mit dem Haus verbrachte, hatte sie inzwischen das Gefühl, die ehemalige Besitzerin zu kennen, auch wenn sie von ihr noch nicht einmal ein Foto gesehen hatte.

      Was neben Klaras Händchen für Inneneinrichtung einen weiteren Segen für Idas Haus bedeutete, war die Beliebtheit, die die alte Frau auf der Insel genossen hatte. Vielen Insulanern nötigte das eine gewisse Anerkennung dafür ab, dass diese Hamburger ihr Haus erhalten wollten (Ralph vermutete ihren brummigen Wirt hinter der rasanten Verbreitung dieser Nachricht). Ohne die großzügige Hilfe der ansässigen Handwerker wäre das Hotel niemals bis zur geplanten Eröffnung im Mai fertig geworden.

      Dann war da aber noch die Sache mit dem Namen gewesen. Eigentlich war das typische Vorgehen dabei kinderleicht, wie Klara schnell festgestellt hatte. Zuerst wählte man eine passende Bezeichnung für das Gebäude, wie Villa (auf der Insel gerade sehr beliebt), Schlösschen, Haus oder Residenz. Im nächsten Schritt entschied man sich für einen möglichst maritimen Begriff, der idealerweise auch noch mit Lage des Objekts harmonierte. Hoch im Kurs standen hierbei Düne, Strand, Heckenrose, Watt oder Leuchtturm. Dann musste man nur doch beide Begriffe kombinieren und schon waren idyllische Domizile wie das „Gästehaus Dünenblick“, die „Strandresidenz“ oder die „Villa am alten Leuchtturm“ geboren, die allesamt einen perfekten Urlaub am Meer versprachen. Klara experimentierte hin und her und kreierte etliche Namen, die sowohl passend