Bei Ebbe geht das Meer nach Hause. Marie Wendland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Wendland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748547679
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Storchs. Die Frau trug einen eleganten, langen Mantel, Pumps und erschien auf Grund einer dicken Schicht Make-Up und dunkelrotem Lippenstift alterslos. Langsam entfernten sich die beiden von Ally und ihren Begleitern.

      „Guck‘ doch mal die Tasche. Auf so eine ist meine Alte schon lange scharf“, raunte Crispy zurück, „dafür lass‘ ich heute glatt den Elektrokram in diesem Büro sausen.“

      Ally wurde mulmig. Das war gar keine gute Idee! Sie wusste nichts über diese Herrschaften, was das Risiko der Aktion zu einer unbekannten Variablen machte. Obwohl sie wusste, dass es sinnlos war, startete sie einen verzweifelten Versuch, das Kastenbrot umzustimmen: „Ne, lass‘ weiter gehen. Wenn du den Elektrokram verscherbelst, kannst du deiner Süßen zehn Taschen kaufen.“

      „So süß is‘ sie auch wieder nicht.“ Crispy kratzte sich am Kopf. Die Verarbeitung verschiedener Argumente überforderte seinen Verstand sichtlich. „Nein, ich sage jetzt, was wir machen. Wir gehen da jetzt hin und holen uns die Tasche. Dann hauen wir ab.“

      Was für ein grandioser Plan! Ally war total verzweifelt. Das konnte ja nur schief gehen!

      „Na gut, mach‘, wie du denkst. Aber ich hau‘ ab“, wisperte sie zögernd und wollte sich umdrehen.

      „Nein, du. Du bleibst schön hier und wartest!“, mischte sich jetzt Josh ein wie die Stimme aus dem Off. Das machte überhaupt keinen Sinn! Und egal, wie häufig Ally die Szene später im Kopf durchspielte, sie fand keine vernünftige Erklärung für das, was da in Joshs Schafskopf gerade abgegangen war. Sie wusste, dass es keinen Grund gab, zu bleiben. Sie wusste, dass sie nicht bleiben durfte. Sie wusste, was für Idioten Josh und Crispy waren. Aber Ally schaffte es nicht, genau das zu sagen. Genauso wenig schaffte sie es, sich umzudrehen und diesen verdammten ersten Schritt zu machen. Dafür hätte sie Selbstbewusstsein gebraucht und als ihr in diesem Augenblick wieder einmal deutlich wurde, dass sie genau das nicht hatte, wich auch das letzte bisschen Widerstand aus ihrem Körper und ließ sie zurück wie einen schlaffen Luftballon. Sie konnte nur noch die Schultern zucken, sich in den Schatten drücken und hilflos zusehen, wie Josh und Crispy mit ins Gesicht gezogenen Kapuzen auf das Ehepaar zustürmten.

      Sonderlich vorsichtig waren sie bei ihrer Aktion nicht. Da die Straße aber sonst menschenleer war, hätte die Sache tatsächlich gutgehen können. Wäre da nicht dieser Storch gewesen. Als Crispy sich die Tasche geschnappt hatte und die beiden in die Dunkelheit davon rannte, setzte der Mann ihnen in einem Tempo nach, das ihm auf den ersten Blick niemand zugetraut hätte.

      „Mist!“, hörte Ally Crispy fluchen, der nochmal einen Zahn zulegte und hinter der nächsten Ecke verschwand. Obwohl die Handtasche mit diesem verschwunden war, nahm der Storch jetzt Josh aufs Korn. Dieser schlug einen Haken und Ally musste vor Schreck einen Aufschrei unterdrücken. Er rannte direkt auf sie zu, den Mann im Schlepptau! Jetzt war Josh schon auf einer Höhe mit ihr und rannte unbeirrt weiter.

      Lauf schon, befahl Ally sich selbst, aber sie zögerte einen Moment zu lange. Der Storch griff nach vorne und erwischte einen Zipfel ihrer Jacke. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sich die beiden in die Augen. Hätte ich ihn vorher beobachtet, hätte ich sofort gemerkt, dass der nicht altersschwach ist, ging Ally durch den Kopf. Dann löste sich endlich der Schockzustand und sie konzentrierte sich auf das Wesentliche und riss sich los. Zu ihrer Linken tauchte eine flache Gartenmauer auf, die sie mühelos überwand. Auch wenn ihr Verfolger gut in Form war, dieses unerwartete Hindernis war zu viel für ihn. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als einem rostroten Zopf hinterher zu sehen, der im Dunkeln des Gartens verschwand.

      Als Ally hinter sich keinen zweiten Aufprall auf dem Rasen hörte, wusste sie, dass sie den Storch abgeschüttelt hatte. Aber sie rannte immer weiter und ignorierte ihre brennenden Beine und den stechenden Schmerz in der Lunge. Das lenkte sie wenigstens von ihren wild kreisenden Gedanken ab. Er hatte sie gesehen! Und nicht nur das: Er hatte sie registriert! Das war noch nie passiert. Warum hatte sie sich bloß auf diese Schnapsidee eingelassen? Warum, warum?

      Erst als sie in die Straße ihrer Wohngruppe einbog, blieb sie das erste Mal stehen. Die Hände auf die Oberschenkel gestützt, versuchte sie wieder zu Atem zu kommen. Ihr war, als hätte die Nacht plötzlich Augen bekommen, die sie aus jeder Mülltonne und jedem Blumentopf heraus anstarrten. Du warst es, Allison Christie, wir haben dich genau gesehen, schienen auf einmal die Geräusche der schlafenden Stadt im Chor zu flüstern. Sei nicht albern, schalt Ally sich und schlüpfte ins Haus. Ohne sich auszuziehen, legte sie sich ins Bett und zog die Bettdecke bis zum Kinn.

      ~

      Am nächsten Tag, zum Glück einem Samstag, stand Ally später auf als gewöhnlich. Trotzdem war sie völlig gerädert. So musste sich ein schlimmer Kater anfühlen! Es hatte bestimmt noch eine Stunde gedauert, bis ihr Puls sich in der Nacht soweit beruhigt hatte, dass sie einschlafen konnte. Dann hatten die Alpträume angefangen. Im Traum war Ally wieder gerannt, aber sie hatte nicht gewusst, wohin. Hinter ihr hatte sich eine Armee von Störchen genähert, die mit ihren langen Schnäbeln nach ihr hackten. Und jedes Mal, wenn sie geglaubt hatte, ihnen entkommen zu können, war Josh mit seinem rattenhaften Grinsen vor ihr aufgetaucht wie eine undurchdringliche Felswand und hatte ihr den Weg versperrt. Im Endeffekt war Ally froh gewesen, als sie endlich vom Geräusch des Staubsaugers geweckt worden war. Das Schwindelgefühl, das sie beim Aufstehen überrascht hatte, war jetzt einem drückenden Kopfschmerz gewichen und ihr Mund fühlte sich so trocken an, als hätte sie gerade eine Wüste durchquert.

      Sie raffte ein paar Kleidungsstücke zusammen und huschte über den Flur ins Bad. Hastig trank sie zwei Zahnputzbecher voll kaltem Wasser. Es schmeckte nach alter Zahnpaste, aber das war ihr gerade egal. Als sie aus der Dusche trat, hörte sie ein Stimmengewirr aus dem Flur, vermischt mit einem Klappern, das wahrscheinlich aus der Küche kam. Es war Samstagmorgen, was zum Teufel war hier los? Die einzigen Frühaufsteher waren Laurel und Susan, das da draußen klang aber, als wäre schon das ganze Haus auf den Beinen.

      Sie zog gerade hastig die linke Socke über ihre noch feuchte Haut, als es ihr einfiel. Heute war der 14. Mai. Das bedeute, dass heute dieser Parlamentsabgeordnete, der sich ständig für irgendwelche sozialen Projekte engagierte, die Wohngruppe besuchen würde. Laurel hatte davon erzählt. Maxwell Goulding, jetzt fiel ihr sogar wieder der Name ein. Auch die Presse wurde erwartet, ein Abgeordneter zusammen mit einer Schar hilfsbedürftiger Kinder, das ging schließlich immer. Ally musste eindeutig schleunigst hier weg!

      Ihre Haare waren noch nass und hinterließen eine dunkle Spur auf ihrem Pullover, als sie Richtung Haustür schlich. Alle waren so beschäftigt, dass wie gewohnt niemand Notiz von ihr nahm. Zumindest fast niemand.

      „Ally, wo willst du denn jetzt hin? Du weißt doch, was heute hier los ist“, hörte sie plötzlich Laurel hinter sich. „Los, mach‘ dich irgendwo nützlich. Wir wollen doch einen guten Eindruck machen!“

      Ally wollte das bestimmt nicht. „Ich brauch‘ mal frische Luft, ich hab‘ irgendwie Kopfschmerzen“, entgegnete sie und machte einen weiteren Schritt Richtung Tür, aber Laurel verstellte ihr den Weg. Wie konnte sie nur!

      „Dann geh‘ doch hinten in den Garten, da ist die Luft bestimmt besser“, schlug diese jetzt mit einem angestrengten Lächeln vor, „und nimm vorsichtshalber eine Tablette. Du weißt, wie sehr sich Mr. Goulding freut, alle zwölf Mitglieder der Wohngruppe persönlich kennen zu lernen.“ Das war eindeutig. Ally hatte keine Chance.

      Pünktlich um 14:00 Uhr waren dann tatsächlich alle zwölf Jugendlichen sowie Laurel und Susan in der Küche versammelt. Es roch nach frisch gebackenen Scones und den langen Tisch zierte ein Blumenstrauß. Der Fotograf von der Zeitung machte einige Testaufnahmen, wofür er unter Allys Mitbewohnerinnen ausreichend Freiwillige fand. Sie selbst lehnte in einer Ecke und hoffte, dass der Zirkus einfach schnell vorbeigehen würde. Ein paar Minuten später wedelte Susan aufgeregt mit den Armen in der Luft, als wollte sie abheben, und rief: „Jetzt kommt er! Er kommt!“ Auf dem Flur waren Schritte zu hören, dann betrat ein elegant gekleideter Herr den Raum. Mit seiner hageren, leicht gebeugten Statur und den weißen Haaren sah er aus wie… ein Storch.

      Ally schnappte nach Luft. Das konnte nicht wahr sein! Edinburgh hatte fast eine halbe Millionen Einwohner, dazu kamen Tausende Touristen. Wie konnte der Zufall