Bei Ebbe geht das Meer nach Hause. Marie Wendland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Wendland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748547679
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dunkel gewesen und er hatte ihr Gesicht nicht richtig sehen können. Oder er hatte unter Schock gestanden. Oder seine Brille nicht aufgehabt. Ally versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und einfach weiter zu atmen, denn immerhin bestand ja noch die Möglichkeit, dass sie heil aus der Nummer herauskäme. Obwohl das eigentlich unwahrscheinlich war, denn es ging hier schließlich um sie, Allison Christie, auf der Warteliste der Glücksfee auf Platz 1.000.038.

      Dass sie Recht behalten sollte, wurde schon wenig später klar, als Laurel mit dem Storch auf sie zukam. „Und das, Mr. Goulding, ist unsere Allison, genannt Ally, Christie. Nicht zu verwechseln mit Kristie Alley.“ Laurel kicherte übertrieben. „Sie lebt jetzt schon seit zwei Jahren hier bei uns und macht in ein paar Wochen ihren ersten Schulabschluss.“

      „Ich freue mich dich kennen zu lernen, Ms. Allison Christie“, sagte Goulding und reichte Ally seine dünne, aristokratische Hand. Er lächelte, aber Ally sah deutlich das Aufflackern des Erkennens in seinen Augen. „Du hast sehr schöne Haare. Mir ist, als hätte ich sie schon einmal irgendwo gesehen.“ Als Ally schwieg, wurde er etwas deutlicher: „Das kann noch nicht lange her sein. Gestern Nacht vielleicht?“ Sie wollte alles abstreiten, aber in ihrem Kopf wirbelten die Worte nur wild durcheinander und sie bekam sie nicht zu fassen. Also schwieg sie weiter, was Goulding als Antwort ausreichend erschien. Immer noch lächelnd wandte er sich an Laurel: „Ms. Todd, können wir uns irgendwo ungestört mit Allison unterhalten?“

      „Ja, natürlich. Kommen Sie, wir gehen gleich hier nebenan ins Büro“, strahlte Laurel ihn an. Was dachte sie sich bloß? Dass Goulding Ally ein Stipendium oder einen Orden verleihen wollte?

      Ally wusste nicht, wie sie ins Nachbarzimmer gekommen war, so weich wie sich ihre Beine anfühlten, aber jetzt saß sie neben Laurel auf dem kleinen orangefarbenen Sofa. Goulding hatte ungefragt auf Laurels Schreibtischstuhl Platz genommen. „Ms. Todd, ich denke, Allison möchte Ihnen ein kleines Geheimnis verraten“, eröffnete er das Gespräch und sah Ally herausfordernd an. Beim Blick in seine grauen Augen bemerkte sie überrascht, dass diese sie keineswegs unfreundlich musterten. „Gut, wie ich sehe, möchte Ms. Allison mir den Vorzug geben. Vielleicht ist sie noch etwas müde von der letzten Nacht“, fügte er nach einer längeren Pause hinzu und fuhr dabei seelenruhig mit einem langen Finger die Konturen der Schreibtischlampe nach.

      „Also ich verstehe überhaupt nichts mehr“, platzte es jetzt aus Laurel heraus, „Ally war in der Nacht natürlich in ihrem Bett. Sie ist schließlich erst sechzehn Jahre alt. Mr. Goulding, ich muss doch sehr bitten, aber was wollen sie uns hier unterstellen?“ Ally fand, dass das eigentlich sehr lieb von Laurel war. Trotzdem nützte es natürlich nichts. Der Storch schüttelte nur ruhig den Kopf, dann fasste er schnörkellos zusammen, was sich des Nachts in der Straße auf halbem Weg zum Hafen Leith zugetragen hatte. Ally beobachtete fasziniert, wie Laurels Gesicht erst blass, dann so orange wie das Sofa wurde.

      „Mr. Goulding, hören Sie. Wie ich eben bereits gesagt habe, Ally ist sechzehn Jahre alt und hat es nicht leicht gehabt bisher. Wir bemühen uns hier natürlich alle nach Kräften um die Jugendlichen, aber spurlos geht so eine Kindheit trotzdem an keinem vorbei. Und gerade in diesem Alter probieren sich Jugendliche eben aus. Ich bin sicher…“

      Goulding hob die Hand, um Laurels Redefluss zu unterbrechen. „Allison, was hast du denn zu der Sache vorzubringen?“ Sein Blick ruhte unverwandt auf ihrem Gesicht, sodass es sich anfühlte, als müsse es jeden Moment Feuer fangen.

      Goulding wartete. Laurel wartete. Sogar Ally wartete. Wahrscheinlich darauf, dass sich der Boden auftun würde. Als das aber nicht passierte, öffnete sie den Mund und sagte nur, den Blick auf den herzlosen Boden gerichtet: „Ich stehle nicht.“

      „Das stimmt. Ally ist ein gutes Mädchen. Gute Noten. Sie ist einfach in die falschen Kreise geraten, sie selbst würde nie…“, Laurel ließ sich nicht unterkriegen, aber Goulding unterbrach sie ein zweites Mal.

      „Das glaube ich Ihnen, Ms. Todd“, sagte er schlicht, was Laurel so verblüffte, dass sie erstmal aus dem Konzept kam. Auch Ally war verwirrt. Er glaubte ihr? Warum saßen sie dann noch hier? „Ich glaube Allison, dass sie keine Verbrecherin ist. Ich glaube aber auch Ihnen, Ms. Todd, dass Allison in die falschen Kreise geraten ist. Und das kann ich natürlich nicht gutheißen. Es wäre doch eine große Verschwendung, wenn die junge Dame hier doch noch auf die schiefe Bahn gerät.“ Goulding zwinkerte Ally zu. „Die Frage ist nur, was können wir dagegen tun, Ms. Allison?“

      Irgendetwas an der Art, wie er sie „Ms. Allison“ nannte, führte dazu, dass Ally sich wichtig und ernst genommen fühlte. Während sie diesem ungewohnten Gefühl noch nachspürte, hatte Laurel schon wieder das Wort ergriffen: „Diese Frage habe ich mir natürlich auch schon gestellt. Ideal wäre wohl ein längerer Auslandsaufenthalt. Andere Kulturen erleben, eine Fremdsprache vertiefen, endlich auf eigenen Beinen stehen. Internationalität ist heutzutage so wichtig für junge Menschen.“

      „Eine Luftveränderung! Ja, das ist doch eine formidable Idee!“ Der Storch war vor Begeisterung aufgesprungen.

      „Leider sind unsere Mittel in dieser Hinsicht sehr begrenzt“, schränkte Laurel ein, „wenn Sie sich allerdings dafür einsetzen würden, dass wir ein Budget für Schüleraustausche bekämen…“

      „Nein, nein, das würde viel zu lange dauern“, winkte Goulding ab, „nein, wir müssen eine andere Lösung finden.“ Er schritt jetzt vor dem orangefarbenen Sofa auf und ab, die Hände hinter dem Rücken verschränkt. „Ein Praktikum. Das wäre doch die ideale Lösung! Ms. Allison, welche Fremdsprache sprichst du?“

      „Deutsch“, erwiderte Ally abwesend. In ihrer wachsenden Begeisterung hatten weder Laurel noch der Storch mitbekommen, dass Allys sowieso schon blasses Gesicht die Farbe des Putzes an der Wand angenommen hatte. In ihrem Kopf war nur noch Platz für dieses eine Wort. Luftveränderung. Eine andere Stadt. Ein anderes Land. Fremde Menschen. Das würde sie nicht überleben! Das konnten sie ihr doch nicht antun! Flehend sah sie zu Laurel hinüber. Diese bemerkte Allys Blick, interpretierte in aber genau falsch: „Sie haben Recht, lieber Mr. Goulding, ein Praktikum ist perfekt. Da kann Ally gleich erste Berufserfahrung sammeln. In drei Wochen könnte es sogar schon losgehen, dann haben wir den Schulabschluss in der Tasche.“ Ally war so schockiert, dass sie sich noch nicht mal über dieses kindische Wir, das Laurel gerne benutzt, aufregen konnte.

      Der Storch hatte aber sowieso nicht mehr zugehört. Immer noch auf und ab staksend murmelte er vor sich hin: „Deutsch, das ist sehr gut… Ich hatte doch da diese Bekanntschaft gemacht… Das würde schon passen… Ja, ich denke, das ist die Lösung.“ Nach diesen rätselhaften Ausführungen verabschiedete er sich auf seine außergewöhnlich höfliche Art, die Ally inzwischen kaum mehr verwunderte, und verließ umgehend das Haus. Goulding war in seinem Element. Er liebte es, wenn er seine zahllosen Kontakte spielen lassen konnte, um etwas Gutes zu tun! Auf dem orangefarbenen Sofa blieben sowohl Ally als auch Laurel reichlich verblüfft zurück.

      Genauso perplex war der Fotograf, als er nach dem dritten von Susans vorzüglichen Scones feststellte, dass Maxwell Goulding bereits gegangen war. Hatte der Abgeordnete ihn etwa vergessen?

      Kapitel 6

      Hamburg, Mai 2018

      Ralph Klassen schob seinen ledernen Bürosessel zurück und drehte sich zur bodentiefen Fensterfront. Direkt vor ihm legte gerade ein Kreuzfahrtschiff am Cruise Center an, dahinter hoben sich in Blau und Rot die Kräne des Containerhafens vom Grau des Himmels ab. Dieser Ausblick hatte jedes Mal etwas Majestätisches. In Gedanken ging er noch einmal die E-Mail durch, die er gerade gelesen hatte und merkte, wie dabei eine Idee in seinem Kopf erschreckend schnell Gestalt annahm.

      Dass er diese E-Mail überhaupt geöffnet hatte, war reiner Zufall gewesen. Ralph war gerade sein Postfach auf der Suche nach den neuesten Zahlen für seine Projektpräsentation durchgegangen, als ihm der Betreff „Hilferuf“ ins Auge fiel. Normalerweise löschte er solche Nachrichten sofort, konnte es sich doch nur um zwielichtige Hilfsorganisationen handeln, die auf sein Geld aus waren. Während er sich gerade vornahm, die IT mal wieder zu bitten, die Spam-Kriterien zu verschärfen, musste er wohl einen Moment zu lange mit dem Cursor auf der Nachricht gestanden haben, sodass sie sich