Bei Ebbe geht das Meer nach Hause. Marie Wendland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Wendland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748547679
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sodass sie bereits Albträume gehabt hatte, ein namenloses Hotel anbieten zu müssen. Sie stand gerade im kleinen Inselsupermarkt und versuchte der Verkäuferin zu erklären, wohin ihre umfangreichen Einkäufe geliefert werden sollten: „Straße zum Westen 40, bitte.“

      „Hm? Welches Haus soll das denn sein?“

      „Das kleine Backsteinhaus mit den blauen Fenstern“, versuchte Klara zu erklären.

      „Hm?“

      „Idas Haus!“ Damit war alles klar gewesen und ihr war es wie Schuppen von den Augen gefallen: Idas Haus würde immer Idas Haus sein, genauso wie sie immer Klara sein würde und keine Heike, Marion oder Petra. Aber hätte Ida das auch so gesehen? Wieder einmal merkte Klara, wie wenig sie über diese Frau wusste, egal wie nah sie sich ihr manchmal fühlte. In ihrer Unschlüssigkeit war sie über die Insel spaziert und wie zufällig auf dem kleinen Inselfriedhof gelandet, auf dem sie zuvor ein mit Heide bedecktes Grab entdeckt hatte: In dankbarer Erinnerung an Ida Paulsen. 6. September 1904 - 17. Februar 2000. Nur wer vergessen wird, ist tot, du aber wirst leben. Gerade als Klara die Inschrift las, fiel ein Sonnenstrahl durch die Wolkendecke und brachte die weißen Lettern zum Leuchten. Ach, zum Teufel mit allen Pro-und-Contra-Listen! Es würde ihr, Klara Klassen, eine Ehre sein, dass die Erinnerung in Idas Haus weiterleben konnte.

      ~

      Klara war so in ihre Gedanken versunken, dass sie fast über die ältere Dame stolperte, die gerade aus Zimmer 8 kam. „Guten Morgen, Frau Meister! Haben Sie gut geschlafen?“

      „Vorzüglich, Frau Klassen, vorzüglich“, entgegnete diese, „die Stille hier ist einfach einmalig! Und in dieser herrlich duftenden Bettwäsche zu schlafen, da fühlt man sich ja fast wie eine Prinzessin.“ Frau Meister kicherte leise vor sich hin und Klara beglückwünschte sich innerlich kurz selbst. Ja, genauso sollten sich ihre Gäste fühlen!

      „Jetzt muss ich aber weiter, meine liebe Frau Klassen. Mein Helmut wartet auf seine Zeitung.“ Sie schickte sich an, den Gang hinunter zu trippeln, als Klara sie freundlich zurückhielt:

      „Da werden Sie jetzt noch kein Glück haben. Heute ist noch kein Schiff gekommen, wir haben Niedrigwasser.“

      „Ja, wir sind ja auf einer Insel …“, Frau Meister kicherte erneut, dieses Mal jedoch etwas hilflos. Ihre Morgenroutine war aus dem Takt geraten!

      „Bei uns laufen die Uhren etwas anders, da haben Sie Recht. Aber machen Sie sich keine Sorgen“, beruhigte Klara sie, „sobald die Zeitungen angekommen sind, bringe ich Ihnen eine aufs Zimmer. Genießen Sie doch in der Zwischenzeit den Sonnenaufgang. Es ist doch ein herrlicher Morgen!“

      Frau Meister wirkte ehrlich überrascht von diesem Vorschlag, einfach untätig der Sonne beim Aufgehen zuzusehen, aber nach kurzem Zögern wandte sie sich doch der Eingangstür zu. Sie war ja schließlich im Urlaub!

      Zufrieden mit sich setzte Klara ihren Weg zur Hintertür fort und stand kurz darauf auf der hinteren Terrasse. Diese war auf zwei Seiten von den Gebäuden des Hotelkomplexes umschlossen, auf den anderen Seiten grenzte sie direkt an die mit Hagebutten und Strandhafer bewachsene Düne. Klara überquerte die Terrasse, die noch im morgendlichen Schatten lag, und folgte dem verschlungenen Dünenweg, der inzwischen mit Holzplanken befestigt war und durch dichtes Gebüsch fast vollständig verborgen von Idas Haus zum Strand führte. Nach wenigen Metern hatte sie den höchsten Punkt der Düne erreicht und vor ihr erstreckte sich das offene Meer. Die Brandung rollte unablässig gegen den grauen Wall des Deckwerks, was Klara heute sah, war aber vollkommen harmlos. Es war ein ruhiger Morgen. Der Wind, der ihr die Haare ins Gesicht trieb, war nur leicht und die Sonne strahlte zwischen lockeren Wolken hindurch. Noch war es kühl, aber Klara war sicher, dass ihnen ein milder Tag bevorstand, der viele Spaziergänger und Radfahrer ins Café führen würde.

      Sie blieb ganz ruhig stehen und betrachtete das Zusammenspiel von Meer, Strand und Himmel. Klara kam jeden Morgen hierher und jedes Mal war sie gefangen von der Schönheit des Meeres. Egal, ob im Winter oder Sommer, bei Sturm oder strahlendem Sonnenschein, Klara liebte das Meer mit all seinen Gesichtern.

      Nach wenigen Minuten wandte sie sich um, um zum Hotel zurückzukehren. Von ihrem Platz oben auf der Düne hatte sie den gesamten Gebäudekomplex im Blick, auch wenn sie jetzt blinzeln musste, um gegen die noch tief stehende Sonne etwas zu erkennen. Vieles hatte sich in den vergangenen Jahren verändert: In der ersten Saison war sie mit nur drei Gästezimmern und Cafébetrieb gestartet. Zum Glück war ihr Konzept aufgegangen und das Geschäft lief gut an. Über die Jahre konnte sie so die bestehenden Gebäude komplett ausbauen und sogar einen zweiten Flügel anbauen. Im ursprünglichen Haus befand sich heute weiterhin das Café und Bistro, das auch den Hotelgästen als Frühstücksraum diente. Im ersten Stock hatten Ralph und Klara ihre eigene Wohnung eingerichtet, genauso wie Klara es sich erträumt hatte. Der Anbau war um eine Etage aufgestockt worden und beherbergte die inzwischen zwölf Hotelzimmer. Der Holzbau war isoliert worden und diente als Saal für Feierlichkeiten. In den neu geschaffenen Zimmern darüber brachte Klara ihre Saisonkräfte unter. Der zweite Flügel war in einer Linie mit dem Haupthaus angebaut, sodass zwischen diesem und dem Hoteltrakt eine zweite Terrasse mit Grillplatz und kleinem Spielplatz entstanden war, die den Hausgästen vorbehalten war. In diesem Neubau waren sechs Ferienwohnungen eingerichtet worden, in denen Klara inzwischen viele Stammgäste begrüßen durfte. Bei allen Baumaßnahmen war Klara der ursprünglichen, schlichten Backsteinoptik treu geblieben, sodass sich das Hotel heute harmonisch in die raue Nordseelandschaft einfügte. Dieser Verzicht auf große Glasfronten, drei und mehr Stockwerke oder kastenförmige Bauwerke, die das Grundstück bis auf den letzten Zentimeter ausfüllten, hatten Klara zudem endgültig die Anerkennung der Insulaner eingebracht. Ein nicht zu vernachlässigender Fakt, wenn man auf so einer kleinen Insel heimisch werden wollte. Über das kleine Detail, das Klara stets am wichtigsten gewesen war, schüttelten aber dennoch viele den Kopf: Jedes neue Fenster musste meerblau sein.

      Inzwischen waren zehn Jahre vergangen, seit sie das erste Mal mit Ralph auf dem Deckwerk gestanden hatte. In diesem Sommer würde das Hotel „Idas Haus“ Jubiläum feiern. Dieser Gedanke erfüllte Klara mit tiefer Genugtuung. Wer kämpft, konnte alles schaffen. Und was einen dabei nicht umbrachte, machte eindeutig stärker.

      Kapitel 3

      Edinburgh, April 2018

      22:30 Uhr. Wie jedes Mal war Ally wach, bevor der Wecker ihres Handys klingelte. Sie stellte den Alarm aus, stand leise auf und zog sich im Dunkeln zügig an. Über ihren inzwischen wieder trockenen Hoodie zog sie ihre dicke Winterjacke. Die Nacht würde nicht nur empfindlich kalt, sondern aller Wahrscheinlichkeit nach auch genauso nass werden wie der Nachmittag. Sie verstaute Handy und Schlüssel in den Jackentaschen, dann öffnete sie vorsichtig die Tür und schlich durch den Flur Richtung Haustür. Bei jedem ihrer nächtlichen Ausflüge war dieses erste Stück des Weges das heikelste. Heute hatte zu allem Überfluss Laurel die Nachtschicht und verbrachte die Nacht in der Wohngruppe. Und diese lauschte garantiert auf jedes kleinste Geräusch, aus Angst jemand könnte sich wegschleichen. Wie kam sie bloß auf so eine abwegige Idee? Ally grinste still vor sich hin. Als sie an Laurels Zimmertür vorbeikam, hörte sie aber von Drinnen nur monotones Schnarchen und hätte am liebsten laut losgelacht. Sie riss sich aber zusammen und ging vorsichtig weiter. Eine weitere Begegnung mit Laurel wollte sie heute um jeden Preis vermeiden!

      Als sie endlich auf dem Bürgersteig stand, atmete sie auf. Geschafft. Wieder einmal. Ally blickte sich kurz prüfend um, dann schlug sie zielstrebig den Weg Richtung Festival Theatre ein. Die aufziehende Nacht hatte die Stadt verändert. Der stete Strom aus Touristen mit Kameras um den Hals war versiegt. Stattdessen teilten sich dahineilende Pärchen auf dem Weg zurück ins Hotelzimmer, aufgebrezelte Partygänger und dunkle Gestalten, die stets eine Straßenseite für sich alleine hatten, die Straßen. Von allen unbeachtet kam Ally schnell voran und erreichte pünktlich die vereinbarte Bushaltestelle. Sie lehnte sich scheinbar unbeteiligt an eine Mauer und zog das Smartphone aus der Tasche, als würde sie auf den Bus warten. Es musste auf die Minute genau 23:00 Uhr sein, als ein großer Schatten neben ihr auftauchte. Crispy war da. Obwohl das bestimmt nicht sein richtiger Name war, hatte Ally auch ihn mit einem Spitznamen bedacht. „Kastenbrot“. Damit waren sowohl sein Äußeres als auch