Bei Ebbe geht das Meer nach Hause. Marie Wendland. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Marie Wendland
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783748547679
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Maxwell Goulding. Irgendetwas sagte ihm der Name. Vielleicht also doch kein Spam, das hieß aber noch lange nicht, dass es sich lohnen würde diese E-Mail zu lesen. Ralph bekam schließlich täglich Dutzende Nachrichten von Leuten, die er mal irgendwo getroffen hatte und die sich jetzt was auch immer von ihm erhofften. Jeder schien der Meinung zu sein, dass es sich in jedem Fall lohnte, einen Unternehmensberater auf der Kontaktliste zu haben.

      Dieser Goulding war Schotte! Jetzt fiel es Ralph wieder ein. Er hatte ihn kurz vor Weihnachten auf einer Spendengala getroffen, die er vertretungsweise für seinen Chef besucht hatte. Leider hatte sich Klara einen Infekt eingefangen gehabt und hatte ihn nicht begleiten können. Wirklich schade, an der anwesenden Masse an aufgetakelten Tussis hätte sie ihre Freude gehabt! Stattdessen hatte er sich an diesem Abend gut mit Goulding unterhalten und dabei einiges über schottischen Whisky gelernt. Der Mann hatte ihm gefallen, denn im Gegensatz zur Mehrheit der Teilnehmer (zu der auch Ralph gehörte), deren Engagement sich auf die jährliche Teilnahme an solchen Galas beschränkte, schien er tatsächlich für seine sozialen Projekte zu brennen. Nach drei gemeinsamen Whiskys hatten sich ihre Wege dann aber wieder getrennt, wie es bei einem schottischen Abgeordneten und einem Hamburger Unternehmensberater zu erwarten gewesen war.

      Und jetzt schrieb dieser Goulding ausgerechnet ihm und bat um Hilfe: Er wäre auf ein junges Mädchen aufmerksam geworden, das ohne den Halt einer Familie aufwachsen musste und nun Gefahr lief, vom rechten Weg abzukommen. An dem Mann war doch wirklich ein Pastor verloren gegangen, dachte Ralph schmunzelnd. Für dieses Mädchen suchte Goulding jetzt einen Praktikumsplatz, um sie ihrer gewohnten Umgebung für einige Monate zu entziehen. Dabei hatte er sich daran erinnert, dass Ralph ihm vom Hotel seiner Frau auf einer kleinen Nordseeinsel erzählt hatte. Welche das war, war ihm leider entfallen, auf jeden Fall hielt er eine solche Umgebung für ideal geeignet.

      Er hatte nicht Unrecht, dachte Ralph, und stellte dabei fest, dass er immer noch auf den Hafen blickte. Was sollte ein Teenager auf Wangerooge schon groß anstellen? Er drehte sich wieder zu seinem Laptop und warf einen zweiten Blick auf die recht dürftigen Fakten, die Goulding mitgeliefert hatte: Sechzehn Jahre. Gute Schulbildung. Gute Deutschkenntnisse. Ralph wusste genau, dass Klara bei der Auswahl ihrer Aushilfen sehr genau darauf achtete, dass diese bereits volljährig waren. Alles andere war schon in Bezug auf Arbeitszeiten und Jugendschutz viel zu anstrengend. Auch würde es im Umgang mit den Gästen nicht gerade hilfreich sein, wenn man kein deutscher Muttersprachler war. „Gute Kenntnisse“, das konnte ja alles und nichts heißen…

      Trotzdem kam er nicht von der Vorstellung los, diesem Mädchen in Idas Haus eine Chance zu geben. Vielleicht würde es sogar auch Klara helfen? Sie gab es zwar nicht zu, aber Ralph wusste, dass diese alte Geschichte sie immer noch belastete.

      Seine Entscheidung war zumindest gefallen, jetzt musste er die Sache nur richtig anpacken. Er war es gewohnt, verschiedene Stakeholder von unbequemen Schritten zu überzeugen, aber seine Frau war schon ein besonderer Fall. Ralph gab seinem Sessel noch einmal Schwung, sodass er sich um 360° drehte, dann griff er nach seinem Tablet und öffnete eine neue Notiz. Projekt Whisky. Er schmunzelte.

      Kapitel 7

      Wangerooge, Mai 2018

      Zur gleichen Zeit balancierte Klara gerade gekonnt zwei Stücken Schokoladentarte sowie ein Stück Stachelbeertorte zwischen Kinderkarren und Hunden hindurch zu den wartenden Gästen an Tisch 18. Seit Tagen war es sonnig und hochsommerlich warm. Das musste zwar leider als klares Zeichen für den Klimawandel gedeutet werden, führte aber dazu, dass die Terrasse hinter Idas Haus brechend voll war. Trotzdem nahm Klara sich wie immer die Zeit, ein paar Worte mit den Gästen zu wechseln, während sie die Bestellung reservierte.

      „Klara, Küche!“, rief Stina, die sich gerade ebenfalls mit einem vollen Tablett in ihre Richtung schlängelte.

      „Bin sofort da!“ Klara verabschiedete sich mit einem Lächeln von der Familie an Tisch 18. „Das Paar an Tisch 4 möchte zahlen“, informierte sie Stina im Vorbeigehen leise, dann senkte sie die Stimme noch weiter und fragte: „Wo zum Teufel steckt Patrick schon wieder?“ Stina zuckte nur mit den Schultern, was die Bierflaschen auf ihrem Tablett gefährlich ins Wanken brachte, und eilte weiter. Da eine Servicekraft fehlte, kamen sie und Klara heute kaum zum Luftholen.

      Klara verdrehte möglichst unauffällig die Augen. Der unselige Glasscherbenvorfall war leider nicht das einzige Ärgernis im Fall Patrick geblieben. Nachdem dieser zunächst nur lautstark bekundet hatte, dass die Arbeitsbedingungen im Hotel kurz gesagt schlicht menschenunwürdig waren, war er inzwischen augenscheinlich dazu übergegangen das Problem eigenmächtig zu lösen: Wenn die Frühschicht seinem Biorhythmus wiedersprach, kam Patrick eben erst eine halbe Stunde später nach unten geschlurft. Wenn es klar unter seinem Niveau war, Betten zu beziehen, legte Patrick den Stapel Bettwäsche eben nur auf dem Kopfkissen ab und ging wieder. Wenn das ältere Ehepaar am Ecktisch ihm zu geschwätzig war, wartete Patrick eben so lange am Tresen, bis Stina oder Julia sich erbarmt hatten, die Bestellung aufzunehmen. Klara hätte diese Liste im Kopf noch um einige Punkte ergänzen können, aber dafür hatte sie jetzt keine Zeit. An der Küchenaufgabe warteten schließlich vier Portionen Currywurst, die nicht kalt werden durften.

      Sie wollte das Gebäude gerade voll beladen wieder verlassen, da sah sie im Augenwinkel die Gruppe Radfahrer winken, die sich an den Tischen vor dem Gebäude niedergelassen hatte. Sie nickte ihnen durchs Fenster zu und formte mit den Lippen ein stummes „Bin gleich bei Ihnen!“. Dann umrundete sie geschickt zwei Kleinkinder, die auf dem Boden mit ihren Sandförmchen spielten, und erreichte endlich die Familie an Tisch 11, die sie bereits mit hungrigen Blicken verfolgt hatte. „Ich wünsche guten Appetit! Ketchup und Mayo bringt die Kollegin gleich.“ Klara gab Stina ein kaum merkliches Zeichen und wandte sich den Radfahrern zu. Was Patrick in Sachen Engagement und Lernwilligkeit fehlte, glich Stina gleich doppelt aus. Ein echter Glücksgriff! Klara lächelte. Auch wenn ihr heute Abend höchstwahrscheinlich Arme und Beine wehtun würden, liebte sie dieses Chaos doch.

      Die Radfahrer wollten schnell zahlen, um noch vor dem Abendessen ihr Hotel zu erreichen. Klaras Blick streifte die Rennräder und die professionell anmutende Fahrradbekleidung und sie verkniff sich ein Schmunzeln. Es war gerade 16:30 Uhr und Klara schätzte, dass die Gesellschaft die fünf Kilometer bis zum Inseldorf in zwanzig Minuten bewältigt hätte. Wenn sie sich Zeit ließen. Wangerooge mochte zwar für die Insulaner und auch für viele Touristen das Größte sein, wirklich größer war das Eiland dadurch aber noch nicht geworden! Da jeder der acht Gäste für sich zahlte, dauerte es etwas, bis jeder sein Portemonnaie aus den engen Radtrikots geschält hatte. Klara nutzte die willkommene Verschnaufpause und ließ den Blick über den neuen Leuchtturm und die Wiesen schweifen, die sich direkt vor dem Haus erstreckten. Auf dem Deich zu ihrer Rechten schlenderte gerade Hand in Hand ein junges Pärchen.

      Klara stutzte und sah noch einmal genauer hin. Er war groß und extrem muskulös, sie wasserstoffblond und für diese Insel ziemlich aufgebrezelt. Patrick und Julia. Da bestand überhaupt kein Zweifel! Julia hatte heute ihren freien Tag, das ging schon in Ordnung. Aber Patrick? Und er versuchte noch nicht einmal, nicht aufzufallen, er latschte da einfach seelenruhig vor sich hin! Wie dreist war das denn? Und seit wann waren die beiden eigentlich zusammen?

      In der Zwischenzeit hatten sie Idas Haus erreicht und Patrick lief zumindest rot an, als er Klara vor dem Haus stehen sah. Julia kicherte bloß, als sei das Ganze ungemein komisch. Leider verstand Klara den Witz nicht. „Wir reden, wenn die Gäste weg sind. Macht euch irgendwo nützlich!“, sagte sie möglichst ruhig. „Also natürlich nur, solltet ihr zufällig nichts Besseres vorhaben.“ Diese Spitze konnte sie sich dann doch nicht verkneifen.

      ~

      Es war schon halb acht, als die letzten Gäste gegangen waren. Eigentlich schloss das Café um 19:00 Uhr, aber natürlich wurde niemanden der halb volle Teller unter der Gabel weggezogen. Während Klara die Tische und Stühle windsicher zusammenstellte, ging sie im Kopf ihre Optionen durch: Dass sich Patrick doch noch zu einer echten Unterstützung mausern würde, hielt sie inzwischen für ausgeschlossen. Wie bei allen Aushilfen, war sein Vertrag auf ein halbes Jahr befristet, vom dem bereits einige Wochen abgelaufen waren. Trotzdem würden die noch verbleibenden Monate zu lang werden, wenn sie Klara nur Geld, Zeit und Nerven kosteten. Zum Glück