Der Hügel. Martin Renold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Renold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738010329
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er nennt sie lieber „Briefe“ – liest, denkt er manchmal, sie sei eine kreative Denkerin, die aus ihrem Inneren schöpft, während er nur ein Erzähler ist, der die Dinge beschreibt. Seine Romane seien nichts als Erzählungen, Beschreibung von äußeren Ereignissen. Vielleicht, denkt er, habe er unbewusst deshalb angefangen, historische und biblische Romane zu schreiben. Da konnte er in Sachbüchern und im Internet forschen, was historisch, oder bei der Bibel, was dort festgelegt war. Manche Orte, mit denen seine historischen Figuren verbunden waren, hat er auf Reisen kennen gelernt. Über diese und jene, die er nicht selbst gesehen hatte, forschte er, wie sie zu jenen Zeiten aussahen. Kein Tempel und kein Tor oder sonst ein Gebäude durfte er beschreiben, das erst später gebaut wurde. Solche Fehler durften ihm nicht unterlaufen. Er legte grafische Darstellungen an, „Lebenslinien“ von Zeitgenossen der historischen Gestalt, die er beschrieb, damit er erkannte, wer wann und wie lange zur gleichen Zeit oder nicht gleichzeitig gelebt hatte. Dann konnte er seiner Fantasie und Kreativität, die er sonst nicht zu besitzen glaubte, freien Lauf lassen. So konnten beispielsweise aus einer kleinen, zehn Zeilen umfassenden alttestamentlichen Bibelstelle fünfzig Seiten seines Romans werden. Aber auch da erzählte er doch nur ausführlicher, was in kurzen Sätzen vorgegeben war. Aber er liebte es, sich in die Geschichte und Kultur und Lebensweise der alten Ägypter, der Babylonier oder Israeliten mit Hilfe der Literatur von Historikern und Archäologen einzuarbeiten und sich in jene Epochen versetzen zu lassen. Es war jeweils, als wäre er mitten drin. Er sah die Mauern der Städte, die Tore und Tempel, teils aus eigener Anschauung, teils aus Bildbänden oder dem Internet vor sich, er ging mit Echnaton durch Achet Aton, mit Moses durch Pi Ramesse, mit Paulus durch Ephesus und das alte Korinth und alle anderen Orte in Kleinasien, mit Jesus durch Jerusalem, mit Abraham durch die Stadt Ur und stieg mit ihm auf die Zikkurat zu den Priestern des Mondgottes Nanna. Seine Gabe der Intuition erlaubte es ihm, sich in die Menschen, ob Herrscher oder Apostel oder die einfachen Leute aus dem Volk der damaligen Zeit hineinzuleben. Besonders gefreut hatte ihn die Stelle in der Rezension einer Fachzeitschrift über ägyptische Kultur, in der geschrieben stand, seine Schilderung der damaligen Verhältnisse und die historischen Zusammenhänge in seinem Echnaton-Roman seien durchaus glaubhaft.

      Auch in seinem Kriminalroman, den ein Zeitungsverleger, der den Krimi in seiner Zeitung als Vorabdruck erscheinen ließ und ihn ein Kabinettstück der Kriminalliteratur nannte, hatte er sich in die Protagonisten hineingelebt und ihr Handeln aus ihrer Psyche heraus darzustellen versucht. So schlecht waren diese Bücher wohl doch nicht. Gut, bei dem Krimi hatte er lebende Vorbilder gehabt. Damals war es einmal zu einer komischen Situation gekommen. Einer seiner guten Bekannten hatte ihm gesagt, er sei stolz, sich in dem Roman verewigt zu sehen. Er hatte sich mit dem Vater des vermuteten jugendlichen Täters identifiziert, dabei hatte Arthur einen ganz anderen Menschen als Vorbild genommen.

      Jener Verleger, der seinen Krimi gelobt hatte und der jedes Jahr ein Weihnachtbüchlein für seine Kunden mit Weihnachtsgeschichten herausgab, meinte auch, Arthurs Weihnachtsgeschichten könnten durchaus mit denen berühmter Autoren der Weltliteratur verglichen werden. Die Nachfrage nach seinen Weihnachtsgeschichten war dann auch tatsächlich recht groß gewesen.

      Aber was war denn mit seinen anderen Romanen, die ein Wiener Verleger herausgebracht hatte und der starb, ehe alle Bücher im Buchhandel erschienen? Der Verlag wurde aufgelöst und alle Exemplare, welche die Autoren nicht selber noch kauften, wurden von den juristischen Nachlassverwaltern kurzerhand zum Eingestampftwerden verurteilt. Welch grausames Verfahren! Fast kam es den Bücherverbrennungen gleich, wenn auch aus einem anderen Motiv.

      Es gab keine Besprechungen von Arthurs Büchern in der Presse. Sie wurden demzufolge weder gelobt noch zerrissen, nur von seinen Lesern erhielt er Positives zu hören. Doch er selbst wusste, diese Bücher erhielten viel Autobiografisches. Er hatte stets aus seinem bewegten Leben geschöpft, hatte es verfremdet, aber nichts Kreatives geschaffen. Nein, große Literatur waren diese Romane nicht. Oft hatte er beim Schreiben versucht, kreativ zu sein, gescheite Gedanken zu formulieren, aber dann kam er wieder ins Erzählen, seine Finger flogen nur so über die Tasten.

      Ja, der Kriminalroman, der hätte ein Erfolg werden können, wäre sein Verleger nicht gestorben. Hatte nicht jener andere Verleger, der seinen Krimi in Fortsetzungen in der Zeitung veröffentlicht hatte, von einem Kabinettstück gesprochen? Der Krimi wäre vielleicht sogar verfilmt worden. Doch an wen sollte er sich wenden? Er hatte keine Beziehung zu Filmschaffenden.

      Arthur war immer ein Einzelgänger gewesen. Er hatte sich nie um die Aufnahme in einen Schriftstellerverein bemüht und auch nie mit andern Autoren einen Brief-wechsel geführt, außer mit jenem deutschen Oberstudienrat, der skurrile Kurzgeschichten schrieb und sie selber in kleinen Auflagen veröffentlichte und durch Arthurs kleines Buch mit „Wunderlichen Geschichten“ auf ihn aufmerksam wurde. Die beiden tauschten eine Zeitlang ihre Bücher aus, und der Oberstudienrat ging immer wieder auf Arthurs neue Veröffentlichungen ein, lobte sie meistens und ermunterte ihn immer wieder, trotz der Misserfolge mit den Verlegern, das Schreiben nie aufzugeben. Ja, auch mit einem Schriftsteller aus der DDR hatte er korrespondiert, den er an einem Treffen nicht linientreuer Autoren in Ostberlin, drei Wochen vor dem Bau der Mauer kennen gelernt und in ihm eine verwandte Seele gefunden hatte. Dieser Autor, der sich selber nicht politisch und gesellschaftlich äußern durfte und sich auf das Schreiben von Gedichten und – er war Förster - von Schilderungen der Natur in kleinen Erzählungen beschränkte, hatte an Arthurs Büchern bemängelt, dass er seine Freiheit nicht nutze, um das politische Leben seines Landes zu beschreiben. Sowohl die Briefe des einen wie des anderen hatte Arthur – was er heute bedauert – nicht aufbewahrt.

      Hat eines seiner Bücher je etwas bewirken können?, fragt sich Arthur Eigenmann. Wird einmal etwas bleiben? Da erinnert er sich plötzlich an etwas, das ihm ein kurzes, fast ein wenig abschätziges Lächeln entlockt. Eigentlich gar kein Lächeln, nur ein „hmm“, ein kleiner Schluckauf. Warum handelt Ihr Krimi in Hombrechtikon und nicht in unserem Dorf?, ist er gefragt worden, als er damals in der Bibliothek seiner Wohngemeinde daraus vorlas. Warum nicht auch von einem Mord schreiben, der in unserem Dorf sich abspielt?, dachte Arthur. Da bietet sich doch der Wasserfall in der kleinen Schlucht, die gleich ein paar Schritte hinter unserem Haus beginnt, für eine solche Tat geradezu an. Gedacht – getan. Da wird also eines Nachts ein Mann vom schmalen Weg, der ganz nah über dem Wasserfall hinwegführt, hinuntergestürzt. Arthur schreibt den Krimi in der Ich-Form und ist selbst der Täter. Er ist ein wenig stolz darauf, denn das hat er sonst noch nie bei einem Krimi gesehen. Er schickt das Manuskript dem Verleger, der seinen „Mord in Hombrechtikon“ veröffentlichen will, und bittet ihn, den kleinen Krimi, den er „Tod am Wasserfall“ nennt, dem andern noch anzuhängen. Ein Exemplar des Buches schenkt er dem Gemeindepräsidenten. Als Arthur das nächste Mal durch die kleine Schlucht geht und beim Wasserfall in die Höhe steigt, sieht er, dass zwischen dem Weg und dem steil abfallenden Felsen, über den der Bach hinabstürzt, ein Zaun errichtet worden ist. Das einzige sichtbare Zeichen, dass ein Buch von Arthur etwas Gutes bewirkt hat. Aber nicht einmal das hat Bestand vor Arthurs bilanzierender Erinnerung. Denn ein Jahr später hat sich trotz des Zauns ein Verzweifelter hinabgestürzt. Es jedoch ist nicht anzunehmen, dass er Arthurs Krimi gekannt hat.

      Nachdem Arthurs letzter Verlag seinen Versprechungen nicht nachgekommen war, hatte er keinen neuen Verleger mehr gesucht. Er wusste, wie viele Verlage angeschrieben, wie viele Kurzdarstellungen und Probeseiten an die Verlage versandt werden müssten, bis man auch nur von einem oder zweien eine abschlägige Antwort erhielte. Er kannte sich aus, er war ja vom Fach. Nein, bis vielleicht einer an der ausgeworfenen Angel hängen blieb, würde er dies gar nicht mehr erleben können. So fing er an, seine Geschichten in ganz kleinen Auflagen selbst herauszugeben, als Geschenke für seine Freunde und einige treue Leser. Schließlich schrieb er nur noch für seine Freundin, die er zu ihrem Geburtstag oder zu Weihnachten mit einer neuen, schön eingebundenen Erzählung überraschte. Manchmal gelang ihm auch ein kleines Gedicht, wie jenes über den Hügel, den er jetzt, während er diese Zeilen schreibt, durch das Fenster seiner Klause sieht.

      Er ist nicht verbittert, er grämt sich nicht mehr über die literarische Welt, die von seinen Büchern kaum Notiz genommen hat, verübelt es ihr nicht und niemandem.

      Nicht einmal jenes kleine Sachbuch, von dem das Börsenblatt des deutschen Buchhandels meinte, es müsste in hunderttausend Exemplaren verbreitet werden, brachte