Der Hügel. Martin Renold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Renold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738010329
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schauen. Erst wenn fremde Flugzeuge gesichtet wurden, mussten die Schüler in den Keller hinabsteigen. Sonst ging der Unterricht wie gewohnt weiter.

      Nach der kleinen Unruhe, die durch den Lärm der Sirenen und das Hinausgehen des Schülers entstanden war, sagte der Deutschlehrer:

      „Eigenmann, Ihre Mitschülerin hat Sie gefragt, ob das Nirwana mit vollkommenem Vergessen zu vergleichen sei.“ Arthur war dem Lehrer im Stillen dankbar, dass er offenbar seine Verlegenheit von vorhin bemerkt hatte und nun die deutsche Bedeutung für Lethargie verwendete.

      Bei dieser Gelegenheit wurde es Arthur wieder deutlich bewusst, dass er aus einer einfachen Arbeiterfamilie stammte, in der nicht mit solchen Fremdwörtern gesprochen wurde. Das hing ihm an wie ein schwerer Rucksack, den er nie würde ablegen können. Sein Vortrag war, wenn er es recht bedachte, sogar ein Plagiat gewesen, und dann noch das!

      Schon zwei Jahre vorher hatte er sich überlegt, was einmal aus ihm werden würde, wenn er die Matura gemacht haben würde. Daran, dass ihm dies gelingen würde, zweifelte wohl kein Lehrer, nicht einmal der neue Lateinlehrer, der in der dritten Klasse unterrichtete. Doch konnte er seinem Vater zumuten, ihm ein Studium in Zürich zu finanzieren? Es gab zwar Stipendien, aber die deckten bei Weitem nicht die Kosten eines Studiums in Zürich, wo er täglich mit dem Zug hinfahren oder sich in der großen Stadt ein Zimmer suchen müsste. Die Ausgaben für die Schulhefte und Bücher in der Kantonsschule waren schon hoch genug für das Budget seines Vaters. Alljährlich gab es zwar einen Büchermarkt auf dem Vorhof der Schule, an dem die älteren Schüler ihre Bücher, die sie nicht behalten wollten, verkauften. Da wurde gefeilscht wie auf einem arabischen Basar. Das eine oder andere Buch konnte Arthur so erwerben, aber manche Bücher waren trotzdem für ihn nicht erschwinglich und wurden ihm von anderen Schülern, die einen höheren Preis zahlen konnten, weggeschnappt. So musste er doch noch viele Bücher in der Buchhandlung kaufen. Unter anderem auch einen teuren Schulatlas. Daheim gab es allerdings einen großen „Dierckes Weltatlas“, den sein Vater in der Sekundarschule gebraucht hatte und am Ende der Schule mitnehmen durfte. Er war schon ziemlich abgegriffen, die eine oder anderes Seite fiel auch schon heraus, und in Asien, Afrika und Südamerika gab es weiße Flecken, bei denen gedruckt stand „Unerforschtes Gebiet“. Die Grenzen der Länder in Europa stimmten auch nicht mehr mit der Wirklichkeit überein. Arthur staunte immer wieder über die rot gefärbten Länder in Asien, Afrika, ja selbst in Nordamerika. Sie zeigten, wie gewaltig das britische Weltreich und wie klein das Mutterland war. Nebst den roten Kolonialgebieten des britischen Imperiums gab es in andern Farben die französischen, portugiesischen und damals auch noch deutschen Kolonien. Arthur hatte schon früher oft in dem Atlas geblättert, aber für die Schule brauchte er eben einen neueren Schulatlas, dazu für den Geschichtsunterricht auch noch einen historischen Atlas, der die Länder und Reiche zeigte, wie sie sich im Altertum und im Mittelalter entwickelt hatten. Das alles kostete viel Geld, auch der Zirkel und die Winkelmaße, die Maßstäbe, die Füllfeder und jeder Bleistift und Radiergummi.

      Nein, ein Studium würde er seinem Vater nie zumuten können. Nach vielen Überlegungen stand für ihn fest, dass er in die Handelsabteilung wechseln würde. Mit einem Abschluss würde er sofort einen Beruf ergreifen können und seinem Vater nicht länger auf der Tasche liegen. Alles, was die andern an humanistischer Bildung im Gymnasium lernten, außer Latein und Griechisch, wollte er sich selber anhand von Büchern, die er weiterhin aus der Schulbibliothek beziehen würde, aneignen.

      Nun war er auf einmal einer der Besten in der neuen Klasse der Handelsabteilung. Am meisten liebte er den Deutschunterricht. Hier wurde der „Egmont“ von Goethe gelesen, „Der Grüne Heinrich“ von Keller, Theaterstücke wurden einstudiert, Gedichte auswendig gelernt und aufgesagt. Manche Schüler hatten wenig Interesse an solchen Dingen. So war er auch jetzt fast der Einzige der Klasse, der die Schulbibliothek benutzte. Der eine oder andere Schüler holte sich wohl einmal einen Roman, vielleicht von Ernst Wiechert, der gerade en vogue war, doch Arthur stieg immer mit einen Arm voll Büchern von der Bibliothek, die unter dem Dach eingerichtet war, nach unten.

      Einmal hatte der Lehrer einen Schüler seinen Aufsatz vorlesen lassen. Der Lehrer bezeichnete ihn als das Musterbeispiel eines gut geschriebenen Aufsatzes. Das nächste Mal schrieb Arthur seinen Aufsatz in einem ähnlichen Stil. Doch der Schuss ging hinten hinaus.

      „Eigenmann“, sagte der Lehrer, als er Arthur sein Aufsatzheft zurückgab, „dieses Elaborat, das Sie geschrieben haben ist nichts anderes als ein Plagiat. Sie sollen nicht Ihren Mitschüler Niedermeyer imitieren, sondern Ihren eigenen Stil finden.“

      „Ja, so ist es“, denkt Arthur, „und schaut zu seinem Hügel hinauf. „Ich habe nie einen eigenen, unverwechselbaren Stil gefunden. Ich habe mich mal von diesem, mal von jenem Autor beeinflussen lassen wollen, aber nicht einmal das habe ich geschafft. Geschichten und Romane sind immer ein „stilloses“ Erzählen geblieben.

      Als Arthur die Schule als zweitbester seiner Klasse abschloss, war sein größter Wunsch gewesen, in einem Verlag zu arbeiten. Doch das gelang ihm erst ein paar Jahre später.

      Fern auf dem Hügel sieht Arthur das junge Bäumchen, das ganz oben allein zwischen zwei Wäldchen in einer Mulde am Horizont steht. Von seinem Schreibtisch aus ist es nur wie ein Punkt auf einem Strich zu sehen oder wie ein im Boden steckendes abgebrochenes Streichholz. Zweimal schon ist er mit seiner Freundin über jene Mulde und an den Bäumchen vorbei hinaufgestiegen. Er wollte nicht sterben, ohne wenigstens einmal dort oben gestanden zu haben. Sie hatten nach dem kleinen Baum Ausschau gehalten. Aber aus ihrer Perspektive war er kaum zu erkennen, da er beinahe vom Wald dahinter verschluckt wurde. Aber sie hatten ihn schließlich doch entdeckt, da sich seine grüne Farbe ein wenig vom dunkleren Grün des Waldes abhob. Seither ist ihm das Bäumchen besonders lieb, und immer, wenn er zum Hügel schaut, geht sein Blick zum Horizont. Ehe er vor zwei Jahren den grauen Star am einen Auge hatte operieren lassen, hatte er das Bäumchen selbst mit der Brille nicht gesehen. Jetzt sieht er es bei schönem Wetter sogar ohne die Gläser.

      Oft wenn er zum Hügel hinaufschaut, denkt er an seine Vergangenheit. Der Hügel hat ihn durch seine ganze Jugend begleitet. Jetzt, im Alter, ist der Hügel ihm noch näher. Nicht nur emotional. Die Stadt hat sich auf das Land in die Richtung zum Hügel hin ausgebreitet, und er wohnt jetzt ganz am Rand der Stadt.

      Er ist schon ein paar Mal an dem Haus, in dem er als Knabe und junger Mann gelebt hat, vorbeigegangen. Seltsamerweise war in jenem Haus genau zum Zeitpunkt seiner Suche eine Wohnung ausgeschrieben. Als er vor dem Haus stand, hatte er gesehen, dass genau die Wohnung im zweiten Stock, in der er gewohnt hatte, leer stand. Die Straße ist verbreitert worden und reicht jetzt bis zu zwei oder drei Handbreit an das Haus heran. Kein Gartenhäuschen, kein Rosengärtchen mehr, auch keine Spaliere vor und hinter dem Eingang. Seine Freundin war bei ihm, und er zeigte ihr das Fenster, hinter dem einst sein Schlafzimmer war und von dem aus er oft den Vollmond hinter den Hügeln hatte aufgehen sehen. Das graue, schmucklose Haus macht einen traurigen, verlassenen, beinahe toten Eindruck. Die Fenster, auch die der anscheinend noch bewohnten Etagen, sind meist ohne Vorhänge, schwarze, fast unheimliche Löcher, hinter denen sich dunkle Schicksale abzuspielen scheinen. Vermutlich wohnen jetzt Ausländer in dem Haus. Bestimmt hätte er die Wohnung bekommen, wenn er sich um sie beworben hätte. Der wehmütige Gedanke an die Vergangenheit und sie wieder mit der Gegenwart zu verbinden, war jedoch rasch verflogen. Das Haus hat bestimmt keinen Aufzug, in seinem Alter wollte er kein Risiko eingehen, und überhaupt, so wie es aussieht, scheint das Haus bald dem Abbruch geweiht zu sein.

      Eine Fabrik gegenüber dem Haus hat einem riesigen Wohnblock weichen müssen. Daneben sind zwei kleinere Wohnblocks gebaut worden, welche die Aussicht auf die Hügel von Arthurs ehemaligem Zimmer aus vollends verdecken.

      Ein wenig Wehmut war schon in ihm aufgestiegen. Auf dieser Straße hatte er im Winter mit den Nachbarsbuben Eishockey gespielt und im Sommer Verstecken und Völkerball, auch mit den Mädchen. Von hier aus hatte er mit seinen Freunden das Revier, ihre kleine Welt durchstreift, bis hinauf zum nahen Wald. Hier, auf der Straße und den Hinterhöfen, hatte er sich zum ersten Mal in ein Mädchen verliebt. Doch jetzt: Sina, seine Freundin, hatte ihn von der Seite angeschaut und ihm angesehen, dass er in die Vergangenheit versunken war und verständnisvoll ihn eine Weile darin gelassen.

      Das ist