Am Vormittag standen ein Diktat und ein Aufsatz auf dem Programm. Der Nachmittag war frei.
Am folgenden Tag mussten verschiedene Rechenaufgaben gelöst werden.
Arthur hatte nach beiden Prüfungen ein gutes Gefühl. Beim Diktat hatte er sicher kaum einen Fehler gemacht. Und Aufsätze schrieb er ohnehin gern. Seine Arbeit würde gewiss positiv beurteilt werden. Auch die Rechenaufgaben waren nicht allzu schwierig gewesen. Er hatte alle gelöst.
An einem der folgenden Tage konnten sich alle Kandidaten in der Aula des Schulhauses versammeln. Es war eine gespannte Stimmung in dem bis auf den letzten Platz angefüllten Raum, noch bevor der Rektor hereinkam. Und sie stieg fast ins Unerträgliche an, als die Namen jener, die bestanden hatten, in der alphabetischen Reihenfolge heruntergelesen wurden. Der Rektor las sie langsam mit lauter und deutlicher Stimme. Urs war im Alphabet vor Arthur.
„Baldegger, Urs“, rief der Rektor, und Urs, der neben Arthur saß, atmete erleichtert auf und schaute seinen Nachbarn glückstrahlend an. Wenn Urs aufgenommen wurde, dachte Arthur, dann wäre sicher auch er nicht durchgefallen. Sonst würde er die Welt nicht mehr verstehen. Endlich wurde auch Arthurs Name genannt. Er zeigte kaum eine Regung. Aber er fühlte es, er war der glücklichste Mensch auf der Welt.
Auf dem gemeinsamen Heimweg redete Urs fast ununterbrochen von seinen Zukunftsplänen, während Arthur still, aber glücklich neben ihm herging.
Am Montag der nächsten Woche rief Lehrer Fink, als nach Schulschluss alle hinausstürmten, Arthur zurück.
„Ich habe eine Nachricht von der Kantonsschule erhalten“, fing Herr Fink an.
Arthur spürte, dass es seinem Lehrer nicht leichtfiel, davon zu reden. Was hatte das wohl zu bedeuten? Etwas Schlimmes oder Gutes? Wohl eher das Erstere.
„Einer von euch beiden hat dem andern abgeschrieben“, fuhr Fink fort. „Bei einer Rechnung habt ihr den gleichen Fehler gemacht. Der Rektor der Kantonsschule meint, das könne kein Zufall sein.“
Arthur erschrak. Angst stieg in ihm auf. Das bedeutet wohl, dass beide ausgeschlossenen werden, überlegte er. Er war sich zwar sicher, nicht abgeschrieben zu haben. Das wäre auch nicht so leicht gewesen, denn er saß rechts und Urs links in der Bank. Da konnte er kaum unbemerkt über seine Hand auf sein Blatt schielen. So wie er Urs kannte, würde er ganz bestimmt leugnen. Höchstens seine Unsicherheit und Schamröte könnte ihn überführen. Auch Lehrer Fink musste solche Überlegungen gemacht haben, denn er sprach weiter:
„Wenn du mir sagst, dass du nicht abgeschrieben hast, dann glaube ich dir, dass es die Wahrheit ist. Bei Urs wäre ich nicht so sicher. Also sage mir offen und ehrlich: Hast du abgeschrieben?“
„Nein“ antwortete Arthur. „Ich habe sicher nicht abgeschrieben, das dürfen Sie mir glauben.“ Und dann fügte er nach einem kurzen Nachdenken hinzu: „Ich habe aber auch nicht gemerkt, dass Urs mir abgeschrieben hätte.“
„Dein Wort genügt mir“, sagte Fink und klopfte Arthur, der doch ein wenig ängstlich vor ihm stand, beinahe väterlich auf die Schulter. „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, ich weiß jetzt, was ich antworten werde.“
So kam es, dass Arthur der einzige Schüler seiner Klasse war, der in das Gymnasium eintreten konnte.
Eigenmann“, sagte der Lateinlehrer barsch und warf Arthur das Heft auf die Bank, dass es einen klatschenden Ton gab und Arthur, Schreckliches ahnend, zusammenfuhr. „Eine Zweieinhalb“. Er hielt jetzt nur noch das Heft von Barbara Lätsch in der Hand.
„Eine Zwei“, sagte er und warf auch ihr das Heft auf die Bank.
Hier ging es nicht nach dem Alphabet.
Wenn der Lateinlehrer die korrigierten Klausuren verteilte, dann kamen zuerst die Besten dran. Beni, der Sohn eines Mittelschullehrers, der an der gleichen Schule unterrichtete, war immer der Beste. Sein Heft lag zuoberst, sein Name wurde nicht so vorwurfsvoll genannt, und das Heft wurde ihm in die Hand gereicht, wenn darauf die Bemerkung „eine Sechs“ folgte. Auch das Heft von Peter, dem Sohn eines reichen Kaufmanns, lag meistens weit oben. Eine Fünf war für ihn schon eine schlechte Note. Es war jeweils eine grausame Tortur für Arthur, wenn der Lehrer zwischen den Bankreihen hin und her ging und der Stoß der Hefte immer kleiner wurde. Arthur brachte es ganz selten einmal auf eine Vier.
Für den einst besten Schüler in der Grundschule war dies eine herbe Enttäuschung, zumindest in diesem Fach einer der Letzten zu sein und auf diese Weise vor den anderen Schülern bloßgestellt zu werden. In allen übrigen Fächern war er zwar gut, aber das Latein bereitete ihm Schwierigkeiten. Wohl konnte ihm die Mutter zu Hause die Wörter abfragen, aber bei der Grammatik konnte sie ihm auch nicht helfen. In der zweiten Klasse, als Französisch dazu kam, war dies noch weniger möglich, und im Englischen, wo alles ganz anders ausgesprochen wurde als geschrieben, schon gar nicht. Immerhin gehörte in diesen beiden Sprachen Arthur bald einmal zu den besseren Schülern.
Hans Müller war der einzige Mitschüler, mit dem er sich anfreunden konnte. Er kam aus ähnlichen Verhältnissen wie Arthur. Alle anderen, so vermutete er, hatten zu Hause große Bibliotheken, und ihre Väter waren Akademiker und sprachen eine oder gar mehrere Fremdsprachen. Dasselbe war auch von ihren Müttern, die aus der gehobeneren Gesellschaft stammten, zu vermuten.
„Weißt du“, hatte Hans viele Jahre später zu ihm gesagt, als sie sich wieder einmal getroffen hatten, „die anderen Mitschüler haben alles von ihren Eltern mitbekommen. Wir beide mussten uns alles ganz allein erschaffen.“
Ja, so war es gewesen. Arthur erinnerte sich an eine Episode in einer bereits höheren Klasse. Alle mussten in der Deutschstunde einen Vortrag halten. In den Stunden vorher waren die Meisten schon drangekommen. Sie alle hatten interessante Themen gewählt, trugen etwas vor über ein Gebiet, das in der Schule nicht gelehrt wurde, zum Beispiel über die Geschichte eines Schlosses in Graubünden oder über einen bekannten Gelehrten, Maler oder Musiker. Arthur hielt, als die Reihe an ihm war, einen Vortrag über den Buddhismus. Das Fach Religion war auf dieser Stufe freiwillig. Weil Arthur der Einzige seiner Klasse war, der den Religionsunterricht besuchte, musste er dies zusammen mit den Freiwilligen aus der Parallelklasse tun. Der Religionslehrer hatte interessant und lebendig über alle fremden Hauptreligionen referiert, auch über den Buddhismus. Das hatte ihn angesprochen, und er war sich sicher, später, wenn er Geld haben würde, um sich Bücher zu kaufen, die ihn mehr interessierten als die Schulbücher, würde er sich weiter in die Welt des Buddhismus vertiefen. Nicht dass er etwa den Wunsch gehabt hätte, seine christliche, reformiert-evangelisch geprägte Religion, in der er aufgewachsen war, aufzugeben. Nein, das würde er gewiss nie tun. Und er tat es auch nie.
Zuhause hatte Arthur keine Sachbücher, aus denen er Material für einen Vortrag hätte zusammenstellen können. Er brachte zwar immer vier Bücher, so viele, wie man sich auf einmal ausleihen konnte, aus der Schulbibliothek nach Hause, aber das waren die Klassiker, Schiller, Goethe, Lessing, Gottfried Keller und Konrad Ferdinand Meyer, alles Bücher, welche die anderen zu Hause in den Bibliotheken ihrer Eltern hatten. Arthur verschlang diese Bücher, die ihm eine unbekannte Welt zeigten.
Er schämte sich eigentlich ein wenig, dass er in seinem Vortrag nur mehr oder weniger das wiedergab, was er im Religionsunterricht gehört hatte. Zum Glück wussten die andern davon nichts. Aber dann geschah etwas, das ihn blamierte. Er hatte vom Nirwana gesprochen, und als in der anschließenden Diskussion eine Mitschülerin fragte, ob denn das Nirwana gleichzusetzen sei mit einer Lethargie, wusste er keine Antwort. Er hatte das Wort Lethargie zum ersten Mal gehört.
Zum Glück gingen gerade in diesem Moment die Sirenen los. Einer der Schüler musste aufs Dach steigen, wo aus Holz eine Art Hochstand