Der Hügel. Martin Renold. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Martin Renold
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783738010329
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Buben und zwanzig Mädchen, wegen dieser Bevorzugung durch den Lehrer eifersüchtig waren oder ihn hänselten und plagten, wie das leider oft bei Schülern vorkommt, die sich durch Strebertum oder sonst eine Besonderheit hervortun. Im Gegenteil, er selbst hielt sich nicht für etwas Besseres, und auch seine Kameraden behandelten ihn als Ihresgleichen. Nur das eine oder andere Mädchen begann ihn still zu verehren, und eines der Mädchen wollte unbedingt am Kinderfest mit Arthur zusammen fotografiert werden, natürlich mit der Fahne, die Arthur im Umzug der Klasse vorausgetragen hatte.

      Arthur musste doch auch das eine oder andere Mal einen Verweis des Lehrers entgegennehmen, doch nur, weil er da oder dort einen Buchstaben oder eine Zahl unsauber oder gar unleserlich hingeschrieben hatte. Doch dies betrachtete er nicht als Fehler. Wenn alles andere stimmte, war ihm dies egal.

      So gingen die ersten drei Schuljahre problemlos vorbei. Für die nächsten drei Schuljahre wechselten die Buben in ein anderes Schulhaus und bekamen nicht nur einen neuen Lehrer, sondern auch zwanzig neue Mitschülerinnen. Man könnte sagen, Arthur sei auch hier ein Musterschüler gewesen. Er selbst hielt sich allerdings nicht dafür. Doch während die anderen Kinder, Buben wie Mädchen, oft sogenannte Tatzen, Streiche auf die Hand mit einem Rohrstöckchen, bekamen, blieb Arthur während all der Jahre davon verschont. Ein einziges Mal hatte der Lehrer ihn an den Haaren hinter den Ohren gezerrt, weil er seinem Banknachbarn etwas zugeflüstert hatte, während der Lehrer etwas erklärte. Unglücklicherweise war der Lehrer gerade hinter ihm gestanden. Das ist wie beim Fußball, wenn der Schiedsrichter nahe beim Spieler steht, wenn der gerade ein Foul verursacht, das einen Penalty zur Folge hat. Die Rüge schmerzte Arthur mehr als das Haarezupfen. Auch bei Lehrer Fink war er der beste Schüler. Er lernte schnell. Ein Gedicht mit mehreren Strophen musste er nur zweimal anschauen, dann konnte er es auswendig hersagen. Keiner konnte so schnell Deklinieren und Konjugieren wie er, die Diktate schrieb er fehlerlos, und im Kopfrechnen war er meistens der Schnellste.

      In der fünften Klasse floss sozusagen zum ersten Mal Blut durch seine dichterische Ader. Zu Weihnachten überraschte er seinen Lehrer mit einem Weihnachtsstück, das er geschrieben und mit einigen seiner Mitschüler einstudiert hatte. Es muss allerdings gesagt werden, dass dieses kleine Weihnachtsspiel nicht ganz seiner Fantasie entsprungen war. Er hatte die Geschichte in einem Kalender gelesen und für die Aufführung am letzten Schultag vor Weihnachten dramatisiert.

      Der Lehrer war des Lobes voll. Dass einige Mädchen auch in dieser Klasse Arthur bewunderten und sich verliebten, erfuhr er erst viele Jahre später bei einer Klassenzusammenkunft. Dabei erzählte ihm auch Albert Schwendener, der früher immer sein Intimfeind und Plagegeist gewesen war, mit Stolz, er habe bei der letzten Klassenzusammenkunft, bei der Arthur nicht dabei gewesen war, jene Schnitzelbank vorgelesen, die er, Arthur, für die Abschlussfeier am Ende der sechsten Klasse verfasst habe. Woher Albert den Text hatte, wusste Arthur nicht. Doch als er daheim das alte, vergilbte Blatt nach langem Suchen fand und die Verse zu lesen begann, wurde ihm mulmig zumute, einerseits, weil er sie schlecht fand, anderseits aber auch, weil er eines der Mädchen – sie war die Dickste und auch nicht gerade die Intelligenteste gewesen – etwas unfreundlich, um nicht zu sagen, beleidigend dargestellt hatte, worüber er sich nun nachträglich schämte. Er hoffte nur, dass dieses Mädchen nicht bei der Klassenzusammenkunft dabei gewesen war. Das war normalerweise nicht seine Art gewesen, dass er die Mädchen verachtet hätte, schon damals nicht. Im Gegenteil, er hatte sich immer auf die Seite der Mädchen gestellt, wenn ihnen die Buben im Winter Schneebälle nachwarfen oder sie beleidigten oder hänselten.

      Charmant war ein Wort, das Arthur erst später kennen lernte. Aber Freundlichkeit und Liebenswürdigkeit lernte er vor allem von seiner Mutter. Wenn auch manche Nachbarn sie für stolz oder streng hielten, weil sie jedem Getratsche auf der Straße aus dem Wege ging, war sie doch eine warmherzige und liebevolle Frau, die andere Menschen achtete und von jenen, die sie besser kannten, geschätzt und geliebt wurde.

      Arthur war nicht in dem Haus geboren worden, in dem er seine Jugend verbrachte und aus dem er jeden Tag von seinem Schlafzimmer aus auf jene Hügel schaute, hinter denen oft der Vollmond aufging, was in Arthur schon damals romantische Gefühle erweckte.

      Es war ein ganz gewöhnliches graues Haus mit vier Stockwerken und einem Giebel und ohne Balkon. Sein Grundriss war quadratisch, und hätte es den Giebel nicht gehabt, hätte es ausgesehen wie ein abgesägter Turm. Es stand an einer damals verkehrsarmen Nebenstraße – die hauptsächlich sein Spielplatz war –, parallel zu der Hauptstraße, die in die nächste kleinere Stadt führte. Die Eltern waren mit ihm und seiner Schwester in dieses Haus gezogen, als er drei Jahre alt war.

      Das Haus wäre trotz der paar Kakteen, die Arthurs Vater auf die Simse vor den beiden Stubenfenstern gestellt hatte, schmucklos gewesen, wenn die Besitzerin, Frau Dubler, auf der Straßenseite nicht einen kleinen Rosengarten angelegt und in die Ecke ein kleines Gartenhäuschen gesetzt hätte, von dem eine Seite offen war, während die anderen drei Seiten, aus lichten Holzgittern bestehend, blendend weiß angestrichen waren. Innen lief an den drei Seiten eine Bank um einen kleinen Holztisch. Doch es waren wenige, glückliche Momente, an denen die Kinder in das Gärtchen treten durften, um im Gartenhäuschen zu spielen oder zu plaudern. Dies durfte nur geschehen, wenn Frau Dubler es erlaubte und sie in der Nähe war und die Kinder im Auge behalten konnte. Die Ballspiele mussten weiter oben oder weiter unten auf der Straße stattfinden, damit keine Rose von einem fehlgeleiteten Ball abgedrückt würde. Die Kinder hielten sich an diese Vorschrift und ließen die Bälle lieber in den Gemüsegarten der Nachbarin fallen, die darüber allerdings auch nicht erbaut war und oft einen Ball zurückhielt, bis eines der Kinder, meistens war es Arthur, hinging und sich entschuldigte.

      Zum Eingang auf der Ostseite des Hauses führte ein schmaler zementierter Weg. An der Wand vor dem Eingang spross ein Pfirsichspalier.

      „Arthur, da fehlt ein Pfirsich. Hast du oder ein anderes Kind den Pfirsich genommen?“, konnte es oft geschehen, dass Frau Dubler ihn ansprach, wenn er aus dem Haus trat und sie auf der Bank gegenüber dem Pfirsichbäumchen saß. Sie hatte immer ein wachsames Auge und sah es sofort, wenn eine Frucht fehlte. Vielleicht war der reife Pfirsich heruntergefallen. Arthur und alle anderen Kinder im Haus wussten, dass jeder auf dem Boden liegende Pfirsich der Frau Dubler gebracht werden musste. Anders war es mit dem Aprikosenspalier hinter dem Eingang. Der war grösser und trug im Sommer mehr Früchte. Hier durften alle abgefallenen Aprikosen von den Kindern aufgelesen und gegessen werden.

      Frau Dubler fragte meistens Arthur nach den fehlenden Pfirsichen, weil sie von ihm eine wahre Antwort erwartete, während sie bei allen andern Kindern voraussetzte, dass sie schwindeln würden.

      Arthur war ein schwächlicher Junge. Eine Quecksilbervergiftung hatte seinen Körper geschwächt und ihn an den Rand des Todes geführt. Noch mit achtzig Jahren erinnert sich Arthur, wie er als kleiner Bub auf dem Boden im Wohnzimmer saß und mit den silbernen Kügelchen auf dem Boden spielte, die aus dem zerbrochenen Fiebermesser gekollert waren, weil er den Arm gehoben hatte, unter den ihm die Mutter das Thermometer gesteckt hatte. Er erinnert sich auch noch, wie erschrocken die Mutter war, als sie aus der Küche zurückkam und wie sie rasch die Stube wieder verließ und mit Schaufel und Besen zurückkam und die Kügelchen zusammenwischte und sie wieder hinaustrug. Daran, dass sie mit einem Waschlappen zurückkehrte und ihm die Hände wusch, erinnert er sich allerdings nicht mehr, auch nicht an die vier Wochen, in denen er wie ein aus dem Nest gefallenes Vögelchen gefüttert wurde. Erst wenn der Vater von der Arbeit nach Hause kam und ihm die Hände und Füße festhielt, konnte ihm die Mutter die Nase zudrücken, damit er ein oder zwei Löffelchen Milch schluckte. Das war die einzige Nahrung während der ganzen Zeit, bis seine Verkrampfungen sich lösten und er wieder zu essen begann. Während seiner ganzen Jugendzeit aß er so wenig, dass seine Muskeln sich nur wenig entwickelten und er immer spindeldürr war. Viele Jahre später einmal, es war nach dem Krieg und während seiner Mittelschulzeit, als er bereits neunzehn Jahre alt war, als sie mit der Schule an einem Weiher badeten und er im Gras lag, als er hörte, wie ein kleiner Knabe zu seinem Kameraden sagte: „Schau dort, das ist einer aus einem Konzentrationslager.“ Es war jene Zeit, als man in allen Zeitungen die schrecklichen und Erbarmen erheischenden Bilder von den aus den Lagern befreiten Gefangenen sah.

      Doch jetzt sind wir noch nicht so weit.

      Der Krieg brach aus, als Arthur in