Es sei das beste Buch, das er geschrieben habe, glaubt er selber auch, genauso wie einige seiner Leser, unter ihnen auch seine älteste Tochter.
„Glaub mir“, hat sie ihm einmal geschrieben, „von keinen deiner Bücher war ich so betroffen wie von diesem. Es ist dein bestes Buch.“
Es gibt noch einige andere Bücher, auf die er stolz ist: ein historischer Roman, einige seiner Geschichten, die in verschiedenen Bänden in einem deutschen Verlag erschienen, zwei oder drei kleine unveröffentlichte Romane und Erzählungen, die er für niemand anders als seine Freundin schrieb.
Sein Arbeitgeber, dem er damals sein erstes Buch geschenkt hatte, lobte ihn und verglich ihn mit einem berühmten deutschen Autor. Nach der Veröffentlichung seines zweiten Buches, einer Kindergeschichte, hatten ihm Kinder kleine Briefe und Zeichnungen geschickt. Mit einer späteren Neuauflage und mit drei weiteren Kinderbüchern hat er zudem vielen tausend lesefreudigen Kindern manche glückliche Stunde geschenkt.
Den ersten und einzigen Gedichtband hätte er wohl eher nicht veröffentlichen sollen. Auf einige Gedichte ist er allerdings auch jetzt noch stolz, andere betrachtet er als „Jugendsünden“. Von einigen jungen Mädchen weiß er, dass ihnen die Gedichte gefallen haben. Zwei oder drei seiner Schriftstellerkollegen hielten die Gedichte für pubertäre Gefühlsduselei und überhaupt zu konservativ. Arthur ließ sich nicht beirren. Er glaubt, dass jene Kollegen ein Gedicht nur dann für gut und modern hielten, wenn darin irgendwelche englische Wörter oder Namen wie Coca-Cola oder gar Wörter aus der Fäkalsprache vorkamen.
Heute würde er einige jener Gedichte wieder in einem Band veröffentlichen, zusammen mit Gedichten, die später entstanden waren und von denen er glaubt, sie würden auch der Literaturkritik standhalten können.
Auch das Buch, das er über seine Jugend geschrieben hat und wie er damals die Kriegsjahre erlebte, hat bei vielen Lesern eigene ähnliche Erinnerungen geweckt. Als Zeugnis jener Zeit hält er das Buch auch heute noch für lesenswert.
Wenn er aber an seine Romane denkt, dann muss er sich eingestehen, dass er immer nur sein eigenes Leben in verschiedenen Varianten und Verfremdungen dargestellt hat. Ihm fehlte die Fantasie, um etwas Größeres gleichsam aus dem Nichts zu schaffen. Zudem sind alle seine Romane einfach Erzählungen ohne tiefere philosophische Betrachtungen und ohne gesellschaftliche Relevanz. Viel Pech mit Verlegern, die entweder Pleite machten oder verstarben, verhinderte, dass seine Bücher in größerer Anzahl in den Buchhandel kamen und sein Schriftstellername über eine kleine Leserschaft hinaus bekannt wurde. Vielleicht ist es gut, dass seine Bücher nicht den Kritikern in die Hände fielen. Er hat nicht für die Literaturkritik geschrieben, auch nicht, wenigstens in den späteren Jahren, um berühmt zu werden. Er freut sich, wenn einfache Leute ihm sagen, seine Bücher könne man wenigsten – im Gegensatz zu vielen anderen – lesen und verstehen, freute sich seinerzeit auch, wenn er von einer Bibliothek oder sonst wem eingeladen wurde, aus seinen Büchern zu lesen, und wenn ihn dann die Zuhörer mit ehrlichem Beifall und dem Kauf seiner Bücher belohnten.
Manchmal denkt er, was aus ihm geworden wäre, wenn er in einer Akademikerfamilie aufgewachsen wäre wie die meisten seiner Kameraden im Gymnasium. Wäre er dann ein besserer Schriftsteller geworden oder wenigstens einer, der nicht schon zu Lebzeiten der Vergessenheit anheimgefallen ist? Liegt es an dem schweren Rucksack, den er auf seinem Rücken immer noch herumträgt, dass er keine großen Gedanken in seine Romane einflechten konnte, Sätze, die man später bei irgendwelchen Gelegenheiten oder in literarischen Zeitschriften zitieren kann?
Natürlich hätte er sich keine anderen Eltern gewünscht. Doch es gibt auch Schriftsteller, die in noch ärmlicheren Verhältnissen aufgewachsen sind und berühmt wurden. Vielleicht war seine Jugend zu behütet, zu unproblematisch und zu ruhig verlaufen. Muss man in der Gosse oder in einer armen, zerrütteten Familie aufwachsen, sich wie mit einem gewaltigen Schrei aus dem Gefängnis seiner Jugend befreien, um ein anerkannter Schriftsteller zu werden?
„Gehen wir heute einmal auf den Hügel?“, hatte ihn Sina gefragt, als sie, was sie fast jede Woche einmal tut, ihn in seiner Klause besuchte. „Das Wetter ist heute so schön, und du wolltest doch endlich einmal zu jener Höhe hinaufsteigen und von dort oben hinabschauen.“
„Als sähe ich auf mein ganzes Leben zurück“, erwiderte er. „Ja, ich bin bereit, gehen wir!“
Sie fuhren in ihrem Auto ins Tal hinab und auf der andern Seite hinauf auf der Straße, von der er ein Stück von seinem Fenster aus sehen kann, zu dem Dorf auf der Rückseite des Hügels. Auf einem langgezogenen Weg stiegen sie in die Höhe. Erst als sie um die Kuppe unter dem Wald hinauf zur Mulde mit dem Bäumchen schritten, waren sie auf jenem Teil des Hügels angelangt, den man von Arthurs Fenster aus sehen konnte. Es war Dezember gewesen, doch es lag noch kein Schnee. Als sie auf der Rückseite des Hügels hinabstiegen, sahen sie in der Ferne im Osten einen Baum, an dem Dutzende von roten Lichtern glänzten. Hatte ein Bauer an einem Apfelbaum bereits weihnachtliche Leuchtketten aufgehängt?
„Ich glaube, es sind Äpfel, die in der Abendsonne leuchten“, sagte Sina.
„Das ist doch unmöglich“, meinte Arthur. „So hell können nur rote Glühbirnen strahlen. Zudem sind doch alle Äpfel im Dezember schon gepflückt worden.“
Kurz entschlossen lief Sina über die abfallende Wiese zu dem Baum und kehrte mit einem roten Apfel in der Hand zurück wie Eva im Paradies zu Adam.
Noch eine Weile warteten sie Hand in Hand, bis die Sonne hinter der Kuppe verschwand und die „Lichter“ am Baum löschte.
Für Arthur ist der Hügel wie ein heiliger Berg, wie der Kailash, den Sina gerne einmal umrundet hätte. Dass er seinen heiligen Berg mit ihr zusammen „umrundete“ und mit ihr das Untergehen der Sonne im Osten an dem leuchtenden Apfelbaum beobachten konnte, war für ihn ein ganz besonderes Erlebnis. Auch sonst sind die Schönheiten in der Natur, sei es nur in einer Blume, einem Insekt oder an einem von mit Schnee bedeckten Gipfeln umrahmten Bergsee, die sie gemeinsam erleben, immer wieder glückliche Momente.
Sina wohnt in einem Tal hinter dem Hügel. Wenn Arthur in seine Richtung schaut, geht sein Blick immer auch weiter über den Hügel hinweg zu seiner Geliebten.
Jeden Morgen, wenn er den Vorhang zurückgezogen und sich an seinen Computer gesetzt hat, schaut er zu dem Hügel und schickt ihr einen Morgengruß. So erfährt sie, dass „die Zeit zum Gehen“, wie er in seinem Gedicht geschrieben hat, noch nicht gekommen ist, dass er lebt und an sie denkt. Ein Buch mit Texten für jeden Tag regt sie zum Weiterdenken an. Arthur versucht, seine Gedanken in schöne Sätze zu formen. Wenn ihre Antwort eintrifft, denkt er oft, dass sie die Schriftstellerin, die Denkerin sei, nicht er. Wenn er glaubt, ein Thema zu Ende gedacht zu haben, so weiß sie immer noch etwas draufzusetzen, das ihn erstaunt.
Die junge Sina hat sich seinerzeit, vor mehr als einem halben Jahrhundert, nicht in ihn, den um einige Jahre älteren Mann verliebt, weil er Gedichte und schon einige kleine Bücher geschrieben hatte. Sie wusste damals noch nichts davon. Sie hat ihn um seiner selbst geliebt. Der Umstand, dass Arthur bereits verheiratet war, hatte dazu geführt, dass sie sich mehrmals getrennt und wieder gefunden hatten, schließlich aber ganz auseinandergingen, ohne jedoch die Liebe in ihrem Herzen erlöschen zu lassen. Erst vor vier Jahren haben sie sich nach langer, langer Zeit wieder getroffen. Und die Liebe, die in beiden so lange überdauert hat, dürfen sie nun endlich miteinander leben.
Hätte Arthur schon vor bald sechzig Jahren so kritisch über viele seiner Gedichte und seiner Bücher gedacht wie heute, hätte er wohl einige nicht geschrieben oder zumindest seinen Mitmenschen vorenthalten und in einer Schublade oder einer großen Truhe verborgen, so wie Sina es machte mit seinen Briefen