„Freu dich nicht zu früh“, meinte Peter Meile, „die Deutschen sind stark. Die haben viele Waffen und lassen sich nicht so leicht unterkriegen.“
„Meinst du, der Krieg dauere länger als bis Weihnachten?“, fragte Anna Bögli ängstlich.
„Ich weiß nicht, wie lange der Krieg dauert“, beschwichtigte sie Arthur. „Aber eines ist sicher, die Deutschen werden nicht gewinnen.“
Woher nahm Arthur diese Sicherheit? Sein Vater war ein politisch interessierter Mensch. Er hatte sich schon früh einige Schriften über den aufkommenden Nationalsozialismus gekauft und hörte am Radio alle Nachrichtensendungen, die man damals hören konnte. Das waren eigentlich nur der schweizerische und der deutsche. Er wusste von den Konzentrationslagern, die es damals schon gab und in die Sozialisten, Kommunisten, Zigeuner und Homosexuelle gesteckt wurden.
Arthur hörte diese Nachrichten mit, auch die Reden, die Hitler hielt. Für ihn war sicher, dass dieser Unmensch nicht siegen durfte. Ihm und seinen Kumpanen, auch seinem italienischen Freund Mussolini, die in den Zeitungen abgebildet waren – vom Fernsehzeitalter war man noch lange entfernt –, sah man doch schon von weitem an, was für miese Typen das waren. Was immer geschähe, am Ende würden die Alliierten siegen. Daran glaubte Arthur auch noch, als die deutschen Truppen halb Europa und den Norden Afrikas besetzt hatten. Und die Geschichte gab ihm schließlich Recht.
Arthur schaut zu dem Hügel. Im Italienischen, denkt er, ist der Hügel weiblich, la collina. Das tönt schön, rund, mütterlich. Das würde passen zu seinem Hügel, der wie ein weiblicher Bauch vor ihm liegt. Seine Mutter hätte gelacht, wenn sie gewusst hätte, dass Arthur sie mit dem Hügel in Verbindung brachte, und gesagt:
„Du dummer Bub, wie kommst du auch auf so komische Gedanken?“
Jetzt gehen seine Gedanken zurück zu dem Haus seiner Jugend. Er strengt sich an, es so zu sehen, wie es damals war mit dem Gartenhäuschen und dem Rosengärtchen, den Spalieren, aber auch mit den Fenstern in den kahlen Mauern. In der Nacht darauf träumt er. Er ist in dem Haus, in seinem ehemaligen Zimmer. In der Stube daneben sind Vater und Mutter. Die Schwester ist nicht da. Wie er zum Fenster hinausschaut, sieht er zwei düstere Gestalten auf der Straße vorüberschreiten. Todesangst ergreift ihn, schnürt ihm die Brust zusammen. Es sind deutsche Sol-daten, vielleicht auch SS-Männer. Ihm wird bewusst, dass die Schweiz von den deutschen Heeren besetzt worden ist. Die beiden Männer haben ihn gesehen. Sie kehren um und treten auf das Haus zu, er muss fliehen. Er warnt seine Eltern und klettert, er der sein Leben lang unter Höhenangst leidet, aus einem Seitenfenster und gleitet an der kahlen Wand – hier gibt es kein Spalier – hinab. Er weiß, auch seine Eltern haben sich irgendwie in Sicherheit gebracht. Dann erwacht er – nass vor Schweiß.
Arthur ist kein Psychologe. Ein solcher würde wahrscheinlich viel aus diesem Traum herausdeuten. Er denkt einfach, dass er bei seinen Gedanken am Vorabend den Krieg, die Angst, die damals vor einem Einmarsch deutscher Truppen stets gegenwärtig in ihm war, verdrängt hatte und in diesem Traum wieder aus seinem Unterbewusstsein auftauchte.
Der einzige Wunsch, den Arthur für Weihnachten in diesem ersten Kriegsjahr hatte, war ein Blatt Papier, nämlich das Anmeldeformular für das Gymnasium. Es war sein sehnlichster Wunsch, obwohl er wusste, dass es für seinen Vater nicht leicht sein würde, da in der Mittelschule nicht mehr wie in der Grundschule alle Bücher und Hefte und was man sonst noch an Materialien brauchte, kostenlos abgegeben wurden.
Arthur wusste, dass das Einkommen seines Vaters gerade reichte, um die Familie zu ernähren und Arthur und seine Schwester in den Sommerferien zu Verwandten in einem hundert Kilometer entfernten Dorf am Rande des Juras zu schicken. Manchmal musste die Mutter sogar auf die Kantonalbank gehen, wo sie ein Sparbüchlein deponiert hatte, auf dem zwei- oder dreitausend Franken lagen, die sie von ihrer Mutter vor langer Zeit als „Notpfennig“ bekommen hatte. Dann hob sie 20 oder 50 Franken ab, um die neuen Hosen für Arthur oder einen Mantel für seine Schwester zahlen zu können. Das meiste an Kleidern schneiderte sie jedoch selbst.
Auch für das Abonnement einer Wochenzeitschrift mit einer angeschlossenen Unfallversicherung und 100 Franken Sterbegeld reichte es noch. Arthurs Mutter las gerne. Doch die Lektüre bestand meistens nur in dem in Fortsetzungen erscheinenden Roman und den verschiedenen Artikeln in der Zeitschrift. Bücher holte die Mutter ab und zu in einem Bücherverleih. Doch auch das kostete jedes Mal ein paar Rappen. Arthur erinnert sich, dass nur drei Bücher immer auf dem Buffet lagen, von denen eines der Roman „Die Heilige und ihr Narr“ von Agnes Günthers war, das zweite hieß „Stine Menschenkind“ von Martin Andersen Nexö, und das dritte war ein Roman von Rösy von Känel. Die ersten zwei Bücher waren Geschenke, das dritte hatte sie gekauft, weil die Familie einen der dargestellten Romanhelden zufälligerweise selber kannte. Der Vater las, abgesehen von den paar wenigen politischen Schriften, ohnehin keine Bücher. Das wollte er sich auf die Zeit, wenn er pensioniert wäre, aufsparen.
Unter solchen pekuniären Voraussetzungen war es nicht selbstverständlich, dass Arthur das Gymnasium besuchen durfte, obwohl er der beste Schüler der sechsten Klasse der Grundschule war und Lehrer Fink seinen Eltern geraten hatte, ihren vielversprechenden Sohn in die Kantonsschule zu schicken, um ihm vielleicht einmal eine akademische Laufbahn zu ermöglichen, was auf Grund seiner Intelligenz durchaus möglich schien.
Herr Fink war erstaunt gewesen, dass sich neben Arthur, dessen Übertritt ins Gymnasium er für selbstverständlich hielt, ein weiterer Schüler, Urs Baldegger, für das Gymnasium anmelden wollte. Urs war nie als besonders intelligenter Schüler aufgefallen. Arthur erinnerte sich an den ersten Schultag. Damals war Urs wie Arthur auch mit der Mutter zum eine halbe Stunde entfernten Schulhaus geschritten. Unterwegs hatten sie sich getroffen. Er und Urs waren vorausgegangen, während die beiden Mütter, ihnen in einigem Abstand folgend, miteinander in ein Gespräch, wahrscheinlich über die beiden Knaben und deren nächste Zukunft, vertieft waren.
Urs wollte Arthur beeindrucken mit dem, was er schon alles wusste.
„Ich weiß, welches der höchste Berg der Schweiz ist“, sagte er mit kaum verborgenem Stolz in seiner Stimme. „Es ist das Matterhorn.“
„Nein, das stimmt nicht“, erwiderte Arthur. „Es ist die Dufourspitze.“
„Du lügst, ich weiß es ganz sicher“, behauptete Urs. „Mein Vater hat es mir gesagt.“
„Dann weiß es eben dein Vater auch nicht“, erwiderte Arthur.
„Doch, mein Vater weiß alles“, protestierte Urs.
Arthur ließ ihn in seinem Glauben. Er wusste es ja besser. Er hätte auch mit dem auftrumpfen können, was er wusste oder konnte: Lesen und Rechnen. Er tat es nicht und lachte innerlich nur, als Urs sagte, er könne schon bis zwanzig zählen.
Am Weihnachtsabend lagen unter dem Weihnachtsbaum einige hübsch in farbiges Papier eingepackte kleine Geschenke. Arthur sah sofort mit Schrecken an ihrer Form, dass kein Anmeldungsformular für das Gymnasium dabei sein konnte.
Natürlich freute er sich, nachdem die Mutter die Weihnachtsgeschichte aus der Bibel vorgelesen hatte, vor allem über das Buch, aber auch über die neue Haarbürste, die warmen gestrickten Socken für den Winter und die Tafel Schokolade. Als all dies ausgepackt war, schaute er doch ein wenig enttäuscht drein. Die Mutter warf einen kurzen Blick, der nichts verriet, auf Arthurs Gesicht, dann verließ sie das Zimmer und kehrte kurz darauf mit einem riesigen Paket zurück. Wollten ihn die Eltern mit einem großen Geschenk darüber trösten, dass er nicht das Gymnasium besuchen durfte?
Als ihm die Mutter das Paket überreichte, ahnte er, was darin war, und sein Gesicht hellte sich auf, denn die Schachtel, die er auspackte, war beinahe federleicht. Hastig holte er das zusammengeknüllte Zeitungspapier hervor und warf es zur Seite, bis auf dem Grund ein großes gelbes Kuvert erschien. Er nahm es heraus und sah, dass es das Anmeldeformular enthielt.
Vater und Mutter freuten sich über sein Glück, das nun aus seinen Augen strahlte. Dankbar umarmte er seine Mutter. Ganz besonders aber drückte er seinem Vater die Hand. Und er fühlte sich fast ein wenig schuldig, als er daran