Martin Renold
Der Hügel
Vierzehn Geschichten
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Inhaltsverzeichnis
Ein Tag aus dem Leben eines Heimkehrers
Das Ungeheuer von Bomarzo und die Sphinx von San Michele
Der Hügel
Arthur Eigenmann sitzt am Fenster seiner kleinen Wohnung am Rande der Stadt und schaut hinaus auf jenen Hügel, den er schon vor achtzig Jahren vom Schlafzimmer in der Wohnung seiner Eltern aus gesehen hatte. Sein Blickfeld war damals etwas weiter gewesen. Ein höherer Hügel südlich bot sich ebenfalls seinen Augen dar; dazwischen vorgelagert – die Senke der beiden Hügel in ihrem Schnittpunkt überdeckend –, wölbte sich die Rundung einer kleinen Erhöhung, auf deren Zenit sich eine Linde über den Horizont in den Himmel erhob. Dieses Bild hatte sich ihm unauslöschlich eingeprägt. Er trug es sein ganzes Leben lang in sich. Obwohl er in seiner Jugend keinen der beiden breit ausladenden Hügel je bestiegen hatte, bedeuteten sie für ihn Heimat, Geborgenheit. Sie grenzten ihn damals als kleinen Jungen ab von der dahinterliegenden unbekannten Welt. Erst jetzt drängt sich dem alten Mann das Bild auf: Die Hügel links und rechts sind wie Mutter und Vater, dazwischen die Linde, er als das von den beiden behütete Kind.
Dieses Symbol galt für damals, nicht für jetzt. Die Linde sieht er nicht von seiner Klause aus, den höheren Hügel ohnehin nur im Herbst und Winter, wenn die Blätter von den Bäumen beim nahen Schulhaus gefallen sind. Dann kann er durch die kahlen Äste hindurch einen Teil des langen Rückens sehen. Als er nach 54 Jahren in den Ort seiner Jugend zurückgekehrt war und eine Wohnung suchte, hatte er sich sofort daheimgefühlt, als er aus dem Fenster geschaut hatte und „seinen“ Hügel sah, näher als früher, doch unverändert, so wie er ihn in Erinnerung hatte. Diese Wohnung wollte er, keine andere. Schon am nächsten Tag rief ihn die Verwaltung an, er bekomme sie, er könne sie sofort beziehen.
Drei Wochen später zog er ein. Er stellte seinen Schreibtisch so vors Fenster, dass er von ihm aus den Hügel sehen kann Es vergeht kein Tag, an dem er zu Hause ist, ohne dass er auf diesen Hügel schaut, am Morgen, wenn die Sonne lange Schatten von den Wäldern auf die Wiesen wirft, am Abend, wenn sich der Hügel rötlich färbt, im Herbst, wenn der Nebel vom Tal heraufdrängt und zu den paar Bauernhöfen hinaufsteigt und allmählich den ganzen Hügel verschwinden lässt.
Er kann eigentlich gar nicht genau sagen, warum ihn dieser Hügel so bezaubert. Ist es die Erinnerung an seine Jugend oder einfach die schöne Form seines Rückens, die kleinen Wälder am Horizont und am Abhang, die dunkel aus der hellgrünen Wiese herauswachsen, das Spiel der Schatten am Morgen und am Abend? Immer wieder verändert sich der Hügel, mal leuchtet er in der Sonne, mal verliert er seine beruhigenden grünen Farben und wird grau, wenn schwarze Wolken ihn verdüstern.
Manchmal, wenn er ihn lange anschaut, ohne dass er dabei etwas denkt, ist es wie ein Meditieren. Ein andermal wieder denkt er nach über seine Vergangenheit, sein in mancher Hinsicht bewegtes Leben.
Kürzlich sind ihm bei einer solchen Betrachtung einige Gedanken, Verse eingefallen, die er zu einem Gedicht geformt hat:
Mein Hügel
Ein breiter, sanfter Hügelrücken,
bedeckt von Wald und grünen Matten,
und wenn die Sonn am frühen Morgen
dem Horizont entlang die Wipfel streift,
dann wirft sie lange, schräge Schatten,
und alle nächtlich, dunklen Sorgen
und alle bösen Traumgespenster
verwandeln sich in ein Entzücken,
das meine Seele still ergreift,
wenn ich durch meiner Klause Fenster
auf dich im Morgenglanze schau. –
Doch manchmal, statt des Himmels Blau,
steigt Nebel aus dem tiefen Tal
und legt sich um dich wie ein Schal
aus feinstem undurchsichtigem Gewebe.
Und abends, wenn den Blick ich hebe,
der Sonne Glanz auf deinen Rücken fällt,
das Licht sich spiegelt in den Scheiben
von einem Wohnhaus oder Stall
– und tiefe Ruhe überall –
und auf dich legt das Abendrot,
dann wünscht ich, dass auf dieser Welt
ich könnt noch eine Weile bleiben,
– zum Gehen ist ja keine Not.
Jetzt sitzt er am Schreibtisch, schaut aus dem Fenster zum Hügel, und das Gedicht kommt ihm wieder in den Sinn. „Zum Gehen ist ja keine Not“.
Nein, er möchte noch eine Weile leben, noch ein paar glückliche Jahre. Doch wozu? Ja, er hat eine Freundin, die er seit mehr als einem halben Jahrhundert liebt. Vor vier Jahren hat er sie wiedergefunden. Seit einer Ewigkeit hat er sich nicht mehr so glücklich gefühlt. Für sie möchte er noch ein paar geschenkte Jahre auf dieser Erde bleiben können, mit ihr noch manches Mal auf den Hügel steigen, mit ihr die Schönheit der Natur bewundern, auf das weite Land und den See hinausschauen.
Aber was hat er in dem Jahr, das bald zu Ende geht, getan, geschaffen, das wert wäre, sein Leben zu verlängern, außer ein paar Gedichten? Nichts. Er ist Schriftsteller – so steht es wenigstens im Internet. Dort kann man nachlesen, was er alles geschrieben hat: Gedichte, Erzählungen, Romane. Er hat nie von seinen Büchern leben können, er hat einen Beruf und zum Glück immer eine feste Stelle gehabt – als Angestellter in einem Verlag.