Sonnenwarm und Regensanft - Band 1. Agnes M. Holdborg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Agnes M. Holdborg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847644712
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zögerte, blickte allen nacheinander in die Augen und setzte liebevoll hinzu: »Sie wird wieder gesund, ganz bestimmt. Aber sie macht sich so viel Sorgen um euch. Deswegen täte es ihr ganz sicher gut, wenn sie wüsste, dass ihr ein bisschen Spaß und Ablenkung habt.«

      »Spaß? Spaß mit Jens? Ha, ha!«

      »Ach, Papa, ich weiß nicht«, meinte Jens matt.

      Offensichtlich war sein Kampfgeist bereits verebbt, registrierte Anna zornig, wusste sie doch, dass ihr Bruder normalerweise nicht so schnell aufgab. Deshalb wurde ihr jetzt bitter bewusst, dass ihr Vater gewonnen hatte und sie sich ihrem Schicksal ergeben musste.

      Die Aussicht, eine Woche allein mit Jens verbringen zu müssen – morgens, mittags, abends! – versetzte sie in Panik. Eine komplette Jens-Woche wäre ihrer Meinung nach die Hölle!

      Ohne ein weiteres Wort stand sie mit Wuttränen in den Augen auf und trottete gesenkten Hauptes hinaus in Richtung Badezimmer. Sie musste etwas tun. Frustriert und tief versunken in üblen, finsteren Mordgedanken stopfte sie Wäsche in die Waschmaschine und stellte diese ohne Waschmittel an. Als die Maschine Wasser zog, tauchte sie erschrocken aus ihrem Gefühlssumpf auf.

      Die Luft wurde ihr knapp. Sie gewann zusehends den Eindruck, verrückt zu werden, wenn sie nicht noch irgendetwas anderes täte. Noch dazu übermannte sie die Sehnsucht.

      … An jedem einzelnen Tag der letzten Woche hatte Anna sich mit Viktor auf ihrer Lichtung getroffen. Manchmal nur ganz kurz, nur für eine halbe Stunde. Es tat so gut, ihn zu sehen, mit ihm zu reden oder ihm auch nur zuzuhören. Sein »halbes Problem« war bislang nicht mehr zur Sprache gebracht worden. Sie wollte Viktor nicht bedrängen, obwohl sich natürlich zahllose Fragen in ihrem Kopf auftürmten.

      Die Krankheit der Mutter bedrückte, ja, ängstigte sie sehr. Auch ihr gestriger Anruf beim Arzt hatte nichts gebracht. Man hatte ihr einfach keine Auskunft über Theresas Zustand geben wollen.

      Trotz alledem war diese letzte Woche die glücklichste gewesen, die sie jemals erlebt hatte. So unwirklich und doch real, so aufregend und schön zugleich. …

      Sie musste zu ihm! Jetzt sofort! Hastig nahm sie ihre leichte Strickjacke vom Garderobenhaken, lief schnell zur Tür und rief: »Bin noch mal eben weg! Komm gleich wieder! Tschö!«

      Mit klopfendem Herzen rannte sie über die Straße zum nahegelegenen Wald. Heute interessierte sie nicht, ob man sie rennen sah oder sich über ihr Verhalten das Maul zerriss. Sollten sie doch! Es war ihr egal, wenn man sie für einen Psycho hielt. Sie hatte nur einen Gedanken, ein Ziel. Sie sprang über den Graben und lief eilig den schmalen Weg entlang zur Lichtung.

      »Viktor!«, rief sie atemlos. »Viktor, bist du da? Bitte, komm her, falls du mich hören kannst!«

      Es dauerte nicht lange, da registrierte Anna erleichtert, wie es, trotz des trüben Himmels, hell und warm um sie herum und auch in ihr wurde.

      »Anna, was ist denn los? Meine Güte, du bist ja leichenblass.«

      Scheinbar aus einem Impuls heraus nahm er sie zärtlich in den Arm. Das hatte er noch nie getan, stellte Anna glücklich fest, bevor dann allerdings eine gewaltige, geradezu überschäumend wohlige Welle ihr Herz so schnell und heftig überflutete, dass sie schlichtweg umgefallen wäre, hätte er sie nicht festgehalten. Dann wurde ihr schwarz vor Augen.

      Als sie wieder zu sich kam, lag sie im weichen Moos, ihr Kopf in Viktors Händen. Seine sorgenvollen Augen hielten ihren Blick gefangen.

      »Hey, da bist du ja wieder. Du hast mir einen riesigen Schrecken eingejagt.« Er zog sie etwas hoch. »Komm her, Liebes. Halt, nicht so hastig.« Viktor hielt sie auf, als sie sich übereilt aufzurichten versuchte. »Vorsichtig. Ja, so.«

      Er setzte sich und nahm sie, nun mit Bedacht, wieder in den Arm. Wie selbstverständlich lehnte Anna den Kopf an seine Brust, sog seinen Duft nach Gras und Wald tief ein. Sie würde ihn niemals wieder vergessen.

      »Hhm! Hat er mich eben Liebes genannt?«

      »So, jetzt leg mal los. Was ist passiert, Anna?«

      »Weißt du, eigentlich ist das Schlimmste daran, dass es Mama so schlecht geht, dass sie ins Krankenhaus muss«, begann sie.

      »Oh, das tut mir sehr leid. Das ist …«

      »Ja, aber … Ach, Viktor, ich bin ein solches Scheusal«, stieß sie verzweifelt aus. »Das ist doch wirklich schlimm, oder? Aber ich, ich bin so ein Egoist und denke nur an mich. Es ist nur so, ich bin nun mal total sauer, weißt du? Ich soll am Freitag für eine Woche an die Nordsee fahren. Mit Jens! Stell dir das mal vor! Nur Jens und ich, für eine ganze Woche! Das ist die Hölle, die absolute Ober-Hölle!«

      So viel hatte sie gegenüber Viktor bislang selten an einem Stück gesprochen. Selbst am Tag von Viktors »Elfengeständnis« war sie nicht so aufgewühlt gewesen wie jetzt. Anna war sich deswegen sicher, dass Viktor bemerken müsste, wie erschüttert sie war. Doch er schien das gar nicht zu registrieren und schwieg.

      »Hast du mir zugehört?«

      »Hhm? Was?«

      Er wirkte auf Anna nicht nur abwesend, er war außerdem ziemlich blass geworden.

      »Viktor, was ist los?«

      »Nichts, gar nichts.« Er räusperte sich kurz. »Ich finde es nur schade, dass ich dich dann eine ganze Woche nicht zu sehen bekomme. Das ist alles.«

      »Das ist mehr als schade. Ich weiß gar nicht, wie ich das aushalten soll. Oh Mann, und dann auch noch mit meinem blöden Bruder.«

      Viktor räusperte sich noch einmal. Auch wenn er sich in ihren Augen noch so viel Mühe gab, erschien er Anna weiterhin blass und irgendwie abwesend, als er sprach: »Also, dein Bruder scheint ja nicht gerade ein Lämmchen zu sein, aber er ist immerhin dein Bruder. Vielleicht wird es ja doch ganz nett. Meinst du nicht, dass …«

      »Ganz nett?«, fiel sie ihm ins Wort. »Sag mal, geht’s noch? Hast du mir nicht zugehört? Jens und ich, für längere Zeit allein in einem Raum! Oh mein Gott, Jens und ich, für Stunden allein in einem Auto! Das überlebe ich nicht!«

      »Ach was, Anna, das wird schon«, erwiderte er leichthin.

      »Sag mal«, fragte sie ihn düster, »willst du mich loswerden?«

      Nun verlor Viktor auch den Rest an Farbe. Außerdem erschien seine Stirnfalte, aber keine kleine! Das war jetzt eine tiefe, senkrechte Furche. Die dunklen geraden Brauen zu einer vereinten Linie zusammengezogen funkelte er sie zornig an.

      »Loswerden?«, brüllte er. »Du sollst doch wegfahren! Ich will das ganz sicher nicht, Anna! Aber du sollst nicht unglücklich sein, hörst du? Ich will das nicht! Also fahre gefälligst mit deinem Bruder an die blöde Nordsee und mach dir dort ein paar schöne Tage! Ich warte hier auf dich, auch wenn ich im Moment ganz schön wütend auf dich bin!« Viktor schüttelte den Kopf. »Loswerden, te! So was aber auch!«

      Sein Wutausbruch hatte Anna merkwürdigerweise beeindruckt. Sie wunderte sich darüber, dass ihr dieser aufbrausende Wesenszug an ihm gefiel.

      »Ich dachte halt, du könntest vielleicht auch dorthin kommen. Ich weiß nicht, hast du ein Auto oder kannst du dich beamen, oder so?« Während ihrer kleinlauten Frage sah sie ihn hoffungsvoll an.

      Mit einem Mal hellte sich Viktors Miene deutlich auf, als wäre all sein Zorn von ihm abgefallen. Sein ganzer Körper schüttelte sich, so brach das Lachen aus ihm heraus.

      Wieder mit deutlich mehr Farbe im Gesicht prustete er: »Beamen? So wie in euren komischen Sendungen im Fernsehen?« Ein wenig ernster fuhr er fort: »Nein, Anna. Beamen geht leider nicht.«

      Als sie ihn enttäuscht ansah, meinte er traurig: »Ich kann hier zwar weg, aber nicht an die Nordsee. Unmöglich. Das geht einfach nicht. Ist kompliziert und sehr persönlich. Irgendwann erkläre ich es dir, ja?«

      Sie fragte sich, warum er es ihr nicht jetzt gleich erklären wollte. Das Ganze war einfach zu viel für sie. Anna