Sonnenwarm und Regensanft - Band 1. Agnes M. Holdborg. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Agnes M. Holdborg
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783847644712
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mehr von dir wissen. Ich bin ein guter Zuhörer.«

      Anna konnte es selbst kaum fassen, als sie anfing, völlig entgegen ihrer ursprünglichen Absicht, von sich und ihrer Familie zu berichten: Von dem Bruder, der sie ständig ärgerte und gängelte, sobald er sie sah. Von der Schwester, die zwar sehr lieb war, sie aber nicht richtig verstand. Vom Vater, seiner Fürsorge und seiner Liebe zu Holz. Und von der Mutter, mit ihrem feinen empathischen Gespür, die so gerne Bücher las, aber seit einiger Zeit zu müde dazu war, weil sie von Monat zu Monat kränker wurde. Von ihrem bevorstehenden Wechsel in die elfte Klasse, der sogenannten Oberstufe. Nur von ihren Wünschen und Sehnsüchten und auch Sorgen sprach sie nicht.

      »Die kennt er ja schon. Megapeinlich!«

      Viktor wirkte nachdenklich und konzentriert. Er schien interessiert zuzuhören, wobei seine Brauen sich etwas zusammenzogen und damit eine kleine senkrechte Stirnfalte formten. Dieses schöne, gedankenverlorene Gesicht zog Anna mit einem Mal derart an, dass sie ihm, beinahe wie aus einem Zwang heraus, mit den Fingern zart eine seiner Locken aus der Stirn strich. Dabei sah sie ihm tief in die Augen – und die verdunkelten sich augenblicklich. Hastig zog er sich ein Stückchen zurück.

      Oh Gott, war sie denn komplett verrückt geworden? »T…t…ut mir l…leid! I…ich w…w…weiß nicht«, stotterte sie und holte einmal tief Luft. »Ich weiß nicht, wieso ich das getan habe. Entschuldige bitte. Ich fänd das auch nicht prickelnd, wenn du mich einfach anfassen würdest.«

      Das war eine dicke, fette Lüge, jedoch hatte Anna das unbestimmte Gefühl, dass er auf keinen Fall berührt werden wollte. Zu ihrer Überraschung, aber auch zu ihrer großen Freude fing Viktor sich sofort wieder. Er lächelte und stellte, ohne einen Kommentar über die Berührung abzugeben, die nächste Frage: »Wieso erzählst du mir nur von deiner Familie und fast nichts von dir? Was ist? Ich wollte doch mehr von dir hören.«

      »Von mir? Ganz sicher nicht!«

      Aus irgendeinem Grund fiel es ihr immer schon unsagbar schwer, ihr Innerstes nach außen zu kehren. Deshalb würde sie ganz bestimmt nicht bei einem fremden Jungen damit anfangen, zumal dieser eigentlich schon viel mehr von ihr wusste, als er sollte. »Von mir gibt es nicht viel zu erzählen. Außerdem bin ich mal dran, dir Fragen zu stellen, meinst du nicht auch?«

      »Nun ja, von mir gibt es eben auch nicht viel zu berichten.« Abrupt erhob er sich. »Es ist spät geworden, Anna. Ich glaube, jetzt musst du wirklich nach Hause gehen, ehe sie dich suchen.«

      Etwas enttäuscht schaute Anna gedankenverloren auf die Uhr und erschrak, weil es bereits nach acht war.

      »Oh, tatsächlich, ich muss dann wohl mal los. Sehe ich dich wieder? Kommst du öfter her?« Augenblicklich ärgerte sie sich über ihre dumme Frage, war er doch erwiesenermaßen schon öfter hier gewesen. Er hatte es ja selbst zugegeben.

      »Boa, Anna, du bist sowas von blöd!«

      Viktor lächelte wieder. Offenbar hielt er ihre Frage nicht für dumm und antwortete freundlich, ohne spöttischen Unterton: »Oh ja, ganz bestimmt. Mach es gut, Anna.«

      »Ja, du auch, Viktor.«

      Sie hatte ganz wackelige Knie, als sie aufstand, und das kam sicher nicht vom langen Sitzen. Als sie stolperte, hielt er sie blitzschnell fest.

      So peinlich sie ihre Tollpatschigkeit auch fand, seine Berührung traf sie mitten ins Herz und überflutete all ihre schüchternen Gefühle. Es war, als öffnete es sich und ließe eine strahlend warme Mittagssonne hinein, und das trotz der Abenddämmerung.

      Eilig löste er sich von ihr. Sie meinte, einen erschrockenen Blick zu erhaschen. Doch als sie blinzelte, da war dieser Ausdruck verschwunden und ein erneutes Lächeln überzog sein Gesicht.

      »Geh, bevor du Ärger kriegst, Anna.«

      »Ja, Tschö.«

      »Tschö? Was meinst du damit?«

      Sie schaute in verwundert an. »Wie, was meinst du damit? Kennst du das etwa nicht?« Als er den Kopf schüttelte, erklärte sie: »Das heißt hier in dieser Gegend nichts anderes als Tschüss oder Auf Wiedersehen. Du kommst wohl nicht von hier, oder?«

      »Ach so, nein. Na, dann mal Tschö, Anna.«

      »Ja, Tschö«, verabschiedete sie sich aufs Neue und wandte sich zum Gehen. Als sie sich noch einmal nach ihm umdrehte, war er bereits fort.

      Viktor und Viktoria

      Viktor schaute Anna aus einiger Entfernung grübelnd hinterher und fragte sich, ob er ihr hätte erzählen sollen, was er gedacht und empfunden hatte, als er sie zum allerersten Mal in diesem Wald gesehen hatte. Wie bezaubernd und anziehend er sie fand mit ihren wunderschönen blauen Augen, die ihn an ganz besonders seltene hellstrahlende Saphire erinnerten. Wie er seitdem davon träumte, mit seinen Händen über ihr goldblondes seidiges Haar zu streichen.

      Der Gedanke daran, dass er endlich so dicht neben ihr gesessen hatte und wie es ihn dabei in den Fingern gejuckt hatte, ihre zarte Porzellanhaut, den hübschen Mund und die süße kleine Nase zu berühren – und noch viel mehr – gerade dieser Gedanke riet ihm, ihr nichts zu sagen und sich vorerst zurückzuhalten.

      Auf keinen Fall dürfte er sie verschrecken, überlegte er. Anna war jemand, dem man mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen begegnen sollte. Das hatte er deutlich wahrgenommen. Also müsste er sie erst einmal näher kennenlernen, mehr von ihr erfahren. Erst dann würde er entscheiden, wie viel er von sich preisgeben wollte.

      Vollkommen in seine Grübeleien vertieft, sah er immer noch in die Richtung, in die sie verschwunden war, bis auf einmal mit hellem Licht seine Zwillingsschwester neben ihm erschien.

      »Viktor, was hast du dir nur dabei gedacht? Das hättest du nicht tun sollen.« Sie sprach mit milder Stimme und wirkte keineswegs ärgerlich, sondern eher besorgt.

      Nach wie vor fixierte er den Punkt, an dem er Anna zuletzt gesehen hatte. Er konnte den Blick einfach nicht abwenden. »Ja, stimmt schon, eigentlich hätte ich sie nicht ansprechen dürfen. Aber sie war so traurig, Viktoria. Sie hat mein Herz bewegt.«

      »Das kann ich ja durchaus verstehen. Die Frage ist nur: Was willst du jetzt tun?«

      Schweren Herzens wandte er sich ab und blickte seiner Schwester in die Augen, die seinen so sehr glichen. Nachdenklich musterte er sie. Sie sah ihm überhaupt sehr ähnlich, besaß das gleiche schmale Gesicht mit den Grübchen. Nur war Viktoria weicher, anmutiger – halt eine Frau. Ihr Haar schimmerte in einem etwas dunkleren Braun als seines, ohne mahagonifarbene Strähnchen, und es reichte ihr bis zu den Hüften. Auch sie war groß und schlank.

      »Was ich tun will? Tja, wenn ich das nur wüsste. Eines aber weiß ich mit Bestimmtheit: Ich will Anna auf jeden Fall wiedersehen.«

      »Auch das kann ich verstehen. Aber du musst vorsichtig sein. Denk an Vater. Er darf nichts davon erfahren. Wir stehen nicht mehr unter seinem Schutz, das ist dir doch hoffentlich klar. Und er ist so verbittert, Viktor. Wir haben keine Ahnung, wie er reagieren würde. Also, pass gut auf.«

      Viktor schnaubte verächtlich. »Ehrlich gesagt, bin ich mir da gar nicht mehr so sicher, ob wir jemals unter seinem Schutz gestanden haben. Außerdem ist er schon seit langer Zeit am Meer und wir sind hier. Wie soll er denn da etwas von uns mitkriegen? Nein, er spürt uns nicht, Viktoria, hat er womöglich nie. Er wird also nichts erfahren.« Er räusperte sich. »Es sei denn, du …«, fügte er leise hinzu und wusste gleich, dass er das nicht hätte sagen, ja, nicht einmal denken sollen.

      Oh ja, sie wurde sauer. Viktorias dunkelblauen Augen blitzten ihn böse an, wobei sich jetzt bei ihr die gleiche kleine Stirnfalte zeigte wie bei ihm, wenn er nachdachte oder halt verärgert war. Zur selben Zeit ließ ein jäh aufkommender Windstoß die Blätter der Bäume geheimnisvoll rascheln und rauschen. Dann wurde es genauso überraschend wieder still.

      Viktoria dafür allerdings nicht. »Viktor, du enttäuscht mich. Glaubst du ernsthaft, ich könnte das? Ich könnte Vater kontaktieren und dich an ihn verraten? Was denkst