»Was ist das?«
Ich keuchte auf und drehte mich ruckartig um. Irena stand hinter mir. Sie strich sich eine dunkle Haarsträhne hinter das Ohr und blickte mich dann auffordernd an.
»Ein Brief mit einer Einladung nach Malufra«, sprach ich leise.
Nun weiteten sich ihre Augen. »Ein Brief mit einer Einladung nach Malufra?«, wiederholte sie ungläubig. Langsam schritt sie näher und nahm mir den Zettel aus der Hand.
So standen wir eine Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam. Irena musste den Brief inzwischen schon Dutzende Male gelesen haben, schwieg aber weiterhin.
»Bestimmt ein Scherz.« Ich zuckte mit den Schultern und nahm mein Brot wieder in die Hand.
»Leider nicht, das hier ist wirklich eine Einladung zur Königin.« Sie schüttelte den Kopf und setzte sich dann auf einen der Holzstühle rund um den Tisch. Sie deutete auf das Siegel. »Solch ein Siegel besitzen nur adelige Menschen und auch den Initialen nach zu urteilen, hat die Königin von Malufra den Brief unterzeichnet. Nur, warum sollte sie dir so etwas schicken?« In ihrem Blick lag eine Art Vorwurf.
»Ich weiß es …« Ich wollte gerade meinen Satz mit dem Wort nicht beenden, als mir das Märchen mit den Wünschen in den Sinn kam. »Ich habe es mir gewünscht.« Nun setzte auch ich mich auf einen der Stühle. Mein Herz pochte und ein unangenehmes Gefühl breitete sich in meiner Brustgegend aus.
»Malina …« Irena holte tief Luft und schluckte ihren Ärger hinunter. »Zu welchem Preis?«
Nun sagte ich nichts mehr, da ich wirklich nicht wusste, was ich dazu noch sagen könnte. Ich kannte den Preis nicht und vielleicht war das der Grund für dieses unangenehme Ziehen in der Nähe meines Herzens.
»Ich weiß, es sind nur Märchen, aber in jedem Märchen steckt ein Funke Wahrheit.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte nur, dass du mir eines versprichst.«
»Was?«, fragte ich zögerlich.
»Dass du nicht dorthin gehst. Du bleibst hier und folgst der Einladung nicht!« In ihrer Stimme lag ein warnender Unterton. Ich wusste, sie war nicht wütend, sie machte sich bloß Sorgen.
»Und was, wenn das eine perfekte Möglichkeit wäre, um der Königin von unseren Masken zu erzählen? Und vielleicht …« Ich holte erst tief Luft, bevor ich den Satz zu Ende sprach, denn ich wusste, Irena würde nicht begeistert darauf reagieren. »Vielleicht würde ich irgendwo dort draußen auch einen Hinweis auf meine Herkunft finden. Ich kenne meine Geschichte immer noch nicht und hier kann mir keiner helfen.«
»Malina«, seufzte sie und starrte aus dem Fenster hinaus. »Die Königin versteckt ihr Gesicht nicht umsonst hinter Masken. Sie ist verrückt und in ihrem Reich gelten ihre Regeln. Man kann dich nicht vor ihr schützen, ich kann dich nicht vor ihr schützen.«
»Und wenn du mitkommst?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort bereits kannte.
»Ich betrete den Wald nicht, meine Welt ist hier, und darum möchte ich, dass du mir versprichst, dass du hierbleibst.«
»Es wäre nur für eine kurze Zeit!« Ich spürte, wie dieses Ziehen, dieser Schmerz sich an die Oberfläche kämpfte und in Form von Tränen meine Wange hinunterrann.
»Malina!« Die Stimme von Irena wurde immer lauter. »Ich will nicht, dass du gehst.«
»Und warum?« Meine Stimme bebte. Es war nicht gut von mir, dass ich mich wie ein kleines Kind benahm. Irena war für mich da gewesen, sie hatte sich um mich gekümmert, und sie war es auch, die mir ein Zuhause gegeben hatte. Nur genau darum musste ich nach Malufra. Ich wollte ihr helfen und ich wollte endlich erfahren, wer die Malina von früher war.
»Weil du die Welt dort draußen nicht kennst.« Sie schüttelte traurig den Kopf. »Du verstehst nicht, zu was Menschen fähig sind«, fügte sie hinzu und ihr Blick glitt wieder hinüber zu dem Fenster. »Und genau darum möchte ich jetzt, dass du mir versprichst, dass du hierbleibst.«
Ich schwieg und wischte mir mit dem linken Handrücken die verbliebenen Tränen aus dem Gesicht.
»Malina …«
»Ich verspreche es«, sagte ich enttäuscht. Ich stand wieder auf und ließ den Brotlaib auf dem Küchentisch. Der Appetit war mir vergangen.
»Es ist zu deinem Besten«, fügte Irena besänftigend hinzu, nur war ich bereits aus der Tür hinaus verschwunden. Mir war es egal, dass ich nur eine einfache Jacke trug und darunter noch mein Schlafgewand. Ich brauchte einfach einen Moment für mich. Diese Einladung war höchst sonderbar, und gleichzeitig war sie eine gewaltige Chance. Wenn die Königin erst einmal sehen würde, was für Masken Irena herstellte, dann würde sie mit Sicherheit welche kaufen. Dann hätten wir wieder mehr Geld und womöglich würde dann dieser Ausdruck aus den Augen von Irena verschwinden. Sie brauchte das Geld. Damit könnte sie auch wieder den Armen helfen und so würden solche schrecklichen Dinge wie mit dem Fischer hoffentlich nie mehr passieren.
Als ich spätabends wiederkam, waren alle Lichter gelöscht. Irena war nirgends zu sehen, aber ich brauchte sie nicht zu suchen, ich wusste auch so, dass sie heute wieder einmal nach langer Zeit in ihrem Zimmer schlief. Wenn man Masken herstellte, dann brauchte man einen ruhigen Verstand. Denn Masken formten sich nach den Gedanken derer, die sie herstellten. Dies hatte Irena mir einmal erklärt. Darum stellte sie keine her, wenn sie traurig, wütend oder enttäuscht war.
Der Brief von heute Morgen lag immer noch auf dem Küchentisch. Ich setzte mich nieder und nahm ihn in die Hände. Wenn ich gehen würde, würde ich Irena verletzen. Wenn ich blieb, dann wäre sie glücklich. Aber was wollte ich?
4
Wo Entscheidungen Herzen brachen
Ich blickte noch einmal zurück zu dem Haus, das in all den Jahren mein Zuhause gewesen war. Irena schlief bestimmt noch, und wenn sie aufwachte und bemerkte, dass ich fehlte, dann würde sie zuerst wütend werden. Nach der Wut käme dann schon bald die Enttäuschung. Irgendwann würde sie dann den Zettel auf dem Küchentisch sehen, auf dem stand, dass ich gegangen war. Ich hatte es ihr versprochen und ich hatte mein Versprechen gebrochen.
Ich musste es tun. Ich drehte mich wieder in die Richtung des Waldes und lief los. Ich hatte gestern kein Auge zugetan und hatte stattdessen eine kleine Reisetasche mit den wichtigsten Dingen gepackt. Natürlich hatte ich ein schlechtes Gewissen, aber wenn ich hierbleiben würde, würde ich niemandem helfen.
Je näher ich den dunklen Bäumen kam, umso kräftiger blies der Wind. Er war wie eine Art Warnung.
Ich zog den Umhang enger um meine Schultern und die Kapuze etwas tiefer ins Gesicht. Der Eingang des Waldes wurde von zwei knorrigen Eichen gekennzeichnet. Sie hatten dicke Stämme, und unzählige Äste und Blätter bildeten ihre Baumkronen. Wie zwei Wächter standen sie da und schienen mich zu beobachten. Trotzdem lief ich zielstrebig weiter, immer weiter in die Dunkelheit des Waldes hinein. Es war zwar helllichter Tag und doch schien es, als ob das Licht nicht durch die Blätterdecke hindurchdringen würde.
Es war nicht nur die Beinahedunkelheit, die mir einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ, es war die Stille, die mir Unbehagen bereitete. Ich hörte nur meine eigenen Schritte auf dem Waldboden. Selbst das Rauschen des Windes war verschwunden. Ich verdrängte die Angst und lief immer weiter geradeaus. Solange ich nirgends abbog oder vom Weg abkam, konnte ich mich auch nicht verirren.
So lief ich, bis meine Beine schmerzten und sich Blasen an meinen Füßen bildeten. Inzwischen konnte ich nicht einmal mehr sagen, wie viel Zeit vergangen war. Meine Augen hatten sich an die schwachen Lichtverhältnisse gewöhnt. Wirklich viel zu sehen gab es nicht. Wald, so weit das Auge reichte. Ich seufzte, lehnte mich an den Stamm eines Baumes. Langsam