In meinem Zimmer befanden sich ein schmales Bett, ein Tisch mit zwei Stühlen, eine Kommode und ein kleines Regal. Platz für mehr hätte ich gehabt, nur mehr brauchte ich nicht.
Auf meinem Bett lagen einige Kissen und Decken. Einen kleinen Teil nahm ich mit, während ich die Kerze noch in der anderen Hand hielt, und lief wieder hinunter zu Irena. Ihr Schnarchen unterbrach sie kein einziges Mal. Ihr Schlaf war tief und fest und womöglich hätte sie nicht einmal bemerkt, wenn sich eine Horde Ziegen in unserem Haus befunden hätte. Ich deckte sie zu und bettete ihren Kopf auf eines der Kissen. Das dichte Haar fiel ihr dabei vor die Augen. Ich lächelte, flüsterte leise »Gute Nacht« und wagte mich dann noch einmal hinaus in die Dunkelheit. Ich setzte mich direkt vor den Eingang des Hauses, stellte die flackernde Kerze neben mich und zog die Knie an meine Brust. Die Stille war wunderbar und manchmal genoss ich es einfach, wenn ich meine Augen schließen konnte und der Wind durch mein Haar fuhr.
Nur war heute etwas anders. Ich fühlte mich beobachtet. Fröstelnd rieb ich mir die Arme und starrte dorthin, wo die dichten Bäume sich umarmten. War da ein Schatten, oder spielte mir bloß die Dunkelheit einen Streich? Dieses eigenartige Gefühl verschwand wieder so schnell, wie es aufgetaucht war. Da war nichts, zumindest hoffte ich das.
Ich schüttelte meinen Kopf und stand auf. Erstaunlicherweise war ich immer noch hellwach. Ich ging kurz nach drinnen und vergewisserte mich noch einmal, dass Irena wirklich tief und fest schlief, ehe ich eines der Küchenmesser in meinem Stiefel versteckte, die Kerze ausblies und hinaus in die Nacht schlich. Ich schlenderte einen kleinen Weg entlang, über einen Hügel und vorbei an Sträuchern und Wildblumen. Immer wieder wanderte mein Blick dabei zu den dichten Baumkronen des Waldes, der sich nun immer mehr entfernte, je weiter ich hinab in das Dorf lief.
Über all die Jahre hatte ich mich immer wieder gefragt, woher ich kam. Warum ich in jener Nacht nach einer Maske gefragt hatte, war für mich weiterhin ein Rätsel. Es schien beinahe so, als ob mir all die Erinnerungen vor jenem Abend fehlten. Auch Irena konnte mir nicht wirklich weiterhelfen. Sie hatte sich überall erkundigt, doch niemand kannte mein Gesicht oder meine Geschichte. Alles rund um meine Vergangenheit blieb verborgen hinter dem Schatten der Ungewissheit.
Bald erreichte ich die Mauer des Dorfes. Der einzige Eingang war ein schweres Eisentor, das bewacht wurde. Ein Wachmann stand davor. Sein Haar war dunkel, jedoch entdeckte man selbst im schwachen Licht einige graue Strähnen. Er lächelte, als er mich sah, dabei bildeten sich kleine Fältchen um seine Augen.
»Malina, noch wach zu solch später Stunde?«, fragte er, während er die Hand zum Gruß hob. Ich erwiderte den Gruß und nickte leicht.
»Kann nicht schlafen«, sprach ich und wartete geduldig, bis er das Tor öffnete. Eilig schlüpfte ich hindurch, ehe ich mich noch einmal umdrehte. »Richte deiner Frau Grüße aus, Edmund.« Er nickte, wie ich es vorhin getan hatte, und schloss dann wieder die Pforte.
Meine Beine trugen mich immer weiter hinab, vorbei an Häusern, in denen noch Licht brannte, vorbei an dem alten Wirtshaus und den betrunkenen Kaufleuten. Erst am Hafen machte ich halt, als das Rauschen des salzigen Wassers an meine Ohren drang. Hier war es kühler und irgendwie bereute ich es, dass ich keine Jacke angezogen hatte. Der Wind blies immer kräftiger, während die Wellen in unregelmäßigen Abständen gegen die Mauern aus Stein schlugen. Es roch nach Salz, nach Fisch, nach Freiheit und nach …
»Seltsamer Abend, nicht wahr?«
Ich drehte mich überrascht um. Es war ein Junge. Ich hatte gar nicht bemerkt, wie er neben mich getreten war. Er hatte blondes, längeres Haar und blickte starr zum Meer. Seine Kleidung war schwarz und er trug ungewöhnlich viele Schichten auf einmal. So was taten meist nur Menschen, die auf der Durchreise waren.
»Ist nicht jeder Abend seltsam?«, fragte ich zurück und blickte immer noch zu dem jungen Mann. Auf seinem Rücken trug er einen Köcher mit Pfeilen und einen Bogen. Unbewusst dachte ich an das Messer in meinem Stiefel. Im Nahkampf würde ihm der Bogen nichts mehr nützen, obwohl, konnte ich überhaupt einen Menschen verletzen?
»Du kommst nicht von hier, oder?«, fragte ich.
»Ich bin auf der Durchreise.«
»Aha!« Triumphierend schnipste ich mit den Fingern.
Er wandte nun seinen Kopf von dem Meer ab und sah mich etwas verwirrt an. Seine Augen waren von einem sanften Braun. Die Gesichtszüge des Jungen waren weich, was zu seinem freundlichen Lächeln passte. Irgendwie war es beinahe unmöglich, sein Alter zu erraten. In seinem Blick lag so viel Tiefe und Wissen, aber trotzdem wirkte er jung, was womöglich an dem fehlenden Bart lag. Hier im Dorf trugen die meisten Männer stolz einen Bart, und wenn es nur ein winziger war.
»Und du?«, fragte er nun. Er wirkte interessiert, richtete seine volle Aufmerksamkeit auf mich.
»Ich wohne hier«, sprach ich.
»Deine Haare sind seltsam.«
»Sie sind nicht …« Ich schüttelte den Kopf, blickte wieder hinauf zu den Sternen. Im Grunde waren sie wirklich nicht so eigenartig, wie manche dachten. Viele Leute trugen andere Haarfarben. Ganz früher existierten nur diese typischen Braun-, Schwarz- und Blondtöne, selbst Rot war sehr selten. Irgendwann im Laufe der Zeit fanden Kräuterfrauen heraus, wie man die Farbe der Haare auf Dauer ändern konnte, und seitdem gab es die unterschiedlichsten Haarfarben.
»Sie sind nicht seltsam«, vervollständigte er meinen Satz.
»Sie sind nicht seltsam«, wiederholte ich nun und musste ein Lächeln unterdrücken.
Die Sterne über mir funkelten, verzauberten mich mit ihrer kompletten Schönheit und zogen mich in ihren Bann. Immer wieder geisterte mir dabei das Märchen mit den Wünschen durch meinen Kopf. Was, wenn es wirklich wahr wäre? Was würde ich mir wünschen?
»Starrst du andauernd hoch in die Sterne?«
Ich spürte, dass er mich immer noch ansah. Wie das Braun seiner Augen auf mir lag und wie er sich wunderte, was diesem seltsamen Mädchen mit den hellen Haaren wohl durch den Kopf ging.
»Nein, manchmal nehme ich mir auch etwas Zeit und esse, damit ich nicht ganz eingehe«, antwortete ich.
»Es gibt da so ein Märchen, dass man sich wünschen kann, was immer man möchte.« Er fuhr fort, ohne auf meine kreative Antwort einzugehen.
Noch immer blickte ich hoch in den Himmel, beobachtete ihn dabei aus dem Augenwinkel heraus. Jungen Männern sollte man nicht trauen, besonders nicht, wenn sie einen Bogen bei sich trugen und Mädchen nachts auflauerten. »Das Märchen kenne ich.«
»Was würdest du dir wünschen?«, fragte er und machte einen Schritt auf mich zu. Nun senkte ich wieder meinen Blick und ging etwas auf Abstand.
»Ich tue dir nichts, keine Sorge.« Besänftigend hob er beide Hände hoch und schenkte mir dieses nette Lächeln von vorhin.
»Ich würde ganz gern nach Malufra gehen«, beantwortete ich die Frage wahrheitsgemäß.
»Der Stadt der Masken? Dafür müsstest du durch den Wald.« Er schüttelte sich. »Dort lebt ein Ungeheuer.«
»Im Grunde ist es ein Dieb.« Das Märchen vom Dieb ohne Herz war eines meiner liebsten. Es war unheimlich, schauerhaft und trotzdem schön auf seine Art und Weise.
»Ein Dieb ohne Herz.« Erneut schüttelte sich der Junge und spuckte dann drei Mal auf den Boden.
»Vertreibt Unglück«, beantwortete er meine fragenden Blicke.
Wieder