Stille Nacht. Dana Müller-Braun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dana Müller-Braun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955424350
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sechs. Macht mit den ersten Opfern und Gustav ein knappes Dutzend, die die Täter in ihre Gewalt gebracht haben. Und dann sehe ich unter dem blauen Müllsack eine schäbige Cordhose in Giftgrün, die ist unverkennbar. Tim …

      Ich will zu ihm rennen, aber Hel krallt ihre Finger in meinen Unterarm. Ich stoße sie von mir weg. Viel zu grob. Sie stöhnt auf. Laut. Zu laut. Einer der Männer kommt direkt auf uns zu.

      Mein Puls beschleunigt sich, während ich am Boden nach irgendetwas suche, was sich als Waffe nutzen ließe. Aber warum sollte hier ein Ast oder sowas herumliegen? Ich entscheide mich, das Arschloch zu überrumpeln, renne gebückt nach vorne, springe mit beiden Beinen zuerst und erwische ihn mit meinem Kick knapp unter der Kniescheibe. Es knackt und er geht mit einem merkwürdigen Gurgelton zu Boden.

      Da höre ich Hel wieder schreien. Wut kocht in mir hoch und als ich mich zu ihr umdrehe, steht einer der Vermummten hinter ihr und hält ihr ein Messer an die Kehle.

      Nein. Nein. Nein. Das kann nicht sein. Was zum Henker passiert hier? In dem Moment greift mich der Kerl, dem ich wahrscheinlich doch nicht die Kniescheibe gebrochen habe, am Knöchel und reißt mich herum. Unbedacht mache ich einen Schritt nach hinten und dann trifft mich ein dumpfer Schlag am Kopf.

      Schritte. Schreie. Türen, die zugeschlagen werden. Das Geräusch, das Autos von sich geben, wenn sie mit durchdrehenden Reifen lospreschen. Motorengeheul. Dann komme ich endlich wieder zu Bewusstsein. Ich drehe mich voller Schmerz um und sehe noch, wie sie Tim in den letzten Van stoßen und losfahren.

      Nein!

      Mein Hals ist trocken. Meine Kehle brennt, mein Kopf pocht, alles um mich herum dreht sich. Aber ich muss aufstehen. Ich muss ihnen hinterherfahren. Ich muss Tim da rausholen.

      Mit all meiner verbliebenen Kraft stütze ich mich am Boden ab und hieve meinen Körper nach oben. Ganz vorsichtig berühre ich meinen feuchten Hinterkopf. Blut.

      Aber ich muss weiter. Übelkeit überkommt mich, bis ich endlich an meinem Auto angekommen bin und wieder klarer sehe. Das Adrenalin dringt an die Oberfläche und lässt mich den Schmerz vergessen.

      Ich steige ein, starte den Motor und fahre los. Mein Herz rast, während ich meinen Mustang an seine Grenzen bringe. Die Schranke vor mir ist unten. Wie sind sie da rausgekommen? Scheiß drauf. Ich gebe Vollgas und halte darauf zu. Die Stange knallt gegen mein Auto, fliegt durch die Luft und landet krachend auf meinem Dach. Aber mir ist alles egal. Diese Bastarde haben meine Freunde in ihre Gewalt genommen und sich definitiv mit dem Falschen angelegt.

      Als ich vorne am Eingang an der Otto-Fleck-Schneise ankomme, sehe ich die drei schwarzen Vans nur 20 Meter von mir entfernt auf der gegenüberliegenden Fahrspur Richtung Oberforsthaus. Die Schweine wollen in die Stadt. Was ist das für ein scheiß Plan? Mit Geiseln mitten in die Stadt?

      Ich fahre in die Schneise. So viel Vorsprung wie diese Schwachmaten eben noch hatten, sind sie garantiert über den Autobahnkreisel zurück nach Frankfurt gefahren. Aber das kommt für mich nicht mehr in Frage. Ich würde sie verlieren, also ziehe ich in Höhe des Tiefgarageneingangs bei voller Geschwindigkeit die Handbremse und reiße das Lenkrad nach links. Die Reifen geben einen erbärmlichen Ton von sich. Mit einem lauten Knall schlägt das Heck in den Zaun auf der anderen Straßenseite ein, aber ich habe es geschafft, also trete ich das Gaspedal wieder durch und fahre weiter über die Mörfelder Landstraße in Richtung Kennedyallee. Wo sollten sie sonst hin?

      Als ich die Kolonne endlich vor mir erkenne, atme ich auf. Ich drücke das Gas durch, aber auch sie sind jetzt verdammt schnell unterwegs. Meine Hand fingert nach meinem Handy in der Hosentasche. Als ich es endlich zu greifen bekomme, wähle ich Lydias Nummer. Warum auch immer. Vielleicht, weil die Entführten da vor mir in den Vans ihre Leute sind. Oder weil es um Tim geht. Oder weil sie der einzige Mensch ist, den ich gerade hören will.

      »Was hast du angestellt?«, ertönt ihre Stimme in der Freisprechanlage. Sie klingt angriffslustig. Aber das wundert mich nicht wirklich. Meine letzte Aktion war ziemlich daneben.

      »Lyd, hör mir zu! Da waren Vans und bewaffnete Männer vorm Stadion und haben alle mitgenommen.«

      »Wen haben sie mitgenommen«?, fragt sie irritiert.

      »Ich denke alle, die bei eurer Weihnachtsfeier waren. Und Gustav, Hel und … Tim … Gustav hat ziemlich was abbekommen. Ich fahre hinter ihnen her. Du musst meinen Standort verfolgen.«

      »Und wie soll ich das machen?«, fragt sie verblüffend ruhig. Inzwischen bringt sie wirklich nichts mehr so leicht aus der Ruhe, fast schon so, als hätte sie etwas geahnt.

      Ich versuche blind, ihr meinen Live-Standort auf WhatsApp zu schicken, während ich die Fahrzeuge im sicheren Abstand verfolge. Wir sind zwar wieder im Lockdown, aber trotzdem ist in Richtung Hauptbahnhof eine Menge Verkehr, Pandemie hin oder her.

      Die Täter haben offenbar ein klares Ziel und einen klaren Zeitplan. Sie rasen nicht, aber sie fahren weiterhin sehr zielstrebig mit Tempo 70. Mehr als die meisten anderen, die sich an die vorgeschriebenen 50 km/h halten, aber nicht genug, um wirklich aufzufallen. Dazu wechseln sie ständig die Spur. Oder haben sie mich entdeckt?

      Ich bleibe kurz vor der Stresemannallee deutlich zurück, weil diese verdammte Ampel dort immer rot ist. Und ich habe sicher keine Lust, direkt hinter ihnen stehenzubleiben. Ich tippe mal, dass die Schranke auf meinem Dach eine auffällige Beule hinterlassen hat.

      »Ich hasse dich!«, schnauze ich die Ampel an und bete, dass endlich Grün wird.

      Die Ampel springt um. Einen Moment lang habe ich Zeit durchzuatmen und mir zu überlegen, was ich tun kann. Einfach weiter hinterherfahren, ist wohl das Beste. Lydia kann meinem Live-Standort folgen und schon haben wir die kleinen Bastarde.

      Ich versuche, die sechs, sieben Autolängen zwischen den Tätern und mir zu halten. Über die Friedensbrücke, die Wilhelm-Leuschner-Straße lang – alles kein Problem. Aber wo verdammt wollen die hin?

      Vielleicht 150 Meter vor mir biegt der Corso in die Mainluststraße. Richtung Theatertunnel. Die fahren wirklich Richtung Innenstadt. Was soll das Ganze?

      Vor mir leuchten die Bremslichter eines alten Corsa auf. Die Fahrerin fuchtelt wild mit den Armen und zeigt mir an, dass sie zurücksetzen will. Nicht ausgerechnet jetzt, oder?

      Ich reiße das Steuer herum und versuche links an ihr vorbeizukommen, doch die Wagen haben schon an Abstand gewonnen.

      Plötzlich trompetet es zwischen meinen Beinen. Mein Handy. Lydia.

      »Lydia, du musst der Polizei Bescheid sagen. Du musst …« Ich sehe die Vans gerade noch so im Theatertunnel verschwinden und schlage gegen mein Lenkrad. »Hast du mich verstanden?«

      »Ja«, wispert sie. Ich presse kurz meine schmerzenden Augen zusammen. »Ich habe eine Kopfverletzung, ich weiß nicht, wie lange ich ihnen noch folgen kann.«

      Blinzelnd starre ich auf die Straßensperrung vor mir. Eine Barke, lauter Hütchen. »Fuck!« Wie sind diese Bastarde in den Tunnel gekommen? Fuck! Fuck! Fuck!

      »Severin, was passiert da?«

      »Nichts«, brülle ich sie an. Und fahre an den Hütchen vorbei in den Tunnel. In diesem Moment explodiert etwas am Ende der langen Kurve. Ich bremse. Das Heck bricht aus. Aber bevor ich gegen die Tunnelwände knalle, wird das Auto langsamer und bleibt stehen. Panik kriecht meine Kehle hinauf, als ich nach und nach den ausgebrannten Van vor mir erkenne.

      Nein. Mein Herz bleibt stehen. Setzt aus. Mein Verstand begreift nicht, was ich da sehe.

      »Nein!«

      »Was ist los?«, schreit Lydia. Aber ich bin nicht in der Verfassung zu reden. Mit weit aufgerissenen Augen und bebenden Lippen sitze ich da, das Handy entgleitet mir und ich starre auf den Van, in dem Tim saß. Ich erkenne ihn sofort, weil ihm eine Radkappe hinten rechts fehlt, was mir schon vorhin aufgefallen ist.

      »Tim«, hauche ich und steige aus. Ich stolpere vorwärts.

      »Tim!«, brülle ich und nähere mich den heißen Flammen. »Tim!« Ich komme beim Van an und halte mir meinen Jackenärmel