U. D. Müller Braun
Stille Nacht
Ein Eintracht Frankfurt-Krimi
Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag
© 2021 Frankfurter Societäts-Medien GmbH
Satz/E-Book: Julia Desch, Societäts-Verlag
Umschlaggestaltung: Müller-Braun, Societäts-Verlag
Umschlagabbildung: ©schankz/Shutterstock
Printausgabe ISBN 978-3-95542-407-7
E-Book ISBN 978-3-95542-435-0
Prolog
Severin
Ich laufe. Jetzt schon seit Wochen. Seit meiner dämlichen Sprachnachricht. Ich habe mir am nächsten Morgen vorgenommen, mein Leben zu ändern. Mich zu ändern. Aber ich habe nur die bequemen Chucks gegen Laufschuhe ausgetauscht. »In denen läuft es sich fast von allein«, hat mir Achim versprochen. Inzwischen weiß ich, dass er als Redakteur vielleicht ganz brauchbar ist. Als Laufschuhexperte eher nicht.
Musik dröhnt in meinen Ohren und übertönt meine lauten, schnellen Schritte. Früher, an einem normalen Tag, hätte man das Aufsetzen der Sohlen nicht gehört. Weil diese Stadt immer Lärm macht. An normalen Tagen. Jetzt kann ich mich sogar atmen hören. Aber ich mag diese Stille nicht und lasse mich deshalb lieber von alten Queen-Songs beschallen.
In meiner Jugend habe ich Fußball gespielt. Ansonsten war ich nie wirklich der sportliche Typ. Aber inzwischen sterbe ich nicht mehr schon nach einem Kilometer und das Laufen hilft mir. Es bläst meinen Kopf frei und lässt mich meinen Körper wieder spüren. Nimmt all das, was geschehen ist, von mir. Wenn auch nur für einen kurzen Augenblick.
Die Straßen Frankfurts sind für diese Uhrzeit ziemlich leer. Das Virus kam und hat sie leergefegt. Und ein Teil von mir hat sich nur dazu entschieden, joggen zu gehen, um frische Luft zu atmen und mich frei zu fühlen, während die ganze Welt eingesperrt ist.
Ich denke an Lydia. Lydia. Ob es wohl je wieder normal zwischen uns sein wird? Ob wir je zusammenfinden? Als Freunde oder vielleicht sogar … Ich denke, alles ist möglich. Ich würde viel dafür geben, wenn das bedeutet, an ihrer Seite zu sein. Sie in meinem Leben zu haben.
Ich biege von der Saalburgstraße in die Berger Straße ab und mustere die Schaufenster, hinter denen alles dunkel ist. Die Stühle, die leer sind. Es ist richtig so, doch es fühlt sich falsch an. Aber wann hat es sich je richtig angefühlt, Menschen zu schützen, auch wenn man es mit solchen Mitteln tun muss? Ich kann ein Lied davon singen. Ich kann verstehen, wie weit man geht, um Leben zu retten. Und das ist am Ende doch genau das, was hier geschieht. Die leeren Straßen und das Eingesperrtsein retten Leben.
Und so langsam frage ich mich, wann ich eigentlich damit beginnen will, mein Leben zu retten. Wann ich endlich erwachsen werden will. Mit mir selbst im Reinen. Wird dieser Tag kommen? Oder werde ich auf ewig Severin, der Idiot bleiben, der alles vermasselt, obwohl er doch eigentlich das Richtige tun will?
Kapitel 1
23. Dezember 2020, 17.34 Uhr
Lydia
Mama? Du? Was … Wieso … äh …« Ich kann fühlen, wie das Blut aus meinem Kopf in die Tiefe sackt und sich mein Magen nach innen wölbt. Sprechen kann ich dafür nicht.
»Ja, Mäuschen. Ich bin es!« Wortfetzen dringen an mein Ohr. Kommen von weit, weit her. Jedenfalls empfinde ich das so.
»M … ama?«, bringe ich noch einmal hervor. Mein Puls rast und meine Beine sind nicht mehr in der Lage, die läppischen 52 Kilogramm zu tragen, die ich nach einem halben Jahr als Gleichstellungsbeauftragte der Eintracht mit Mühe auf die Waage bringe. Ich blicke mich fast panisch nach einer Sitzgelegenheit um. Als ob ich mich direkt vor meinem Elternhaus nicht bestens auskennen würde. Aber: Ich fürchte, mein Orientierungsvermögen ist gerade außer Kraft gesetzt. Ich schaue rechts, schaue links, aber da ist nichts. Ob ich reingehen soll? Es sind nicht mal 50 Meter bis zur Haustür. Besser nicht! 50 Meter können weit sein. Also gleite ich wie ein Plumpsack zu Boden. Sollen die Nachbarn doch denken, was sie wollen, wenn sie die Eintracht-Vizepräsidentin wenige Meter vor ihrem Elternhaus kreidebleich auf dem Bürgersteig hocken sehen.
Vielleicht sollte ich die Maske aufsetzen, schießt es mir durch den Kopf. Dann erkennt mich nicht gleich jeder. Im gleichen Atemzug beantworte ich mir die Frage selbst: »Lydia Heller. Hast du sie eigentlich noch alle!«, entfährt es mir hörbar. Ich nehme das Handy wieder ans Ohr. »Nein. Mama. Du warst nicht gemeint. Obwohl: Äh. Verzeih, aber: Hast du sie noch alle?«
»Ach Mäuschen. Es spielt keine Rolle, was mit mir ist. Glaub mir. Es geht um dich. Sonst würde ich mich wohl kaum so aus dem Nichts heraus bei dir melden.«
»Aus dem Nichts heraus trifft es ziemlich gut.«
Ich habe ein Stück Fassung zurückgewonnen und kann sogar diesen leicht schnippischen Ton, den ich im Kommunikationsseminar für Pressesprecher erlernt habe, in diesen Satz legen. Das hilft auch bei Presseleuten, eine Art dunkelgelbe Karte zu zeigen, wenn sie immer wieder die gleichen blöden Fragen stellen.
»Weihnachten ist doch erst morgen, Mama. Und normalerweise bringt der Briefträger eine Ansichtskarte irgendwo aus Afrika oder was weiß ich woher, mit zwei Wörtern: Frohes Fest!« Ich lege eine kleine Pause ein. Das mit den lieblosen Karten soll erst einmal bei ihr ankommen. Dann hole ich aus.
»Dein letzter Anruf war …«
»Ich weiß. Aber dieses Jahr ist eben alles anders. Ich erkläre es dir. Alles«, unterbricht mich ihre Stimme merkwürdig schroff.
Plötzlich schießt es mir durch den Kopf. Corona! Meldet sie sich bei mir telefonisch … einfach nur, weil sie krank ist, und Angst davor hat zu sterben, ohne vorher noch ein paar Dinge ins Reine gebracht zu haben?
»Bist du mit diesem Virus infiziert?«
»Nein, Mäuschen. Ich bin nicht infiziert.«
»Okay. Was willst du dann? Und hör auf, mich Mäuschen zu nennen. Ich bin schon lange nicht mehr dein Mäuschen!« Ein kurzer Moment der Stille entsteht. Offenbar muss sie meine Antwort erst verdauen.
»Was ich will? Das lässt sich nicht so einfach in drei Worten sagen. Du musst zu Papa und ihm mitteilen, dass ich angerufen habe. Er weiß dann, was zu tun ist. Und bitte, Mäuschen: Tu einfach, was ich sage. Es ist wichtig. Vielleicht sogar überlebenswichtig!«
Ihre Stimme klingt plötzlich so, als hätte ich mein Zimmer mal wieder nicht aufgeräumt. Und das ›überlebenswichtig‹ macht mir Angst.
»Hallo! Mama! Du erinnerst dich doch, oder? Es ist ein paar Tage her, dass wir uns zuletzt gehört haben. Gefühlt: ein paar Jahre. Und du willst das mit deinem Gouvernantenton mal eben aus meinem Gedächtnis streichen? So, als wäre nichts gewesen. Denkst du wirklich, ich glaube noch an den Weihnachtsmann? Ich bin kein Kind mehr … und du hast irgendwann entschieden, nicht mehr meine Mutter sein zu wollen.«
»Nein. Mäuschen. Will ich nicht. Und würde ich ja auch nicht, wenn es nicht so wichtig wäre. Also, ich meine das Aus-der-Welt-schaffen. Nicht das Muttersein. Ach, egal. Du bist in Gefahr.«
»Klar, Mama. Ich sitze hier auf dem Bürgersteig in einer reinen Anliegerstraße und bin ziemlich aufgelöst. Aber: Ich sitze. Also umfallen kann ich nicht, und es sieht auch nicht so aus, als käme der Gruber aus der 79 hier mit seinem aufgemotzten Flitzer um die Ecke gebogen, um mich über den Haufen zu fahren!«
Meine Stimme ist ziemlich am Ende ihrer Kapazitäten angelangt.
Mama scheint das aber überhaupt nicht zu beeindrucken. »Du musst mir einfach nur vertrauen. Ich rufe nicht an, um dir … äh … euch ein schönes Weihnachtsfest zu wünschen. Ich melde mich, um dich zu warnen!«
»Jetzt? Vor was denn? Wie wäre es mit einem Anruf gewesen vor meiner Blinddarm-OP, vor der Abi-Prüfung oder meinem ersten Tag bei der Eintracht? Das mit dem Telefonieren soll weltweit funktionieren, habe ich gehört!«
»Ja,