»In Ordnung«, raunt Tim und steht auf. »Und du bist dir sicher, dass du morgen bei mir sein willst? Es ist Heiligabend.«
»Du kennst doch meine Mom. Nie in Amerika gelebt und trotzdem feiern wir erst am Ersten Weihnachtsfeiertag. Morgen wird nur Nastassia da rumlaufen und alle verrückt machen, weil im Braten keine giftigen Stoffe sein dürfen.«
Tim grinst. Ich weiß, dass es ihm viel bedeutet, an Heiligabend nicht allein sein zu müssen. Seine Eltern fahren noch heute zu Tims Oma in den Osten. Er bleibt hier, weil er kein Risiko für sie darstellen will. Und auch heute treffen sie sich nur mit viel Abstand in ihrem Garten, um einen Glühwein zu trinken. Also haben wir beschlossen, zu zweit zu feiern. Lydia wird bei ihrem Dad sein. Und ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, ob ich sie gerne in unserer kleinen Runde dabei hätte. Es ist einfach seltsam zwischen uns. Als hätten wir die Freundschaftsebene verlassen und würden jetzt in der ›da ist was zwischen uns, was keiner benennen will‹-Ebene feststecken.
»Los jetzt, der Kerl ist nur noch ’ne halbe Stunde zu Hause.«
Als wir in meinem Mustang sitzen, beginnt Tim nervös auf seinem Handy herumzutippen. Ich runzle die Stirn und versuche einen Blick zu erhaschen. Aber ich erkenne nichts.
»Was machst du da?«
»Geht dich nichts an.«
»Wow. Ich dachte, wir sind beste Freunde.«
Tim wirft mir einen genervten Blick zu. »Es geht dich zwar trotzdem nichts an, aber ich schreibe mit einer Frau.«
»Ist sie ein Roboter?«
»Siehst du! Und genau aus diesem Grund erzähle ich dir sowas nicht!«, zischt er und verschränkt zornig die Arme vor der Brust.
»Entschuldige. Also nochmal von vorne. Woher kennt ihr euch?«
»Tinder«, sagt er und mustert mich, als würde er auf den nächsten dummen Spruch warten. Aber ich zügle mich. »Und weiter? Wie heißt sie? Wie alt? Woher? Ist sie heiß?«
Er schnauft. »Sie heißt Meike und ist 27. Hier aus Frankfurt.«
»Soll ich dich lieber bei ihr rauslassen?« Ich zwinkere ihm lasziv zu. Aber Tim schüttelt nur bedröppelt den Kopf. »Ich kann sie nicht treffen.«
»Und warum nicht?«
»Weil sie sicher denkt, dass ich besser aussehe als …«, er deutet an sich hinab, »so!«
»Was für ein Schwachsinn. Außerdem hast du doch sicher ein Bild drin.«
»Ja, aber da bin ich gut getroffen und schlanker.«
Ich blinzle. »Wann warst du mal schlanker? Als du zehn warst?«
»Nicht witzig. Nach dem Studium habe ich eine Weile eine Diät gemacht.«
»Und weiter? Jeder hat während Corona zugenommen. Schieb’s darauf.«
»Das ist alles nicht so einfach wie für dich, Sev. Ich habe nie Dates. Ich wüsste nicht mal, was ich sagen soll.«
»Aber du schreibst ihr doch auch. Du machst einfach genau so weiter, nur dass du nicht schreibst, sondern die Worte ausnahmsweise aus deinem Mund kommen.«
Tim zuckt mit den Schultern und sieht aus dem Fenster.
»Ist das Gespräch damit beendet?«, hake ich nach und bekomme nur ein sanftes Nicken. Allerdings werde ich keine Ruhe geben. Jetzt vielleicht, damit er sich nicht noch weiter in seinen Hasenbau zurückzieht. Aber früher oder später bekomme ich ihn schon dazu, sie zu treffen.
Ich halte bei der Adresse, die der Kerl angegeben hat, kaufe die Uhr und fahre Tim dann zu seinen Eltern, bevor ich zum Nordend fahre, parke und am Holzhausenpark vorbei zum Haus meiner Eltern schlendere.
»Mom!«, rufe ich, als ich mich durch den Flur voller Weihnachtsschmuck gequetscht habe und in die Küche trete, wo – wie immer einen Tag zu früh – Nasti steht und die Packungen überprüft, die Mom zum Kochen benutzen will.
»Wo ist Mom?«
»Hallo auch«, zischt Nasti und spitzt ihre Lippen.
»Hallo. Wo ist Mom?«, wiederhole ich genervt und versenke meine Hände in den Hosentaschen. Vielleicht hätte ich mich dicker anziehen sollen.
»Im Garten mit Papa. Irgendein bescheuertes Rentier aufstellen.«
»Danke, Schwesterlein«, sage ich, schnappe mir einen Apfel und gehe durch das Esszimmer hinaus auf die Terrasse, wo Mom steht und Dad Anweisungen zubrüllt, der nicht sehr elegant auf der Leiter steht. Ein Rentier, Kabel und Stecker in der Hand.
»Oh hallo, Honey«, sagt Mom und drückt mir einen Kuss auf die Wange.
»Ja, haltet doch am besten noch ein Kaffeekränzchen, statt mir zu sagen, wo dieses Mistvieh hin soll!«, beschwert sich Dad sichtlich genervt von oben.
»Jesus«, flucht Mom auf Englisch und berührt ihre Schläfe.
»Stell ihn einfach irgendwo hin, bevor du dich noch umbringst.«
»Na schön.« Dad schmeißt das Rentier förmlich auf das Dach und wir alle sehen dabei zu, wie es immer weiter hinabrutscht, bis es in der Regenrinne steckenbleibt und schief hinabhängt, Dad den Stecker reinsteckt und von der Leiter steigt. Ich hebe belustigt meine Brauen. »Ein echtes Kunstwerk.«
»Deine Mutter kann einfach keine klaren Aussagen treffen«, beschwert er sich und klopft mir auf die Schulter. »Und ich muss jetzt ins Gericht. Hab den Kollegen frei gegeben und den Notdienst selbst übernommen.«
»Sieht man«, kommentiere ich den Anzug, den er trägt. »Passende Kleidung, um auf dem Dach herumzuklettern.«
»Er hätte den Weihnachtsschmuck auch wie alle anderen Nachbarn schon vor dem ersten Advent anbringen können. Aber dein Oberstaatsanwalt-Vater hat ja zu viele Termine, um die Bitten seiner Frauen wahrzunehmen«, gibt Mom ihren Senf dazu.
»Wie auch immer«, sagt Dad, küsst Mom und verschwindet dann.
Mein Blick ruht noch eine Weile auf dem Rentier, das aussieht, als hätte es sturzbetrunken seinen Schlitten verloren, wäre vom Himmel direkt auf unser Dach geknallt und würde jetzt von der Regenrinne aus in unseren Garten reihern.
»Komm rein, Honey«, höre ich Mom sagen und folge ihr.
»Was machst du überhaupt hier?«, fragt Nasti durch die offene Küchentür, ohne ihren Blick von der Packung Soßenbinder, die sie gerade inspiziert, abzuwenden. Seitdem sie im Internet auf eine App gestoßen ist, die alle für Kinder gefährlichen Stoffe aufzählt, ist sie wie besessen, etwas ›Hochgiftiges‹ im Essen anderer Leute zu finden. Wahrscheinlich nur, um dann hämisch zu grinsen und zu sagen: »Ohne mich – tot!«
»Ich wollte Mom besuchen«, gebe ich zurück und ziehe dann die Uhr aus der Tasche. »Und fragen, ob du Geschenkpapier hast.« Ich blinzle Mom unschuldig an, während Nasti mit der Zunge schnalzt.
»Ich hoffe, das alte Ding ist nicht für mich.«
»Seit wann bekommst du Geschenke von mir?«, kontere ich und zwinkere ihr zu.
»Hauptsache, du hast etwas für Leonard besorgt. Du weißt, wie sehr er seinen Onkel liebt.«
»Und das tut er nicht mehr, wenn ich ihm nichts schenke?«
»Hört auf, Kinder«, mischt sich Mom ein und nimmt mir die Uhr ab. »Ist sie für Lydia? Kommt sie auch?«
»Nein. Sie feiert bei ihrem Pa.«
»Wie schade. Aber ich schaue mal, was ich finde.« Sie drückt mir die Uhr wieder in die Hand und verschwindet, woraufhin mir ein kleines »verdammt« über die Lippen gleitet.
»Hast wohl gehofft, dass sie es dir einpackt«, giftet Nasti. Ich atme tief ein und ignoriere sie. Stattdessen beiße ich in den Apfel, um auch meinen Mund daran zu hindern, mit irgendeiner unpassenden Gemeinheit auf ihre Provokation einzugehen. Stoff gäbe es schließlich genug.
Wir