Stille Nacht. Dana Müller-Braun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dana Müller-Braun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955424350
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mindestens drei Pirouetten mit seinem Rolli drehen. Weil ich bislang auch nicht mehr erreicht habe als er. Die Polizei ist so kurz vor Weihnachten offenbar dünn besetzt. Na klar. Wer will schon bis zum frühen Morgen an Heiligabend Dienst schieben. Das machen wirklich nur die ›Special Forces‹, geht es mir durch den Kopf.

      Dann knackt es zweimal in der Leitung.

      »Homburg. KHK Ulf Homburg. Was kann ich für Sie tun?«, meldet sich eine angenehme Stimme. Noch dazu eine, die Kompetenz ausstrahlt. Ich atme auf.

      »Herr Hauptkommissar. Homburg. Mein …«, ich zögere einen Moment, »mein … Freund Severin Klemm hat mich eben angerufen und gesagt, am Stadion bei der Eintracht-Geschäftsstelle seien Menschen entführt worden. Er ist den Entführern gefolgt, bis sie im Theatertunnel verschwunden sind. Er hat mir seine Position zugemailt, aber der Kontakt ist abgerissen.«

      »Aha!«, sagt der Mann. »Und wann soll das gewesen sein?« Schon die Formulierung bringt mich auf die Palme. Wann soll das denn gewesen sein? Das fragt so doch nur einer, der dir nicht glaubt.

      »Vielleicht vor einer Viertelstunde. Schließlich ist mein Anruf dank Ihres Kollegen schon 10 Minuten her.«

      »Na ja, das müssen Sie dem Obermeister Raubein schon verzeihen. Der macht normalerweise keinen Telefondienst. Nur wegen den anstehenden Feiertagen. Und indem er Sie zu mir durchgestellt hat, hat er ja eigentlich alles richtig gemacht, nicht wahr?!«

      Dieser Mann versucht mich offenkundig zu beruhigen. Was ihm allerdings nicht wirklich gelingt. Heißt das, die Polizei hat längst eine Meldung von den Vorgängen im Theatertunnel bekommen und er will mir die Wahrheit nicht sagen? Weil … schon wieder mag ich den Gedanken nicht zu Ende bringen. Zu schlimm ist die Vorstellung, Severin könnte etwas zugestoßen sein. Oder war bei der Weihnachtsfeier gerade der Nikolaus unterwegs, hat leckere Geschenke verteilt und sie schlafen jetzt alle den Schlaf der Gerechten.

      »Jaja, alles gut. Ich bin ihm auch nicht böse, aber bitte sagen Sie mir doch endlich, was in dem Tunnel los ist. Sie müssen doch Überwachungskameras da unten drin haben. Falls ein Unfall passiert oder ein Unglück.«

      »Ich lasse das gerade überprüfen, Frau Heller. Dauert aber einen Moment. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele dieser Kameras in der Stadt verteilt sind?«

      »Nein, habe ich nicht. Warum auch? Ich bitte Sie ja auch nur eine, vielleicht zwei dieser Kameras zu überprüfen und mir dann zu sagen, was mit Severin ist! Können Sie das bitte für mich tun?!«

      Kapitel 6

      23. Dezember 2020, 20.17 Uhr

      Severin

      Ich öffne meine Augen und starre auf eine kahle Wand. Was? Benommen versuche ich mich zu erinnern, was passiert ist. Und dann wird es mir klar. Mein Herz brennt wie Feuer, als ich das lodernde Auto vor mir sehe. Langsam verstehe, was geschehen ist. Begreife, dass Tim …

      Ich will mich aufrappeln und die Männer finden, die dafür verantwortlich sind, aber meine Hände und Beine sind gefesselt. Ich starre fassungslos auf die Kabelbinder und realisiere endlich vollends, was passiert ist. Ich bin ihnen hinterhergefahren und schließlich haben sie mich bewusstlos geschlagen und mitgenommen.

      Ein Stöhnen reißt mich aus meinen Gedanken. Ich sehe mich um, doch alles liegt in einem trüben Dunkel. Es dauert einen Moment, bis ich hinter ein paar Transportkisten einen Mann sitzen sehe.

      »Geht es dir gut?«, frage ich und versuche in seine Richtung zu robben.

      Wieder stöhnt er auf und sieht dann verwundert auf seine eigenen Fesseln.

      »Was ist passiert?«, fragt er mit einem Akzent und blinzelt.

      »Irgendwelche Bastarde haben uns entführt«, knurre ich und dann sieht er auf. Mich direkt an. Seine dunklen Augen wecken ein vertrautes Gefühl in mir. Ich kenne ihn. Aber woher?

      »Habe ich dich schon mal gesehen?«, frage ich, als ich bei der Kiste angekommen bin und kurz die Augen schließe. Mein Kopf dröhnt. Der Typ legt den Kopf schief und mustert mich. »Severin, oder?«

      Ich schärfe meinen Blick, um mir das Gesicht noch einmal genau anzusehen. Er ist Ausländer. Araber … Syrer vielleicht. Aber ich kann mich beim besten Willen nicht erinnern. »Arbeitest du für die Eintracht?«, will ich wissen und sehe mich im Raum um. Statt hier ein Pläuschchen zu halten, sollten wir vielleicht besser einen Ausweg finden.

      »Ich habe für die Eintracht gespielt. Sie wollten wohl einen Ausländer bei ihrer kleinen Feier dabeihaben.«

      Ich hebe meine Brauen. Wann soll der bei der Eintracht gekickt haben? Mein Gedächtnis lässt mich offensichtlich im Stich.

      »Hast du eine Idee, wie wir hier rauskommen?«, fragt er und reckt seinen Nacken.

      »Ich wüsste zunächst erst mal ganz gerne, wo wir hier eigentlich sind«, brumme ich und wieder taucht Tims Gesicht vor mir auf. Ich verscheuche es, so schnell es geht, und sehe dann zur Tür.

      »Kannst du aufstehen?«, frage ich mit einem Blick hinter die Kisten. Er verzieht sein Gesicht und schüttelt den Kopf. »Ich glaube, sie haben mir das Bein gebrochen.«

      Na super. Also versuche ich mich hochzuhieven und zur Tür zu hüpfen. Mein Kopf explodiert beinahe. Und wie erwartet, ist die Tür verschlossen. Was jetzt? Und wo sind die anderen? Da stand doch nur einer der Vans, oder nicht?

      Ich lasse mich wieder auf den Boden sinken und lehne meinen Kopf gegen die Tür.

      »Du hast dir echt den falschen Zeitpunkt ausgesucht, um bei der Weihnachtsfeier den Quoten-Kicker zu geben und in alten Geschichten zu schwelgen«, sage ich resigniert und sehe auf. Sein Blick trifft mich. Etwas wie Trauer schwappt zu mir herüber.

      »Alte Geschichten?«, murmelt er in gebrochenem Deutsch. »Einen wie mich vergisst man schnell. Keiner will alte Geschichten hören.«

      »Na, immerhin haben sie dich eingeladen«, sage ich, vor allem, um mich abzulenken.

      »Und das macht alles andere wieder gut?«, kontert er traurig und zuckt mit den Schultern. »Ich hätte nicht hingehen sollen. Das sind Menschen, die sich für Einzelne nicht interessieren.«

      Ich verziehe den Mund. So gerne ich hier eine kleine Lästerrunde über die obere Etage der Eintracht und ihre Arroganz und Ignoranz abhalten würde, kann ich einfach nicht tatenlos herumsitzen.

      »Es sollte dir egal sein. Was hast du mit diesen Leuten zu tun? Nichts.«

      Ich blicke mich weiter um. Hier ist nichts außer diesen Blechkisten auf Rädern. Aber irgendwann wird jemand kommen. Sie werden uns ja nicht einfach verrotten lassen. Und für genau diesen Moment wäre es gut, vorbereitet zu sein.

      »Wir sind hier offenbar eingesperrt, weil diese Eintracht-Männer noch mehr Menschen verärgert haben. Also ist es mir nicht egal«, raunt er.

      »Vielleicht wollen sie Geld«, sage ich und krieche wieder zu den Kisten, um darin nach einer Waffe oder etwas Brauchbarem zu suchen.

      »Geld …«, wiederholt er mit einem fiesen Lachen. »Und was machen wir beide, was machen du und ich dann hier? Denkst du wirklich, dass einer dieser Bosse Geld für uns zahlt?«

      Ich kneife die Augen zusammen und denke nach, während ich den Deckel der Kiste öffne. Ja, was mache ich hier? Warum hat der Anführer nicht zugelassen, dass sie mich einfach erschießen? Hat er mich erkannt? Gewusst, dass ich der Sohn des Oberstaatsanwalts bin? Das ist das Einzige, was mein Leben wertvoll macht. Aber das wäre ein Riesenzufall.

      »Mir ist scheißegal, was sie von mir wollen«, bricht sich der Zorn in mir plötzlich seine Bahn. »Diese Bastarde haben meinen besten Freund getötet.«

      Wieder legt er den Kopf schief. Schweigt aber.

      »Wie heißt du eigentlich?«, frage ich, um mich selbst ein bisschen runterzubringen. Dabei starre ich in die Kiste vor mir, zerre einen Beutel heraus und schrecke perplex zurück. Drogen.

      »Ich heiße Assad.« Ich nehme die Stimme meines Mitgefangenen nur