Stille Nacht. Dana Müller-Braun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dana Müller-Braun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955424350
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in der Lage, zu verarbeiten, was meine Augen sehen. Ich renne verzweifelt um diesen glühenden Feuerball herum. Renne hin und her, weil ich mir sicher bin, dass Tim vorher rausgesprungen ist. Er muss rausgesprungen sein. Er kann nicht …

      »Tim!«, schreie ich wieder. Warum verflucht antwortet er nicht?

      »Tim, verdammt!« Meine Kehle schnürt sich zu. Heiße Tränen steigen in meine Augen. Nein! Ich schüttle den Kopf, hindere meinen Körper daran, zusammenzubrechen und renne wieder zu dem Van. Renne weiter zur anderen Seite des Tunnels. So weit, dass ich den Ausgang in Richtung Berliner Straße schemenhaft erkennen kann. Ich schreie, höre den Hall meiner eigenen Stimme und bilde mir ein, es wäre Tim. Er darf nicht tot sein. Er kann nicht. Mein Herz bricht und bricht und zerreißt mir dabei die Brust. Schießt ätzende, bittere Säure durch meinen gesamten Körper und drückt mir die Kehle zu.

      »Tim«, hauche ich nur noch heiser und lasse mich auf meine Knie sinken. Sehe wie in Trance dabei zu, wie der Van weiter brennt. Wie mein Leben brennt. Tim ist mein bester Freund. Er ist meine bessere Hälfte. Er ist so viel für mich. So vieles, was ich ihm nie gesagt habe. Er darf nicht tot sein.

      Schritte ertönen hinter mir. Ich drehe mich um. Ich flehe, dass dort Tim steht. Stattdessen ist es einer seiner Mörder. Ich sehe seine dunklen Augen förmlich aus den Löchern der Sturmhaube herausquellen. Sehe seinen schief gelegten Kopf, als würde er mich belächeln. Ich rapple mich auf, wische mir die Tränen aus dem Gesicht und gehe auf ihn los. Er ist überrascht, weshalb ich einen Schlag in sein Gesicht landen kann. Er hebt sein Knie und rammt es mir in den Unterleib. Lähmt mich, aber ich fange mich und schlage ihm mit der Faust gegen sein Kinn. Er stöhnt auf. Flucht in einer fremden Sprache und bevor er mir erneut einen Tritt verpassen kann, donnere ich ihm meine Faust ein zweites Mal ins Gesicht. Dunkelheit umhüllt mich. Meine eigene Dunkelheit, die ich so lange tief in mir versteckt habe, bricht aus mir heraus und ich schlage wieder und wieder zu. Ich höre seine Nase brechen. Ich spüre das Blut durch die schwarze Haube, die sein Gesicht verdeckt. Ich schlage auch dann noch zu, als er am Boden liegt. Verpasse ihm einen Tritt und schreie bestialisch auf. Tims Gesicht taucht dabei immer wieder vor meinen Augen auf. Diese Bastarde haben ihn umgebracht. Haben meinen besten Freund genommen. Ihn dieser Welt und mir genommen.

      Ich schlage wieder zu. Höre noch seinen Kiefer knacken, bevor ich von hinten gepackt werde. Ich wehre mich. Winde mich wie ein Tier, aber es sind zwei Männer, die mich festhalten. Zwei dieser Monster. Ich trete um mich. Will sie verletzen. So sehr verletzen, wie sie Tim verletzt haben. Wie sie mich verletzt haben. Wie sie meine Seele unwiderruflich zerstört haben. Aber ich habe keine Chance. Das Letzte, was ich sehe, ist, wie sich der Kerl vom Boden erhebt, dann wird mir etwas über den Kopf gestülpt. Darauf folgt ein gezielter Schlag auf meine Schulter und ich verliere mich in der unendlichen Tiefe der Bewusstlosigkeit.

      Kapitel 5

      23. Dezember 2020, 19.43 Uhr

      Lydia

      Papa! Rufst du bitte die Polizei an und sagst ihnen, irgendwo im Bereich des Theatertunnels wird gerade – keine Ahnung wer – entführt. Wahrscheinlich alle, die bei der Weihnachtsfeier der Eintracht in der Geschäftsstelle waren. Nein. Das sag bitte nicht. Sonst müssen alle in Quarantäne und bekommen eine ordentliche Geldstrafe aufgebrummt.«

      Manchmal könnte ich mich wirklich ohrfeigen für meine Art zu denken. Eintracht immer zuerst. Genau das, was ich meinem Vater stets vorgeworfen habe. Aber ich bin genauso geworden wie er. Keinen Deut besser. Und deshalb hat Severin wahrscheinlich die Flucht ergriffen. Hat keinen Bock mehr auf mich gehabt. Der alte Hooligan, der gelernt hat, dass es auch ein Leben ohne die Eintracht gibt. Und jetzt ist er in Lebensgefahr. Nur weil ich meiner Mutter nicht vertraut und ihn nicht gewarnt habe. Dabei wusste ich doch genau, dass er im Stadion ist. Wegen Mic. Und sie hat gesagt: Wenn du nicht im Stadion bist, kann dir nichts passieren. Was bin ich denn nur für ein Mensch. Habe nur an mich gedacht und keine Sekunde lang an Severin oder die anderen. Eric. Tim. Das Team. Scheiße. Verdammt. Scheiße.

      Tränen rinnen über mein Gesicht. Sagen mir, wie viel mir an diesem blöden arroganten Arsch liegt. Wie sehr ich Severin liebe. Schon immer geliebt habe.

      Papa nimmt mich in den Arm.

      »Soll ich das der Polizei wirklich genau so sagen. Oder möchtest du den Text noch überarbeiten?«

      Dieser Mann hat es schon immer verstanden, mich mit diesen kleinen Spitzen, die er wie ein erfahrener Fechtmeister zu setzen versteht, zur Weißglut zu bringen. Selbst jetzt.

      »Nein, Papa. Keine Überarbeitung. Nur anrufen und das, was ich gesagt habe, durchgeben. Sie sollen den Theatertunnel abfahren und mir sagen, dass Sev nur einen seiner berühmten Suff-Scherze gemacht hat.«

      »Okay.« Ich starre den alten Mann an und bin verblüfft. Zum ersten Mal, jedenfalls soweit ich denken kann, macht er wirklich, was ich sage. Aber das ist dann auch nicht das Richtige.

      »Hallo! Hier spricht Heller. Klaus Heller. Ich soll Ihnen von meiner Tochter sagen, dass gerade irgendwo im Bereich des Theatertunnels … ja, in Frankfurt. Wo denn auch sonst … jemand entführt wird. Sie hat auch keine Ahnung, wer«, flötet er.

      »Papa!«, ich reiße ihm das Telefon aus der Hand.

      »Guten Abend. Mein Name ist Lydia Heller. Ich habe gerade von Severin Klemm einen Anruf erhalten. Darin schildert er mir, dass im oder in der Nähe des Theatertunnels ein Verbrechen verübt wird. Könnten Sie das bitte überprüfen?«

      »Wie stellen Sie sich das vor, junge Frau?«

      »Was heißt, wie stellen Sie sich das vor? Der Zeuge Severin Klemm sagt, dass hier Menschen entführt wurden und in Gefahr sind. Das muss ja wohl ausreichend sein, um den Tunnel zu kontrollieren?«

      »Frau Heller. Haben Sie eine Vorstellung davon, wie viele Menschen hier täglich anrufen und von Entführungen berichten. Nur weil einer mal Zigaretten holen gegangen ist. Wenn Sie verstehen, was ich meine. Seit Corona hat sich die Zahl mehr als verdoppelt.«

      »Herr … wie auch immer Sie heißen. Da fällt mir ein: Wie heißen Sie eigentlich?«

      »Raubein. Obermeister Raubein.«

      Ich versuche, meinen Puls mit aller Gewalt herunterzudrücken, atme dreimal tief durch und greife dann zu einem Mittel, das ich eigentlich nicht mag, das aber meist funktioniert.

      »Okay. Herr Obermeister Raubein. Sehen Sie: Dieser Severin Klemm ist zufälligerweise der Sohn von Oberstaatsanwalt Klemm. Es mag sein, dass er zu den ausgemachten Witzbolden dieser Welt gehört, aber wenn es um seinen Freund Tim geht, hört auch für ihn der Spaß auf. Also: Er hat mich vor wenigen Minuten angerufen und gesagt, am Stadion bei der Eintracht-Geschäftsstelle seien Menschen entführt worden. Von irgendwelchen vermummten Gestalten. Und die seien jetzt im Theatertunnel. Mehr konnte er mir nicht sagen, dann ist die Verbindung abgerissen. Wahrscheinlich, weil er in den Tunnel gefahren ist.«

      Ich stocke und mir wird klar, dass ich das eigentlich nicht weiß, sondern nur hoffe. Weil ich mir nicht vorstellen will, dass ihm etwas Schlimmes passiert ist.

      »Also, Herr Raubein. Mehr weiß ich auch nicht, aber Sie müssen dort doch irgendwelche Überwachungskameras haben, um nach dem Rechten sehen zu können.«

      Ich finde es schon pervers, dass ich ihm sagen muss, was zu tun ist, und bete trotzdem inständig, dass er es einfach tut. Am anderen Ende der Leitung herrscht erst einmal Stille. Immerhin. Sollte er wirklich …?

      »Frau Heller?«

      »Ja. Ich bin noch hier. Was ist?«

      »Sind Sie die von der Eintracht?«

      »Ja, ich bin die von der Eintracht. Aber das spielt jetzt wirklich keine Rolle.«

      »Ich wollte es ja nur wissen, weil … Tommy, mein Enkel, ist so ein großer Fan der Eintracht. Und wenn ich ihm morgen bei der Bescherung erzähle, dass ich mit Ihnen gesprochen habe, flippt der aus.«

      »Herr Raubein! Das tue ich jetzt auch gleich!« Schweigen.

      Dann ein förmliches »Können Sie dranbleiben?«

      »Ja.