Stille Nacht. Dana Müller-Braun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dana Müller-Braun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955424350
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entlang und lässt mich schaudern. Der Beutel in meiner Hand ist voller Tabletten und einem weißen Pulver. Wahrscheinlich Koks. Mein Kreislauf lässt mich im Stich und plötzlich fühlt es sich so an, als wäre ich ein echter Junkie.

      Nachdem ich endlich von dem Ritalin runtergekommen bin, das sie mir schon als Kind eingeflößt haben, habe ich es tunlichst vermieden, mit anderen Drogen in Kontakt zu kommen. Auch wenn ich solche eigentlich nie hätte nehmen wollen, man weiß ja nie. Nicht das Koks und auch die meisten Tabletten nicht. Würde ich da nicht unter ihnen die Schachtel Ritalin erkennen. Es könnte mir helfen, klarer zu werden. Mich zu konzentrieren. Gerade jetzt, da ich …

      »Was ist los?«, fragt Assad und reckt den Kopf ein wenig.

      »Nichts«, lüge ich, werfe den Beutel zurück und knalle den Deckel zu.

      Mein Herz pumpt schnell und unregelmäßig. Kalter Schweiß läuft mir über den Rücken. Ich schaue zu ihm. Er beobachtet jede meiner Bewegungen mit Argusaugen.

      Ich lehne mich erschöpft gegen eine der Wände und wir schweigen eine ganze Weile, bis Assad erneut das Wort ergreift.

      »Als ich neu in Deutschland war, das war am Anfang eurer Flüchtlingskrise, da haben mich ein paar Typen in Niederrad auf dem Nachhauseweg abgefangen«, sagt er mit ruhiger, tiefer Stimme. Fast so, als würde er damit keine Emotionen verbinden.

      »Sie wollten mich verprügeln. Weil ich anders aussah als sie. Das hat ihnen als Grund gereicht.«

      Ich fahre mit meiner Zunge die Zähne entlang. Mich interessiert diese Geschichte nicht. Mich interessiert gar nichts mehr, außer der Möglichkeit, all das hier zu vergessen und nach dem zu greifen, was genau vor mir in der Kiste in einem Plastikbeutel liegt. Ich will mich und den Schmerz in meiner Brust betäuben. Will …

      »Aber da war ein junger Mann, der mir geholfen hat. An der Straßenbahnhaltestelle vor der alten Rennbahn. Von dort wollte ich zum Stadion.«

      Ich öffne meine Augen und sehe ihn an. Ich erinnere mich. Er war dieser Typ, den sie erst beschimpft und dann bespuckt haben. Und ich war es, der ihm geholfen hat.

      Eigentlich wollte ich zum Greifvogel und mit Gustav, Hel und Kat reden, aber ich war zu früh. Der Greifvogel war noch zu und bei Claudia zu klingeln, habe ich mich nicht getraut.

      Ich bin zur Straßenbahnhaltestelle und da sind mir plötzlich diese Arschlöcher aufgefallen, die einen Ausländer in die Ecke drängten.

      »Das warst du?«

      Seine Lider zucken kurz. »Ich sage ja, man erinnert sich nicht an mich.«

      Ich atme schwer. »Das war ein anderes Leben. Es ist sicher fünf Jahre her. Diese Zeit habe ich hinter mir gelassen.«

      Er lacht freudlos auf. »Wenn es nur immer so leicht wäre, ein Leben zu verlassen und ein neues zu betreten.«

      Hinter mir ertönt ein Geräusch an der Tür.

      »Achtung!«, sage ich und Assad nickt, während ich mir den Eisendeckel der Kiste schnappe und aufstehe, um mich neben die Tür zu stellen. Wenn ich schon keine Waffe habe, kann ich mich mit dem Ding wenigstens verteidigen.

      Die Tür wird geöffnet und vor mir taucht einer der Vermummten auf, doch als ich gerade zuschlagen will, spüre ich etwas Hartes, Kaltes an meinem schmerzenden Hinterkopf. Ich drehe mich langsam um und erstarre. Hinter mir steht Assad. Nicht mehr gefesselt. Kein gebrochenes Bein. Stattdessen hält er mir eine Waffe an den Kopf. Mein Verstand braucht eine ganze Weile, um das hier zu sortieren und zu verstehen.

      »Du hättest mich nicht auch vergessen sollen, Severin Klemm«, sagt er mit einem merkwürdig traurigen Blick. Als wäre das hier eine Prüfung gewesen, die ich nicht bestanden habe. Als wäre er darüber wirklich betrübt.

      »Ich …«, will ich etwas erwidern. Aber was soll ich sagen? Was würde das hier ändern?

      »Es ist nicht immer so leicht, ein neues Leben zu beginnen. Ich wünschte, es hätte auch nur eine Menschenseele interessiert, was aus mir geworden ist.«

      Ich schlucke schwer. »Was ist passiert?«

      Er hebt seinen Mundwinkel. »Das werde ich dir zu gegebener Zeit erzählen, Severin. Und jetzt los!«

      Er deutet mit seiner Waffe Richtung Tür, bevor er sich hinabbeugt und meine Fußfessel durchschneidet.

      Als ich hinaustrete und das Glas vor mir erkenne, klettert bittere Säure meine Kehle hinauf. Entsetzt öffne ich den Mund und starre auf Frankfurt. Frankfurt von oben. Und ich weiß sofort, wo wir sind.

      Meine über alles geliebte Frau,

      ich schäme mich so sehr, denn ich habe versagt. Ich konnte meinen kleinen Bruder und deine Schwester nicht beschützen. Vor diesen Gottlosen, die nichts als sinnlose Gewalt und Tod über die Unseren gebracht haben. Die diese schändliche Bluttat auf unschuldige Kinder auf dem Weg zur Schule ausgeführt haben und sich noch mit Gewehrsalven in den Himmel dafür brüsten, Elend und Tod in unser Leben zu tragen. Seit so langer Zeit.

      Ich hätte auf dich hören und rechtzeitig meiner Heimat, unserer Heimat, den Rücken kehren sollen. Irgendwo ins gelobte Land gehen. Nach Deutschland zu meiner Schwägerin. Zu meinem Zwillingsbruder, denn ich bin sicher: ich hätte all diese bösen Gedanken, die ihm falsche Menschen in den Kopf gepflanzt haben, mit meiner Hilfe vertrieben, und wir hätten ein gutes Leben führen können.

      Ja. Weit weg von der geliebten Heimat. Weit weg von den Verwandten, von den Freunden. Aber in Frieden.

      Meine über alles geliebte Frau: Verzeih mir. Das, was unverzeihlich ist. Was niemand verzeihen kann. Was ich mir selbst niemals werde verzeihen können.

      Mit welcher Überheblichkeit habe ich die Welt betrachtet? Mit welchem Gleichmut hingenommen, dass die Fratze des Feindes immer längere Schatten auf uns geworfen hat. Wie oft habe ich nachts auf dem Dach unseres Hauses gehockt und am dunklen Horizont die Blitze der Raketen und die Feuer gesehen. Mit angstvoll zusammengekniffenen Augen. Wie oft bin ich dann hinunter gegangen, habe meiner Tochter und meinem Sohn mit dem Zeigefinger sanft über die Nase gestrichen und geflüstert: Keine Angst. Ich beschütze euch!

      Wie oft? Zu oft.

      Und dann bin ich zu dir ins Bett geschlichen, meine über alles geliebte Frau, und habe sehr wohl gespürt, wie sehr dein Körper gezittert hat. Vor Angst. Habe dich dann wortlos umschlungen und schweißgebadet die weiße Decke unseres Zimmers angestarrt. So lange, bis ich überall rote Flecken gesehen habe. Blutflecken. Und mir vornahm, dieses Leben zu ändern.

      Aber ich habe nicht gehandelt, wie ein Mann handeln muss. Habe mich doch wieder ängstlich verkrochen und dafür einen unsagbar hohen Preis bezahlt. Wie viel würde ich dafür geben, wenn ich noch einmal die Chance bekäme, alles richtig zu machen. Nicht den Worten der Ältesten blind zu vertrauen und für den Frieden zu beten, statt aufzustehen und den Kriegern auf beiden Seiten Einhalt zu gebieten.

      Mein Leben würde ich dafür geben. Glaub mir. Ohne eine Sekunde zu zögern. Aber ich fürchte, dies ist jetzt wieder nur eine Träumerei. Wer könnte den blutrünstigen Kriegern Einhalt gebieten, wenn die ganze Welt genüsslich zuschaut, wie unser Volk sich abschlachtet? Ich? Wohl kaum.

      Ja. Hätte mein Talent gereicht, um meine alte graue Welt gegen eine neue schillernde einzutauschen, dann würde mein Wort jetzt vielleicht in der Welt gehört werden. Vielleicht.

      Vielleicht auch nicht. Aber ihr wäret in Sicherheit. Müsstet nicht tagein, tagaus um euer Leben bangen. Könntet mit euren Freunden zusammenkommen und sagen, was euch bewegt. Ohne Angst, verraten zu werden. Könntet wählen, ohne ein Gewehr im Rücken zu spüren. Könntet lernen, was immer ihr erlernen wollt. Könntet euren Glauben leben, ohne befürchten zu müssen, es ist nicht genug, was ihr tut. Könntet Fremde freundlich willkommen heißen. Ohne Angst, dass sie unter eurem Dach nach eurem Leben trachten. Könntet wann immer ihr wollt den Himmel betrachten, ohne Angst, dass eine Rakete vor euren Augen explodiert und die Metallsplitter eure Körper in tausend Fetzen reißen. Könntet in Frieden leben, ohne Angst vor jedem neuen Tag.

      Mein