»Die galten als Teil der Sympathisantenszene der RAF.«
»Ja, und damit kannst du dir ja vorstellen, wie die Geschichte weitergegangen ist.«
»Meine Mutter – die Terroristin?« Tränen schießen in meine Augen und ich kann sie nicht aufhalten. Sollte das wirklich stimmen, was Papa mir gerade auftischt? Besser, ich wache gleich auf und das Christkind stupst mich sanft an der Schulter.
»Sie ist noch zweimal wegen unerlaubten Waffenbesitzes und der Schmuggelei von Sprengstoff und schwarzem Afghan aus Holland aufgegriffen worden, aber eine wirkliche Nähe zum terroristischen Kern konnten die Behörden ihr nicht nachweisen. Ende der 70er hatte sie dann die Schnauze voll von den permanenten Übergriffen der Behörden und schloss sich noch mehr den Geächteten, wie sie diese nannte, an. Aber gut, sie war gerade mal 22. Da macht man eine Menge dummes Zeug.«
»Dummes Zeug?« Allein schon die Vorstellung, was Papa mir jetzt noch alles auftischen würde, sorgt für einen kalten Schauer in meinem Nacken.
»Nachdem sie sich 1978 auch noch in einem palästinensischen Lager im Jemen, warum auch immer – ich nehme mal an, es gab auch einen passenden Palästinenser dazu –, militärisch ausbilden ließ, ergriff sie 1980 die Chance auf ein halbwegs normales Leben, wie sie dachte. Sie verließ mit einigen anderen RAF-Aussteigern die BRD und floh in die DDR, wo sie vom Ministerium für Staatssicherheit mit offenen Armen empfangen wurde. Sie bekam den Decknamen Julia Decker, einen fiktiven Lebenslauf und eine Einzimmerwohnung in Gotha.«
Mit einem tiefen Seufzer entlädt sich plötzlich Papas komplette Anspannung. Ich schaue ihm ins Gesicht. Sehe diese Mischung aus Traurigkeit, Wut und unendlicher Liebe, der selbst diese ganze furchtbare Geschichte, all die Lügen davor und die vielen einsamen Jahre danach nichts anhaben konnten.
»Und was wollte sie in Bad Homburg? Ausgerechnet als die RAF Herrhausens Auto in die Luft gejagt hat?«
»Sie hat mir geschworen, dass sie damit nichts, aber auch überhaupt nichts zu tun hatte!«
»Und wer war dieser, wie nochmal, Grahms?«
»Ein verdammtes Arschloch? Der hat alles kaputtgemacht. Weil er in der Gauck-Behörde ihre Akte aufgetrieben hatte. Ihre und viele andere. Und damit versuchten er und seinesgleichen Kohle zu machen. Grahms war nichts anderes als ein schmieriger Erpresser aus Erfurt, der den famosen Einfall hatte, die Ossis abzukassieren, die ihre Stasi-Akten lieber geheim halten wollten.«
»Aber was hätte Mama denn passieren können?«
»Na ja. Zehn Jahre in der DDR. Unter den Fittichen der Stasi. Selbst wenn sie niemanden in dieser Zeit wirklich verraten hat, weil sie ja doch nur ängstlich in ihrem eigenen Kokon zu überleben versuchte, das hätte schon für eine Menge Wirbel gesorgt. Abgesehen davon, dass das Herrhausen-Attentat niemals aufgeklärt wurde.«
»Du meinst, die Bundesanwaltschaft hätte sich auf Mama als Verdächtige gestürzt und es ihr angehängt?«
»Klar. Alle Angeklagten wurden entweder freigesprochen oder die Verfahren eingestellt. Sie hatten bereits erklärt, dass nur noch gegen Unbekannt ermittelt wird. Und dann kommt heraus, dass eine vorbestrafte ehemalige RAF-Sympathisantin mit militärischer Ausbildung und jahrelangem Unterschlupf in der DDR zufällig keine 300 Meter entfernt vom Tatort war. Wie wäre das wohl ausgegangen?«
»Scheiße! Nicht gut, nehme ich an.«
Mit weit aufgerissenen Augen sitze ich vor Papa, der mir plötzlich sehr klein, sehr verletzlich vorkommt. Weil sie ihn unendlich viel Kraft gekostet hat, aber er noch immer wie ein Löwe um sie kämpft. Oder für sie? Seine Augen glänzen plötzlich.
»Ja. Und weil sie sicher war, dass ich und vor allem du darunter unendlich zu leiden gehabt hätten, hat sie sich entschieden zu gehen.«
»Und du? Warum hast du sie nicht zurückgehalten?«
»Als ob irgendwer oder irgendetwas deine Mutter hätte zurückhalten können. Nein. Nein, wenn sie eine Entscheidung getroffen hatte, gab es kein Zurück.«
Ich zögere. Ist es okay, wenn ich jetzt weiter bohre? Noch mehr – die ganze Geschichte – erfahren will. Statt ihm eine Pause zu gönnen? Mein Kopf entscheidet schnell. Ja! Nach so vielen Jahren Ungewissheit und falschen Schlussfolgerungen ist es richtig. Alles muss auf den Tisch. Jetzt.
»Und wo ist sie hin? Zurück in den Osten?«
»Ich weiß es nicht. Aber ich glaube eher, sie hat ihre alten Kontakte in den Jemen aufgefrischt.«
»In irgendein militantes Wüstenlager? Und dort hüpft sie jetzt mit Kopftuch und komplett verschleiert von Sanddüne zu Sanddüne und ist Teil einer Miliz?«
»Nun schnapp mal nicht gleich über, Kind. Deine Mutter und Kopftuch, das ist wie Grabowski mit der Nummer 1 auf dem Rücken. Geht gar nicht! Und als Terror-Oma ist sie auch nur schwer vorstellbar.«
Immerhin: Seinen Humor hat er wieder, schießt es mir durch den Kopf, und gleichzeitig verwirrt mich all das maßlos. Kein Wunder: Mein halbes Leben habe ich nicht verstanden, warum meine Mutter mich verlassen hat. Und ich hatte ja nur zwei Möglichkeiten: Den Grund bei mir zu suchen oder bei ihr. Also habe ich nach einigen furchtbaren Jahren mit fettigen Haaren, Pickeln, abgekauten Fingernägeln und einer Menge Schwachsinn im Kopf mich selbst geschützt und ihr die Verantwortung zugeschoben. Während mein Vater einfach nur geschwiegen hat. Und all das soll plötzlich völlig anders sein.
»Die ganze Geschichte ist doch inzwischen längst verjährt. Warum ist sie nicht zurückgekommen? 30 Jahre sind eine Ewigkeit, wenn du niemanden umgebracht hast …« Pause. »Hat sie, Papa?« Allein der Gedanke daran sorgt für reichlich Unbehagen in meiner Magengegend, und ich zähle im Kopf die Sekunden, bis Papa endlich antwortet.
»Nein. Hat sie sicher nicht. Sie hat ein paar äußerst dämliche Jugendsünden auf dem Kerbholz und ein paar üble Freunde um sich geschart. Es ist so ein bisschen wie bei Susanne Albrecht. Da ist ebenso bis heute nicht eindeutig klar geworden, ob die RAF-Leute sie nicht ganz bewusst eingefangen haben, weil sie Zugang zu Ponto hatte.«
»War Mama am Ende da auch dabei?«
»Ach Quatsch! Der Mord ist doch längst aufgeklärt. Sie war ja nicht mal in der Nähe von Oberursel, und ob sie einen der Beteiligten überhaupt gekannt hat, weiß niemand.«
»Okay, Papa. Aber was weiß sie, wovor sie mich warnen kann? Wieso soll ich denn jetzt in Gefahr sein?«
»Gute Frage. Keine Ahnung. Aber so viel ist sicher: Wenn sie einen Tag vor Heiligabend aus Afghanistan anruft, um dich zu warnen, hat sie einen guten Grund dafür.«
Damit dreht er sich von mir ab und rollt zu einem Schränkchen im Flur. Er zieht eine Schublade heraus und kramt eine alte Blechschachtel hervor. Papa öffnet den Deckel und streckt mir ein Uralthandy entgegen. »Prepaid«, schnauft er. »Brauchst nur auf Wiederwahl zu drücken. Dann bekommst du Antworten auf deine Fragen.«
»Und das Passwort?«
»Kind, dieses Teil ist fast 20 Jahre alt. Passwort ist heute. Damals war es einfach ich bin drin.«
Ich öffne den Deckel, schalte das Museumsstück an und drücke auf den Wiederwahl-Knopf. Es tutet und eine Stimme meldet sich: »Yes!«
»Mama?«
»Ah. Gut. Du hast mit deinem Vater gesprochen.«
»Habe ich. Und er hat mir die Geschichte erzählt. Nach so langer Zeit. Darüber will ich aber mit dir jetzt nicht sprechen. Wenn du das willst … musst du nach Deutschland kommen. Hierherkommen.« Ich habe all meinen Mut für diesen Satz zusammengenommen und komme mir jetzt vor wie der Held aus irgendeinem meiner Schmachtfilme, die ich mir so gerne reinziehe. Jedoch nicht lange.
»Ach, Mäuschen! Wenn das alles so einfach wäre«, nimmt sie mir die Luft aus den Segeln. Aber so lasse ich sie diesmal nicht davonkommen. Ich schalte das Handy auf Lautsprecher.