Stille Nacht. Dana Müller-Braun. Читать онлайн. Newlib. NEWLIB.NET

Автор: Dana Müller-Braun
Издательство: Bookwire
Серия:
Жанр произведения: Языкознание
Год издания: 0
isbn: 9783955424350
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meine Hosentasche und schmeiße den Apfel in den Müll. »Ich treffe mich jetzt mit Hel, Gustav und Kev. Wir sehen uns übermorgen.«

      »Komm bloß nicht zu spät, Severin. Pünktlich um 12 Uhr öffnen wir die Geschenke.«

      »Ich weiß, Mom«, sage ich, küsse sie auf die Stirn und gehe. Nasti winke ich nur knapp zu.

      Als ich Tim wieder eingesammelt habe, ist auch er seltsam schweigsam und ich bekomme allmählich das Gefühl, dass dieses Weihnachten anders wird. Scheiß Corona hat alles verändert. So langsam könnte es wirklich vorbei sein.

      »Hier, dein Test«, sagt Tim dann irgendwann und legt ein Päckchen in meine Mittelkonsole. »Woher hast du den? Außerdem war ich heute Vormittag im Testzentrum. Weißt du doch.«

      »Doppelt hält besser. Und ich habe Verbindungen.«

      »Klingt, als wärst du ein Schmuggler.«

      »Ja genau, Severin. Ich schmuggle nebenberuflich Corona-Tests.«

      »Das erklärt auch deine teure Wohnung.«

      »Witzig«, mault er und beginnt mir vorzulesen, was ich zu tun habe. Als wir am Stadion angekommen sind und Tim sei Dank direkt vor dem Stadion parken konnten, hat er mich bereits so zugelabert, dass ich mir das blöde Stäbchen freiwillig in die Nase stecke und drehe, bis meine Augen leicht tränen.

      Tim nimmt es und drückt es in das kleine Gefäß, bevor wir eine Viertelstunde warten und er mir endlich das Okay gibt, auszusteigen.

      »Wie gesagt, ich war schon heute Vormittag negativ.«

      »Du bist immer negativ«, lacht Tim und klopft sich selbst auf die Schulter. Ich stimme in sein Lachen ein, auch wenn das wirklich der schlechteste Witz aller Zeiten war. Aber ich muss den Plan verfolgen, ihn mutig genug zu machen, um sich mit dieser Meike zu treffen. Außerdem ist Weihnachten und da muss man ja angeblich nett sein.

      »Also … Wir sehen uns dann später im Greifvogel«, beginnt Tim mit einem Blick auf seine Uhr. Ich hasse es, wenn er in seinen Planungsmodus fällt. »Sind von hier aus ja nur 20 Minuten zu Fuß. Oder irgendjemand nimmt mich nachher mit und setzt mich ab. Aber du fährst dann nicht mehr! Stell dein Auto an der Rennbahn ab und gib am besten Hel den Schlüssel.«

      »Ich würde nie betrunken fahren, Tim«, gebe ich mit Unschuldsmine zurück und sehe mich um, bis ich Hel und Gustav entdecke, die gerade den Weg vom Haupteingang hochkommen.

      »Also, viel Spaß mein kleiner Frauenheld, hab dich lieb«, sage ich zu Tim, kneife ihm in die Wange und laufe zu den anderen.

      »Du mich auch, Severin!«, ruft Tim mir nach und verabschiedet mich dabei mit einer nicht gerade netten Handbewegung.

      Ich begrüße Hel, die mich eine halbe Ewigkeit drückt, bevor Gustav mich väterlich in den Arm nimmt und seine Hand auf meinen Rücken klatschen lässt.

      »Hier sind unsere Ergebnisse«, sagt Hel und zeigt mir eine Mail auf ihrem Handy.

      »Hel, ich vertraue euch.«

      »Na, schließlich hast du auf die Tests bestanden«, brummt Gustav durch seinen weißen Bart und deutet dann hinter sich, wo Kevin erscheint und mir die Faust entgegenhält.

      »Was ist mit Claudia?«

      »Sie ist im Greifvogel geblieben und bereitet alles vor, wenn wir danach zu ihr kommen«, sagt Hel und deutet auf die Tribüne, die im Dunkeln noch gewaltiger aussieht. Mehr als 30 Meter hoch reckt sie sich in den düsteren Abendhimmel. Hels Blick vernebelt sich.

      »Wir legen nur diese blöden Blumen ab und dann gehen wir wieder, ok?«

      Ich nicke. Wir alle wissen, dass sie nicht gerne hier ist, und doch war es ihre Idee. Vielleicht weiß sie tief in ihrem Inneren, dass sie sich diesem Ort, nein, dem ganzen Stadion irgendwann stellen muss, wenn sie Mic und dem Fußball wieder nah sein will.

      Hel drückt mir eine Blume in die Hand und schenkt mir ein trostloses Lächeln, bevor wir die Rampe hochgehen. Ich versuche, die Gedanken an Mic und seinen Selbstmord zu verdrängen. Versuche, nicht darüber nachzudenken, wie allein er sich nach seiner Verhaftung und dem darauffolgenden Freispruch gefühlt haben muss. Zwar hatte er nichts mit der Bombe und den Morden zu tun, die der Ordner begangen hat, aber einmal verhaftet und unter Verdacht, wird man das nur schwer wieder los. Mic hat es nicht geschafft und ich wünschte, ich wäre mehr für ihn da gewesen. Ich wünschte, er hätte sich mir oder Hel oder einem der anderen anvertraut. Aber so war er nie gewesen. Mein Herzschlag beschleunigt sich schmerzhaft, als wir direkt unter der Nordwestkurve stehen. Mic, das Stadion, das alles hier fühlt sich wie ein altes Leben an. Eines, nach dem ich mich manchmal sehne. Oder vielleicht sehne ich mich viel eher nach einer Zeit, in der noch nicht alles dermaßen befleckt war. Jetzt ist es das. Und ich bin es auch.

      Kapitel 3

      23. Dezember 2020, 18.57 Uhr

      Lydia

      Ich glaube, du bist ernsthaft in Schwierigkeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Mutter sich meldet, wenn es nicht wirklich wichtig wäre!«

      Papas Gesicht nimmt bei diesem Satz einen denkwürdigen Ausdruck an. Das macht mich noch zorniger. Ich fühle mich so maßlos hintergangen. In den letzten Minuten habe ich Papa von diesem merkwürdigen Anruf erzählt und war absolut sicher: Der alte Mann würde aus allen Wolken fallen. Aber nichts da. Ja, er war ein wenig über den Zeitpunkt ihres Anrufs überrascht. Am 23. Dezember hatte er damit wohl noch nicht gerechnet. Wenn, dann frühestens Samstag. Aber kaum habe ich ihm gesagt, dass sie mich warnen wollte, änderte sich sein Verhalten schlagartig. Wie bei einem Schauspieler, der in seine Rolle schlüpft. Aus Dr. Jekyll wird Mr. Hyde. Plötzlich schien mir der ältere Herr im Rollstuhl, den der Abgang seiner Frau, meiner Mutter, in meinen Augen zu einem gebrochenen Mann hat werden lassen, völlig verändert. Fast verhält er sich wie ein Komplize dieser Frau.

      »Hallo! Mama hat sich in den letzten 15 Jahren höchstens zweimal im Jahr gemeldet. An Weihnachten und zum Geburtstag. Fertig.«

      »Genau das meine ich ja.«

      Sein Blick geht bei diesem Satz aus dem Küchenfenster hinaus in den Garten und bleibt offenbar an der alten Weide hängen, die er vor vielen Jahren gepflanzt hat. Den Blick kenne ich nur zu gut. Ich habe in diesen Momenten immer gedacht: Jetzt hat sich seine Erinnerung an irgendeiner Eintracht-Episode aufgehängt. Aber jetzt auch? Lange Pause.

      »Es gibt einen guten Grund, warum Mama uns damals verlassen hat. Und der hat mit meiner Eintracht-Leidenschaft eher weniger zu tun. Nur am Rande sozusagen. Wobei dieser Rand schon eine entscheidende Rolle gespielt hat.«

      »Papa! Bitte! Komm mir jetzt nicht mit irgendwelchen kryptischen Andeutungen. Erzähl mir doch einfach die Wahrheit. Ich denke, die habe ich langsam wirklich verdient. Ich verstehe nämlich rein gar nichts mehr.«

      Ich schaue ihn mit leeren Augen an. Das sichere Gefühl in der Magengegend, dass wohl gleich eine Welt zusammenbrechen wird. Meine Welt. Und ich weiß: Genau darauf habe ich nach diesem elenden Seuchenjahr mit all den Einschränkungen null Bock. Solange ich nur stellvertretende Pressesprecherin der Fußball AG war – alles gut. Klar: Wir hätten im Nachhinein besser darauf verzichtet, unbedingt noch schnell gegen Basel zu spielen. Aber egal. Doch dann musste Eric ja wegen der Vorkommnisse im Stadion am 15. November letzten Jahres auf die Idee kommen, mich übergangsweise zur Vizepräsidentin des Vereins und Gleichstellungsbeauftragten zu machen. Dummerweise ziemlich genau in dem Moment, in dem sich ein Virus auf den Weg machte, die Welt in Unordnung zu stürzen. Die Eintracht hat mit Basketball, Boxen, Eishockey, Eissport, Fanabteilung, Fechten, Fußball, Handball, Hockey, Leichtathletik, Ringen, Rugby, Tennis, Tischtennis, Triathlon, Turnen, Ultimate Frisbee und Volleyball 18 Abteilungen und damit unendlich viele Sportlerinnen und Sportler, die von der Pandemie eiskalt erwischt wurden und von den Abteilungsleitern und dem Präsidium Antworten erwarteten und ja auch verdient hatten. Gleichgestellt habe ich seither wenn überhaupt nur noch die gendergerechte Schreibweise unserer Presseinfos. Und ich wollte doch so viel bewirken. Hoffentlich kommt irgendwann wieder eine Zeit, in der alles normal ist. So normal, wie es eben sein kann …

      »Heute